Vorwort
Nadeshda Konstantinowna Krupskaja war die Frau und Kampfgefährtin Lenins. Vom ersten Zusammentreffen mit dem Vorkämpfer des Sozialismus im Jahre 1894 bis zu ihrem Tode 1939 hat sie tatkräftig am Aufbau der revolutionären Partei mitgewirkt; fünfzehn Jahre lang hat sie im westeuropäischen Exil unermüdlich Kleinarbeit geleistet. 1905 und 1917 ist sie in ihre Heimatstadt St. Petersburg zurückgekehrt, um die revolutionären Prozesse an Ort und Stelle mit voranzutreiben.
Krupskaja war eine Schlüsselfigur des sozialistischen Aufbaus im sowjetrussischen Bildungswesen. Nach der Oktoberrevolution war sie gut zehn Jahre lang Leiterin der Großabteilung für außerschulische Bildung im Volkskommissariat für Bildung und ab 1929 noch einmal zehn Jahre lang Stellvertreterin des Bildungskommissars. Gleichzeitig hatte sie wichtige Funktionen in der Partei inne: Von 1924 bis 1927 war sie Mitglied der Zentralen Kontroll-Kommission der KPdSU(B), dem höchsten Kontrollorgan der Partei, 1927 wurde sie in das Zentralkomitee der Partei gewählt und blieb sein Mitglied bis zu ihrem Tode. In dem von Stalin geführten obersten Gremium der Partei war sie (s)eine loyale, zugleich aber auch eigenwillige Bildungsexpertin.
Krupskaja hat in allen Auseinandersetzungen und Entscheidungen über die Richtung der sozialistischen Pädagogik eine zentrale Rolle gespielt: Als es um die Alphabetisierung, um die sozialistische Erwachsenenpädagogik und das sozialistische Bibliothekswesen ging, um die polytechnische Schule, die Modellschulen des Sozialismus und die Kulakenkinder sowie die Kinder anderer Minderheiten und ihren Schulbesuch, als es um die zu gründenden Organisationen für Kinder und Jugendliche ging. Mit diesen Themen eng verbunden sind der Kampf um die Befreiung der Frau und das Ringen um die Frage, wie das Verhältnis der häuslichen und der schulischen Erziehungsprozesse, die Aufteilung der Verantwortung der Eltern und des Staates für die Kinder aussehen soll. Und schließlich wird Krupskajas Pionierrolle auch daran verdeutlicht, wie sie die dia- lektische Methode in der Pädagogik Sowjetrusslands entwickelt hat.
Krupskaja war die „Seele des Volkskommissariats für Bildung“, wie Freunde und Kollegen gesagt haben. Was hat sie „beseelt“? Was waren das für Ideen, die sie in die Auseinandersetzungen ihrer Zeit eingebracht hat? Woher hat sie die Kraft genommen für die vielen Kritiken an Entscheidungen der Partei, mit denen sie oft harte Gegenreaktionen ausgelöst hat, die aber dennoch bis zu ihrem Tode ein unverwechselbares Kennzeichen ihrer Arbeit blieben? Waren diese Kritiken zutreffend und hilfreich? Was haben sie bewirkt?
Diese Fragen beantwortet das Buch in relativer Breite. Andere Seiten von Krupskajas Praxis wie ihre Oppositionstätigkeit, ihr Eingreifen in die Kollektivierung der Landwirtschaft und ihre Haltung zu den Moskauer Prozessen werden kürzer abgehandelt, weil die Quellenlage ungünstiger ist und längere Ausführungen den Rahmen einer „pädagogischen Biographie“ sprengen würden. Das Buch setzt sich auch mit gängigen (Vor-) Urteilen auseinander, die, teilweise länderübergreifend, über Krupskaja verbreitet werden. Mit der abstrusen These, dass sie sich an der Seite Lenins nicht hat entfalten können. Der russische Historiker Wolkogonow sagte es so: „Sie war in Lenins Schatten.
Ihr Leben hatte nur Sinn, indem sie mit ihm verbunden war. “Kurzum, sie war eine „Schattenfrau“, wie eine deutsche Journalistin geschrieben hat. Weiter geht es um die Vorstellung, dass Krupskaja „ungeachtet ihrer langjährigen revolutionären Tätigkeit ein Muster aller ‚bourgeoisen‘ Tugenden (war), an denen sie unerschütterlich festhielt. Sie war gerecht, gütig, wohlerzogen und vermochte niemandem wehzutun.“ So der britische Biographien-Vielschreiber Payne. Ob die Herrschenden in Russland, zu deren Sturz Krupskaja viel beigetragen hat, auch gedacht haben, dass sie keinem wehtun kann? Und schließlich befasst sich das Buch mit der dreisten Behauptung, dass sie gar keine herausragenden Talente hatte. In den Worten des sowjetischen Historikers Sokolow: „Sie taugte zu gar nichts, nicht einmal für den Haushalt.“ Anderen Historikern zufolge war sie immerhin eine „fleißige Revolutionsbiene“, wenn auch eine „fanatisch fleißige“. Krupskaja – eine talentlose Niete, ein Versager in der Küche, eine nur bürgerlich tugendhafte, ein fanatisch fleißiges Lieschen, eine „Schattenfrau“? Was und wie war sie wirklich?
Das vorliegende Buch ist die erste deutschsprachige Krupskaja-Biographie, die keine Übersetzung ist. Sie basiert vor allem auf den deutsch- und englischsprachigen Übersetzungen von zirka 600 Texten aus Krupskajas Feder. Diese Texte – Bücher, Broschüren, Artikel, Reden, Vorträge, Rezensionen, Gutachten, Briefe usw. – gewähren uns tiefe Einblicke in ihr Fühlen, Denken und Handeln und haben diese Biographie erst möglich gemacht. Im Verlauf des Buches werden etwa einhundert dieser Texte in ihren wesentlichen Aussagen und zirka 50 davon auch mit den Reaktionen, die sie hervorgerufen haben, genauer vorgestellt und in ihren historischen Kontext eingeordnet.
Der Titel des Buches „Ich war Zeugin der größten Revolution in der Welt“ bringt zum Ausdruck, dass Krupskaja darüber, dass es ihr vergönnt war, die große Oktoberrevolution und den sozialistischen Aufbau miterleben zu können, sehr dankbar war. Zugleich spiegelt er ihre Bescheidenheit wider, die ein wesentlicher Zug ihrer Persönlichkeit war. Denn sie war ohne Zweifel sehr viel mehr als nur Zeugin der Oktoberrevolution, sie hat diese Revolution mit vorbereitet und mit getragen, hat den sozialistischen Aufbau in führenden Funktionen mitgestaltet. Krupskajas Eltern haben ihre Tochter Nadeshda genannt. Das heißt im Russischen Hoffnung. Mit Nadeshda Konstantinowna Krupskaja verbindet sich meine Hoffnung, dass ihr Leben, Kampf und Werk mithelfen mögen bei einem neuen Anlauf, den Sozialismus zu erkämpfen.