Teil II "Im ersten Jahrzehnt des sozialistischen Aufbaus (1917–1928)"

Im Kommissariat für Volksbildung – Anfang mit Modellcharakter

(1917-1920)
Lenins Auftrag
„Die Macht ergreifen“
...

 

"Die Macht ergreifen"

 

Ende 1917 gingen Lunatscharski und Krupskaja an die Arbeit. Ihre erste Aktion bestand darin, das Gebäude des alten Volksbildungsministeriums zu übernehmen. Krupskaja nannte dies: Wir haben „die Macht ergriffen“. (9) Vor dem Gebäude hatten Gegner der Bolschewiki Posten bezogen und versuchten nun alle Besucher vom Betreten des Gebäudes abzubringen. Weil Krupskaja, Lunatscharski und die kleine Gruppe ihrer Gefährten ohne militärischen Schutz auftraten, um die Mitarbeiter des Ministeriums für sich zu gewinnen, wurden sie nicht gleich als neue Hausherren erkannt. Man rief ihnen zu, im Hause werde nicht mehr gearbeitet, sie sollten wieder gehen. Doch ließen sie sich nicht beirren, verschafften sich Zugang zum Haus und organisierten eine Versammlung. „Ich erinnere mich“, schrieb Krupskaja, „dass wir alle technischen Angestellten versammelten und Anatoli Wassiljewitsch (Lunatscharski – der Verf.) zu ihnen über die Volksbildung sprach und prinzipielle, wichtige Fragen behandelte. Menschen, die jahrelang im Ministerium für Volksbildung tätig waren, hörten zum ersten Mal, wie der Volkskommissar … sie als seinesgleichen behandelte und nicht die Obrigkeit hervorkehrte.“ (10)


Lunatscharkis Rede hinterließ bei allen Beschäftigten einen tiefen Eindruck. So etwas hatten sie noch nie erlebt. Die Reinmachefrauen, Boten und Haushandwerker brachen in HurraRufe aus. Ein Vertreter der technischen Angestellten ergriff das Wort und versicherte, dass er und seine Kollegen sich als Teil des Proletariats fühlten und bereit seien, der aus der Arbeiterklasse hervorgegangenen neuen Obrigkeit nach Kräften zu dienen. (11) Die Beamten des Hauses dagegen ließen durch einen Abgesandten ihre tiefe Verachtung gegenüber den „Verderbern der glorreichen Februarrevolution“ übermitteln, die ihnen ihre gehobene Stellung gesichert hätte. (12) Für sie stand fest, dass der „bolschewistische Spuk“ bald wieder verschwinden werde.

 

War die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zunächst auf Lunatscharski gerichtet, so änderte sich das in dem Moment, als Krupskaja bei einem Subbotnik, einem freiwilligen Arbeitseinsatz an einem arbeitsfreien Samstag, die Fußböden des Ministeriums wischte. (13)


Eine stellvertretende Volkskommissarin mit der Scheuerbürste in der Hand passte ganz und gar nicht in das Bild von einer „First Lady“, das die bürgerlichen Journalisten, die Krupskaja und Lenin damals empfingen, im Kopf hatten. Sie erwarteten eine Frau, über die sie Glanzvolles, mindestens aber Klatschereien schreiben konnten. Doch Krupskaja lieferte ihnen Derartiges nicht. Wenn Lenin mit seiner Frau allein war, zog er sie bisweilen mit dem Artikel eines britischen Journalisten auf, der von „First Lady“ gesprochen hatte. (14) Ihre Zustimmung fand dagegen ein Artikel der amerikanischen Journalistin Louise Bryant, die nicht „First Lady“ getitelt hatte, sondern: „First Woman of Russia“. (15) Nicht erste Dame, sondern erste und vorbildhafte Frau und Werktätige Sowjetrusslands – das wollte Krupskaja sein.

 

Kampf dem Analphabetentum: Eine Köchin lernt lesen

 

Getragen von einem „ungeheuer weit gespannten schöpferischen Schwung“, wie Lunatscharski sich ausdrückte, ging das Volksbildungskommissariat (das Narkompros) die großen Aufgaben an. (16) Krupskaja war bewusst, dass die Beseitigung des Analphabetentums, einer der schlimmsten Hinterlassenschaften des Zaren, eine fundamentale Voraussetzung für den Aufbau des Sozialismus in Russland war. Damals konnten in Russland von 1000 Menschen nur 319 lesen und schreiben. Auf dem Lande und unter den Frauen waren es noch viel weniger. Sofort nach der Revolution wurden die ersten dörflichen Lesehütten und Lesekurse für Erwachsene eingerichtet. Doch das reichte nicht. Auf dem 1. Allrussischen Kongress für Bildungswesen im August 1918 verlangte Krupskaja, dass „das ganze Land mit einem Netz von Elementarschulen für die erwachsenen Analphabeten und Halbanalphabeten bedeckt“ werden müsse und dass es im Lande „in kürzester Zeit“ keine Analphabeten mehr geben dürfe. (17) Lunatscharski hatte dabei an den Oktober 1927, den zehnten Jahrestag der Revolution, gedacht. (18)

 

Die Aufrufe, lesen zu lernen, bewirkten eine regelrechte Explosion des Bildungseifers der Werktätigen. Krupskaja verdeutlichte das am Beispiel von Annuschka, einer Köchin. Dass sie gerade eine Köchin herausgriff, war wohl kein Zufall, denn Lenin
hatte gefordert: „Die Köchin lernt den Staat regieren.“ Annuschka war erst vor kurzem aus dem Dorf in die Stadt gekommen. Früher hatte sie, wenn sie gedrängt worden war, in einen Lesekurs zu gehen, geantwortet: „Wozu muss ich lesen und schreiben können? Wenn ich nur mein Handwerk verstehe! Mein Vater war auch Analphabet, und was für ein Arbeiter war das! Alle achteten ihn. Auch ich verstehe meine Arbeit, ernähre meine Familie, aber lesen und schreiben – wozu?“ Jetzt aber lernte Annuschka lesen, in der Küche und anderswo. Von Zeit zu Zeit, berichtete Krupskaja, ließ sie ihren Herd im Stich und warf einen erbosten und verzweifelten Blick in die Fibel. „‚Ich Bauerntrine, schon wieder alles vergessen!‘ schimpft sie mit sich selbst. Fragt man sie, warum sie lesen und schreiben lernt, wird sie es sicher nicht sagen können, aber der Wunsch, sich Bildung anzueignen, bricht spontan hervor und erfüllt ihr ganzes Wesen.“ (19)


Auf dem I. Kongress für außerschulische Bildung im Mai 1919 wurde gegen „zahlreiche Vorurteile“, wie Krupskaja bilanzierte, eine tief greifende Änderung des bisherigen Kurses beschlossen: Statt an beliebigen Inhalten lesen zu lehren, sollte die Alphabetisierung in Zukunft mit politischer Aufklärung verbunden werden. (20) Dazu sollten entsprechend gestaltete Fibeln eingesetzt werden. Krupskaja war überzeugt: „Wenn in der Fibel über den Krieg, die sowjetische Verfassung, die Revolution, den Kindergarten, die Gemeinschaftskantine usw. zu lesen sein wird, dann wird das Interesse ein ganz anderes sein; wenn der Lehrer unmittelbar nach der Fibel zur Lektüre populärer Zeitungen und Broschüren übergeht, wird auch das Interesse am Buch und an der Zeitung ein anderes werden.“ (21)

 

Nach eineinhalb Jahren des Kampfes gegen das Analphabetentum zog Krupskaja im Mai 1919 eine erste positive Zwischenbilanz. Nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Lande hatten mutige Aktivisten Millionen Analphabeten den ersten Satz aus der neuen Fibel beigebracht: „Wir sind keine Sklaven, nein, Sklaven sind wir nicht!“ Mit der Fähigkeit, in der Zeitung lesen und mindestens den eigenen Namen schreiben zu können, stieg bei vielen Menschen das Selbstbewusstsein. Doch zeigte sich gleichzeitig, dass die Verbindung von Alphabetisierung und politischer Werbung auch Probleme aufwarf. Gläubige Bauern mieden die Lesekurse, weil sie ihnen zu eng mit der „GottlosenPropaganda“ verbunden waren. Die Kirchen nutzten den BauernProtest zur Gegenpropaganda.

 

Krupskaja half den Aktivisten der Alphabetisierung mit Rat und Tat. Sie besichtigte so genannte Liquidationspunkte, Lesehütten und Dorfbibliotheken und machte sich tiefgehend mit der Denkweise der einfachen Menschen vertraut. Doch auch von den Besuchern, die ins Narkompros kamen, um mit ihr zu reden, lernte sie viel. Einmal kam ein Bauarbeiter, ein früherer Bauer, um Bücher und Anschauungsmaterial für die AnalphabetenKurse in seinem Dorf abzuholen. „Wir schickten ihn zu Anatoli Wassiljewitsch (Lunatscharski – der Verf.)“, berichtete Krupskaja. „Er kam zurück und erzählte: ‚Er hat mich gut aufgenommen. Ließ mich auf dem Diwan sitzen, selbst aber ging er auf und ab und sprach so gescheit. Er gab mir Bücher. Versprach mir auch noch ansehnliche Dinge. (Anschauungsmittel, N.K.) Ich aber fürchtete mich, sie zu nehmen. Er sagte zwar, dass sie nichts kosteten, und doch habe ich Angst, man könnte nachher diese ansehnlichen Dinge mit Steuern belegen.‘ Schließlich nahm er doch allerlei Lehrmittel und Plakate mit. Er ist noch so manches Mal zu uns in die Abteilung für Erwachsenenbildung gekommen. Wir gaben ihm den Spitznamen ‚ansehnliche Dinge‘.“ (22)

 

Arbeitergespräche

 

Um die arbeitenden Menschen zu gewinnen, hatte Lenin die Volkskommissariate angewiesen, enge Kontakte zu Arbeitern, Bauern und Soldaten der Roten Armee herzustellen und die Amtsstuben für Besucher offen zu halten. Dementsprechend wurden auch in Krupskajas Abteilung die Türen weit aufgemacht, die ihres Arbeitskabinetts eingeschlossen, und es kamen viele, sehr viele, wie sie sich erinnerte. „Hierher kamen Parteigenossen, um sich nach Iljitsch (Lenin – der Verf.) zu erkundigen und von ihrer eigenen Arbeit zu berichten; Arbeiter holten sich Ratschläge, wie sie ihre propagandistische und agitatorische Arbeit besser gestalten könnten; Rotarmisten, rote Kommandeure, Arbeiter, die eng mit dem Dorf verbunden waren – sie alle fanden sich bei uns in der Abteilung ein.“ (28) Sie betrachteten das Bildungskommissariat „als ihr eigenes, ihnen nahe stehendes Organ“, stellte Krupskaja voller Stolz fest. (29)


Eine besonders positive Bilanz gab es bei den Arbeitern, die zu Krupskaja kamen und mit ihr sprachen. Erstaunt stellte manch einer hinterher fest, dass die Frau in ihrem kleinen Kabinett mit ihm ein „Arbeitergespräch“ geführt hatte, was so viel hieß wie, dass die Begegnung nichts Hierarchisches und Steifes hatte, sondern auf einer gleichberechtigten Ebene stattgefunden und dass die Sorgen, Forderungen und Hoffnungen der arbeitenden Menschen im Zentrum gestanden hatten. (30) Arbeitergespräche im Kommissariat für Bildung – konnte es ein klareres Zeichen der neuen Zeit geben?

 

Die vielen Gespräche, die Krupskaja führte, machten sie unter den Werktätigen bald gut bekannt, auf der anderen Seite nahm ihr keiner die Arbeit ab und sie musste noch Stunden dranhängen. Immer öfter fragten sich ihre Kollegen, wann sie denn eigentlich schlafe. Eine junge Genossin, die damals mit ihr an der PädagogikBeilage der Regierungszeitung arbeitete, berichtete, dass Krupskaja und sie das Amt oft erst spät abends verlassen hatten und dass diese dennoch am nächsten Morgen pünktlich in ihrem Büro war und, damit nicht genug, fünf kleine Artikel aus ihrer Mappe gezogen habe. „Ich wollte meinen Augen nicht trauen“, notierte sie in ihren Erinnerungen. „Wann hatte sie denn das alles geschrieben? Es stellte sich heraus, dass Nadeshda Konstantinowna um fünf Uhr morgens aufstand und schrieb, bis sie ins Volkskommissariat für Bildungswesen ging.“ (31) Dieser Eifer, diese Tatkraft, diese Disziplin waren genauso wie ihre inzwischen gereifte politische Klarheit die Voraussetzungen dafür, dass sie ihre großen Aufgaben erfolgreich bewältigen konnte.

 

 

Quellenverzeichnis 

 

9 Krupskaja, Erinnerungen, 1959, S. 466. Ähnlich verlief die Übernahme der Macht im Ministerium für staatliche Fürsorge, vgl. Kollontai, Leben, S. 435f.
10 Krupskaja, Bd. 1, S. 420
11 Lunatscharski, Schlaglichter, S. 166
12 Lunatscharski, Schlaglichter, S. 166
13 Vgl. Baumann, S. 36
14 Vgl. McNeal, S. 183f.
15 Bryant, S. 20
16 Lunatscharski, Schlaglichter, S. 167
17 Krupskaja, z. n. Anweiler, Schule, S. 212
18 Vgl. Anweiler, Schule, S. 214
19 Krupskaja, Bd. 4, S. 327
20 Krupskaja, z. n. Anweiler, Schule, S. 213
21 Krupskaja, z. n. Anweiler, Schule, S. 213
22 Krupskaja, Erinnerungen, 1959, S. 580
28 Krupskaja, Erinnerungen, 1959, S. 576
29 Krupskaja, Bd. 1, S. 421
30 Vgl. Krupskaja, z. n. Bobrowskaja, Skizze, S. 9.
31 Lenins Seite, S. 90

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