Direkt zum Inhalt | Direkt zur Navigation

Benutzerspezifische Werkzeuge

Sektionen

Sie sind hier: Startseite / 2023 / Grundsätzliche Schlussfolgerungen aus tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen

Grundsätzliche Schlussfolgerungen aus tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen

Rote-Fahne-Interview mit Stefan Engel und Gabi Fechtner, Februar 2023

 

Das Jahr 2022 wird als „Zeitenwende“ gehandelt. Wie ist eure Bilanz?

Gabi Fechtner: Bundeskanzler Olaf Scholz brachte es mit seiner „Zeitenwende“ immerhin zum „Wort des Jahres“. Bei diesem Begriff ging es ihm darum, die neue Ausrichtung der Außenpolitik des imperialistischen Deutschlands auf die offene Vorbereitung eines Dritten Weltkriegs zu umreißen. 2022 begann erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg ein offener Krieg imperialistischer Blöcke. Aber 2022 stand für weitere tiefgreifende Krisen: Es wurde offenbar, dass die schleichende Entwicklung der globalen Umweltkrise in eine globale Umweltkatastrophe umgeschlagen ist. 2022 war ein Jahr galoppierender Inflation und der Verarmung der Arbeiterklasse und breiten Massen. Es war aber auch ein Jahr der wachsenden Unzufriedenheit mit der Regierung, des erwachenden Klassenbewusstseins unter einem Kern des Industrieproletariats und nicht zuletzt gesamtgesellschaftlicher Krisen in immer mehr Ländern auf der Welt. Während sich unter Opportunisten vor diesem krisenhaften Hintergrund Katzenjammer breitmacht, erwies sich die MLPD als stabiler Orientierungspunkt in der zunächst allseits aufbrandenden Verwirrung unter den breiten Massen. Immerhin mutierten bisherige Führer der Friedensbewegung zu offenen Kriegstreibern an der Seite der Ukraine und forcierten die einstmals als Umweltpartei angetretenen Grünen den Ausbau der fossilen Verbrennung durch Braunkohle, Kohlekraftwerke und Fracking-Gas. Ausgerechnet die AfD tat sich in sozialfaschistischer Manier demagogisch als Vertreterin eines sofortigen Friedens in der Ukraine hervor, während von Linkspartei und DKP nur noch Diffuses zu hören ist.

 

Letztes Jahr gab es das zentrale Versprechen, Waffenlieferungen und „Sanktionen“ würden den Krieg in der Ukraine schnell beenden. Wie konnte das so grandios scheitern?

Gabi Fechtner: Inzwischen sind beide Seiten der Kriegsführung dieses auf beiden Seiten ungerechten Kriegs in der Krise. Bereits Mitte November 2022 kam der ranghöchste US-General Mark Milley zu der Einschätzung: „Die Wahrscheinlichkeit eines ukrainischen militärischen Sieges ... ist militärisch gesehen in naher Zukunft nicht sehr hoch.“1 Und das, wo erst vor wenigen Monaten der bedingungslose Sieg der Ukraine als Leitlinie ausgerufen wurde. Die Ramstein-Konferenz der NATO im Januar leitete eine weitere Stufe der Eskalation der Weltkriegsvorbereitung ein. Die Lieferung der Leopard-Panzer galt bisher als „rote Linie“. Kurz nachdem Olaf Scholz die Lieferung von Kampfjets als neue rote Linie aufstellte, prüfen Polen, Frankreich und die USA nun genau diese Lieferung. Inzwischen macht die Sprachregelung die Runde, dass es keine roten Linien mehr geben dürfe.2 Russland stockt derweil seine (aktive) Armee von 1,15 Millionen auf 1,5 Millionen Soldaten auf und führt seinen menschenverachtenden Krieg auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung. Die Gegenoffensive der Ukraine brachte weiteren Zehntausenden Soldaten und Zivilpersonen den Tod. Wir waren noch nie so nah an einem (atomaren) Dritten Weltkrieg wie heute. Es ist nicht anzunehmen, dass die Massen in den kriegführenden Ländern dauerhaft für diesen Krieg gewonnen werden können. Ein imperialistischer Krieg kann aber nicht unbegrenzt ohne oder gegen die Mehrheit der Bevölkerung geführt und gewonnen werden. Auch in Deutschland und anderen Ländern könnte der weiter vorangetriebene Übergang der NATO zur offenen Kriegspartei ein Kulminationspunkt in der Zustimmung der Massen werden. Die MLPD wird jedenfalls gegen das ohrenbetäubende Kriegstrommeln noch intensiver über den Charakter des Kriegs aufklären und den aktiven Widerstand organisieren. Die Aktivitäten zum Jahrestag des Kriegsbeginns am 24. Februar werden dabei eine wichtige Rolle spielen.

 

Welche Rolle spielen derzeit die neuimperialistischen Länder?

Gabi Fechtner: Die neuimperialistischen Länder ziehen Nektar aus dem Schlagabtausch der imperialistischen Blöcke NATO und Russland. Das gilt vor allem für Indien, China, Südafrika, Brasilien und die Türkei. Die meisten Kräfte des modernen Revisionismus haben inzwischen einen sozialchauvinistischen Standpunkt eingenommen und unterstützen das neuimperialistische Russland und China. Sie erhoffen sich aus der neuen multipolaren Weltordnung eine friedlichere Welt. So verbreitet der 29. bundesweite Friedensratschlag im Dezember 2022 in Kassel gar, dass „die neue multipolare Weltordnung den Grundsätzen der sozialen Gerechtigkeit, der internationalen Solidarität, der Demokratie und der ökologischen Nachhaltigkeit verpflichtet sein“ könne.3 Das ist der Standpunkt, mit der unkritischen Unterstützung kleinerer beziehungsweise anderer imperialistischer Länder der imperialistischen Supermacht USA entgegenzutreten. Das ist mit dem Marxismus-Leninismus unvereinbar. Für ihn kann es keinerlei Zugeständnis an den Imperialismus gleich welcher Art geben. In Wirklichkeit spitzt sich der Kampf um die Neuaufteilung der Welt aufs Äußerste zu. USA und China bilden die Zentren der Blockbildung im imperialistischen Kampf um die Neuaufteilung der Welt. Beide bereiten sich auf neue „Großkonflikte“ vor. Entgegen der Behauptung von der seit langem größten Einigkeit des Westens verschärfen sich auch zwischen den USA und der EU die Handelskonflikte. Der sogenannte Inflation-Reduction-Act ist ein Programm der Subventionen und des Protektionismus zugunsten von Investitionen und Produktion des internationalen Finanzkapitals in den USA. Die neuimperialistische Türkei spielt ein bemerkenswertes Doppelspiel mit ihrer NATO-Mitgliedschaft und gleichzeitig enger wirtschaftlicher, politischer und militärischer Zusammenarbeit mit Russland. Sie ist in der Region des Mittleren und Nahen Ostens aktiver Kriegstreiber. So mit Überfällen auf Syrien, den Irak, einer besonderen Zielrichtung gegen den kurdischen Befreiungskampf und ständigen Drohungen gegenüber Griechenland.

 

Im Sommer 2022 hat die UNO wegen der verschärften Umweltkrise Alarm geschlagen. Treffen die Analysen der bürgerlichen Umweltforschung zu?

Stefan Engel: Der UNO-Bericht sieht tatsächlich eine dramatische Verschärfung der globalen Umweltkrise. Er ist jedoch nicht in der Lage, die durchaus realen Fakten richtig zu deuten, weil er die ganze Entwicklung an der Einhaltung des Pariser Klimaabkommens misst.

Dieses Abkommen war jedoch von vornherein keine wissenschaftlich begründete Zielmarke, sondern ein fauler Kompromiss. Aufgrund rein mathematischer Berechnungen vergangener Entwicklungen geht das Pariser Klimaabkommen willkürlich davon aus, dass eine Klimaerwärmung von 1,5 bis 2 Grad von der Menschheit noch zu verkraften sei. Das hat sich inzwischen jedoch als falsch herausgestellt. Die Welt befindet sich heute bei durchschnittlich 1,2 Grad Erwärmung4, bei der bereits eine Reihe von neuen Erscheinungen in der Umweltkrise eingetreten sind. Sie bedeuten in ihrer Summe, dass sich die Menschheit inzwischen am Beginn einer globalen, sich sukzessive ausbreitenden und vertiefenden Umweltkatastrophe befindet. So gibt es eine Reihe Entwicklungen, die die Umweltforschung bisher nicht in der notwendigen Weise beachtet hatte. Diese sind unumkehrbar und bedeuten auch ohne unmittelbares Eingreifen des Menschen eine neue zerstörerische Phase der Lebensgrundlagen der Menschheit: Das Abschmelzen des Polareises verringert den Albedo-Effekt, der die wärmenden Sonnenstrahlen in das Weltall zurück reflektiert, was nun die Weltmeere dramatisch aufheizt. Ganz abgesehen davon, dass dadurch ein erheblicher Teil der heutigen Landmassen und Inseln unwiederbringlich im Meer verschwinden wird. Das Auftauen des Permafrost- bodens setzt rund 1500 Milliarden Tonnen CO2 und Methangas frei. Methan verstärkt den Treibhauseffekt bis zu 25-mal mehr als dieselbe Menge CO2. Mit dem beschleunigten Abschmelzen der Gletscher bis zum Jahr 2050 verliert die Menschheit ihr größtes Trinkwasserreservoir, was zusätzlich viele Flüsse zu Rinnsalen verkümmern lässt. Die beschleunigte Abholzung des Amazonas- Regenwalds hat dazu geführt, dass die Erde nicht nur eine große CO2-Senke verlor. Sie hat auch beigetragen, dass eine wachsende Anzahl der Arten in Flora und Fauna der gesamten Biosphäre für immer verschwunden ist. Durch die Vergrößerung des Ozonlochs hat sich die lebensbedrohliche Verstrahlung der Erdoberfläche dramatisch verschärft, was ganze Arten verschwinden und auch die Anzahl von Hautkrebserkrankungen dramatisch ansteigen ließ. Nicht zuletzt haben sich die Meeresströmungen in den letzten Jahren so verändert, dass der Ausgleich zwischen südlicher und nördlicher Hemisphäre zunehmend unwiederbringlich gestört wird.

Der nun eingetretene beschleunigte, mit gewaltsamen Ausbrüchen verbundene Prozess der Zerstörung der Lebensgrundlagen auf der Erde – das nennen wir globale Umweltkatastrophe – ist ein einziges Fiasko für die Menschheit. Es muss allein vom imperialistischen Weltsystem und den allein herrschenden internationalen Monopolen verantwortet werden.

Zu solch einer Einschätzung kann die bürgerliche Umweltforschung nicht kommen, weil sie nur systemimmanent argumentiert und die grundlegenden Zusammenhänge zwischen Mensch und Natur weitgehend außer Acht lässt. Entsprechend nimmt sie ihre Vorhersagen nur nach mathematischen Algorithmen vor, die vor allem für unvorhergesehene Entwicklungen blind sind. In unserem demnächst erscheinenden Buch aus der Reihe REVOLUTIONÄRER WEG mit dem Titel „Die Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft“ gehen wir auf dieses Problem der zunehmenden Unwissenschaftlichkeit in den Naturwissenschaften und ihre dramatischen Folgen genauer ein. Nur der revolutionäre Kampf zur Überwindung des imperialistischen Weltsystems und zur Errichtung der vereinigten sozialistischen Staaten der Welt entscheidet darüber, ob dieser begonnene Prozess der globalen Umweltkatastrophe in seiner menschheitsbedrohenden Quintessenz noch gedämpft oder gar gestoppt werden kann. Für einen solchen gesellschaftsverändernden Kampf muss die Umweltbewegung, müssen die Arbeiterklasse und die breiten Massen mit dem Einfluss des imperialistischen und des kleinbürgerlichen Ökologismus fertig werden.

 

Nach Meinung von Umweltforschern zeigt der UNO-Bericht, dass die Entwicklung bereits „fünf nach zwölf“ sei. Ist es also zu spät, für die Rettung der Umwelt zu kämpfen?

Gabi Fechtner: Nein! Es ist nie zu spät zu kämpfen, und die Notwendigkeit verstärkt sich sogar noch durch diese brandgefährliche Entwicklung. Schon die jetzt begonnene Umweltkatastrophe wird über kurz oder lang Hunderten Millionen oder gar Milliarden Menschen das Leben kosten. Andererseits sind die materiellen Voraussetzungen und die Erkenntnisse einer sozialistischen Gesellschaft in Einheit von Mensch und Natur weitgehend ausgereift. Sie stehen aber inzwischen in einem historischen Wettlauf mit der Zeit gegen das zerstörerische imperialistische Weltsystem. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Menschheit nicht in der Barbarei eines Dritten Weltkriegs oder einer globalen Umweltkatastrophe untergehen will! Der Umweltkampf wird sich mit dem internationalen Klassenkampf verbinden und fester Bestandteil der internationalen sozialistischen Revolution werden. Darüber, wie jeder dazu steht, wird sich der Kampf um die Denkweise entfalten. Wir werden jeder Geringschätzung, aber auch einer Weltuntergangsstimmung entgegentreten. Die MLPD wird in diesem gesellschaftsverändernden Umweltkampf und in der Vorbereitung und Durchführung der internationalen sozialistischen Revolution in Deutschland eine führende Rolle einnehmen müssen. Sie wird auch international unüberhörbare Impulse dazu setzen.

 

Vor wenigen Wochen erlebten wir einen aktiven Widerstand gegen die gewaltsame Räumung des Dorfes Lützerath.
Ist das bereits ein Aufbäumen gegen die globale Umweltkatastrophe?

Stefan Engel: Der aktive Widerstand in Lützerath richtet sich gegen die Ausdehnung des Braunkohleabbaus durch die Bundes- und Landesregierung mit jeweils grüner Regierungsbeteiligung. Berechtigt wird den Grünen dort Verrat vorgeworfen. Bei der letzten Wahl gingen sie mit der Forderung nach vorzeitiger Beendigung des Braunkohleabbaus noch hausieren, um den wachsenden Umweltprotest auf die parlamentarischen Bahnen zu lenken. Die Kampfaktionen richten sich verbal auch gegen den Kapitalismus und den Energiekonzern RWE, was eine kapitalismuskritische Tendenz zum Ausdruck bringt.

Allerdings bewegen sich die hauptsächlichen Forderungen der Proteste bei aller Radikalität weitgehend noch im Rahmen des Pariser Abkommens, und sie berufen sich auch offiziell darauf.  5 Damit unterschätzen sie aber grundlegend den inzwischen eingetretenen Prozess der globalen Umweltkatastrophe. Das hat seine Ursachen darin, dass diese Aktivitäten in letzter Konsequenz weitgehend doch noch von den regierungsfreundlichen NGOs, die eng mit der Partei der Grünen verbunden sind, kontrolliert werden und ausdrücklich antikommunistisch ausgerichtet sind.

Es ist die Aufgabe der Marxisten-Leninisten, diese zwiespältige Situation durch eine solidarische und kritische Unterstützung in Verbindung mit einer bewusstseins- bildenden Aufklärungsarbeit aufzulösen. Nur dann kann dieser Kampf Teil eines wirklich gesellschaftsverändernden Umweltkampfs werden. Ein solcher Umweltkampf muss sich eng mit der Arbeiterklasse verbinden und diese als führende Kraft anerkennen. Die Industriearbeiter haben in den Riesenbetrieben der internationalen Übermonopole, die Hauptverursacher der globalen Umweltkatastrophe, eine gesellschaftsverändernde Stellung, die sie auch für den dringend nötigen Umweltkampf nutzen müssen. Die zum Teil kindischen anarchistischen Schlachten in Lützerath wurden zwar von den bürgerlichen Medien gerne ausgeschlachtet, schrecken aber zugleich die breite Masse von der Umweltbewegung ab. Aktiver Widerstand ist dringend nötig, darf aber nie isoliert von den Massen und der Arbeiterklasse bleiben und damit seine Hauptstoßrichtung verändern. Der notwendige gesellschaftsverändernde Charakter kann nur ein Ergebnis des Fertigwerdens mit den verschiedensten Formen des Antikommunismus und des Opportunismus sein.

 

Ohnehin ist die Gewaltfrage auch angesichts der Silvesternacht in aller Munde, was sagt ihr dazu?

Gabi Fechtner: Wir lehnen diese manipulative Berichterstattung entschieden ab. Nicht, weil wir unkritisch gegenüber Jugendlichen sind, die ihre unsinnige Zerstörungswut auch gegen Rettungskräfte von Sanitätern oder Feuerwehrleuten lostreten. Aber es ist ein Ablenkungs-manöver, migrantische Jugendliche als Urheber von Gewalt  darzustellen. Ihre Gewalt spiegelt nur die ungeheure Gewalteskalation  in der bürgerlichen Gesellschaft wider. Wenn rund um die Uhr rücksichtslose Kriegstreiberei betrieben wird, die Gewaltexzesse im Ukrainekrieg kritiklos propagiert werden und die Bundeswehr großflächig die Jugend für Teilnahme am Krieg wirbt, dann senken sie selbst die Hemmschwelle für reaktionäre Gewalt. Im ZDF wurde beklagt, dass man es in Berlin-Neukölln mit „Teilen der Bevölkerung zu tun“ habe, „die dem Staat distanziert gegenüberstehen“.6 Das ist so und dieser Staat hat sich das in erster Linie selbst zuzuschreiben: mit seiner Politik für das allein herrschende internationale Finanzkapital und gegen die Arbeiterklasse, die breiten Massen und die Zukunft ihrer Jugend sowie der in Teilen des Staatsapparats institutionalisierten rassistischen Diskriminierung von Migranten. Die Herrschenden puschen Auseinandersetzungen wie in Lützerath oder in der Silvesternacht, um die Faschisierung des Staatsapparates voranzubringen. Warum wird eigentlich immer die Nationalität eines Gewalttäters betont? Der Informationsgehalt wäre viel höher, wenn in den Nachrichten über die Klassenzugehörigkeit von Kriegstreibern oder die weltanschaulich faschistische Gesinnung der meist als „verwirrte Einzeltäter“ verharmlosten Attentäter informiert würde. Es wäre dann schnell auszumachen, dass der größte Anteil der Gewalt auf der Welt von imperialistischen, reaktionären und faschistischen Kräften ausgeht.

 

Trotz wachsender Unzufriedenheit mit der Regierung ist der von den Herrschenden gefürchtete „heiße Herbst“ ausgeblieben.

Gabi Fechtner: In der Tat. Aber die Regierung musste dafür Federn lassen. Entgegen anfänglicher Beteuerungen sah sie sich gezwungen, das bisher größte Programm dämpfender Maßnahmen aufzulegen. So unter anderem mit der Erweiterung und Erhöhung des Wohngelds, der sogenannten Gas- und Strompreisbremse, Zuschüssen für energetische Sanierung, Einmalzahlungen und so weiter. Diese Maßnahmen sind natürlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein und oftmals eine regelrechte Mogelpackung, zumal sie zugleich den Monopolen zusätzliche Profite bescherten. Trotzdem trugen sie bei, die Leute erst einmal zu besänftigen. Dass die Regierung sich zu solchen, die Klassenwidersprüche dämpfenden Maßnahmen genötigt sah, zeigt ihre ausgeprägte politische Defensive. Der Zauber der selbsternannten „Fortschrittskoalition“ ist inzwischen verflogen. Im November gaben 66 Prozent der Befragten an, unzufrieden mit der Politik der Bundesregierung zu sein.7 Die verschiedentlich aufgekommene Erwartung, dass angesichts des Krisengeschehens die Entwicklungen im Bewusstsein oder der Kämpfe viel schneller gehen müssten, ist allerdings idealistisch. Der aktive Widerstand entfaltet sich nicht einfach analog zur Verschärfung der objektiven Lage. Um all die Geschehnisse mit einem proletarischen Klassenstandpunkt zu verarbeiten, braucht es ein höheres Bewusstsein. Dazu gehört auch, eine kleinbürgerlich-negativistische Denkweise zu überwinden, die eine allgemeine Skepsis gegen die Menschheit und ihre Fähigkeit pflegt, den Kampf um ihre Zukunft in die eigene Hand zu nehmen. Diese Bewusstseinsbildung ist unspektakulär und manchmal mühsam, aber auch ein großer Trumpf der MLPD in ihrer systematischen Kleinarbeit.

 

Für manchen war überraschend, wie die Arbeiterklasse im letzten Jahr auf den Plan trat. Welche Rolle hat sie im gesellschaftsverändernden Kampf?

Gabi Fechtner: Die Kapitalisten machten trotz Rekordgewinnen in den Tarifrunden zunächst nicht einmal ernsthafte Angebote, sondern vertrauten auf ihre Krisenpropaganda und setzten auf eine weitere Nullrunde. Diese Provokation wiesen die Arbeiter offensiv zurück: 2022 gab es in Deutschland 1443 gewerkschaftliche Streikaktionen mit 1,2 Millionen Beteiligten, die höchste Anzahl seit 2018. Außerdem sechs selbständige Streiks mit 3850 Beteiligten.8 Auch international sind die Arbeiter das entscheidende Rückgrat in den entfalteten Kämpfen im Iran, in Frankreich, Großbritannien, Griechenland, Belgien und Italien – um nur einige zu nennen.

In der Metalltarifrunde in Deutschland traten 900 000 Kolleginnen und Kollegen in kämpferische Warnstreiks. Gerade die kämpferischen Elemente darin waren oftmals von MLPD-Mitgliedern beeinflusst. Die MLPD entwickelte treffende Argumente für den vollen Einsatz der gewerkschaftlichen Kampfkraft, gegen Verzichtspropaganda und gegen jegliche Klassenversöhnung. Die Losung von Karl Marx „Nieder mit dem Lohnsystem!“ wird zwar noch nicht einheitlich geteilt, aber stößt zunehmend auf selbstverständliche und interessierte Debatten. Die Kapitalisten mussten kleinlaut von ihrer Blockadehaltung abgehen. Der plötzliche Tarifabschluss stieß die Metaller allerdings auch vor den Kopf. Die gewerkschaftliche Kampfkraft wurde noch nicht wirklich eingesetzt und auf Warnstreiks reduziert. Es entfaltete sich eine bestimmte Kritikbewegung an dem reformistischen Abschluss.

Die Forderung nach Lohnnachschlag wurde zu einer Massendiskussion, an der die MLPD einen erheblichen Anteil hat. Vor gut einem Jahr hatten wir das Thema mit unserer Broschüre „Inflationsalarm“ zehntausendfach an und in den größten Betrieben in Deutschland verbreitet. Im Vorfeld der Tarifrunde der IG Metall beschlossen einige Vertrauenskörper Lohnforderungen im zweistelligen Bereich. Es gab eine Reihe selbständiger Versammlungen, kleinerer Streiks und kämpferischer Initiativen in Betrieben oder gewerkschaftlichen Gremien. Darauf mussten die Kapitalisten und die Regierung reagieren. Die sogenannte „Konzertierte Aktion“ 2022 sollte den offensiven Forderungen der Arbeiter den Wind aus den Segeln nehmen, indem relativ hohe steuerfreie Einmalzahlungen ermöglicht wurden. Verschiedene tarifliche Abschlüsse werden seither mit Titeln wie „Inflationszuschlag“ so gedeutet, als wäre damit der Kampf um Lohnnachschlag erledigt. Aber: Weder ist damit die Inflation ausgeglichen noch sind damit die offenen Rechnungen der Arbeiter erledigt. Neben der ökonomischen Seite besteht die grundsätzliche Bedeutung selbständiger Streiks auch in ihrem politischen Charakter. Das ist gerade in einer Zeit wichtig, in der die zunehmende Militarisierung der Gesellschaft und die Vorbereitung eines Weltkriegs einen aktiven Widerstand besonders der Arbeiterklasse notwendig macht.

Ein wichtiger selbständiger Arbeiterkampf findet zurzeit bei dem Automobilzulieferer und Weltmarktführer für Alufelgen Borbet in Solingen statt. Die Klassenselbständigkeit wurde dort gewahrt und höherentwickelt. Die Arbeiter machten ihren Kampf nicht von der Führung durch die rechte Gewerkschaftsführung oder Betriebsräte abhängig, sondern organisierten ihn selbständig gegen deren Abgesang. Es gibt auch eine enge Verbindung und ein Vertrauensverhältnis zur MLPD, und die Belegschaft wurde bis zu einem gewissen Grad mit der kleinbürgerlich-antikommunistischen Denkweise fertig.

Die Arbeiter wählten rechtzeitig vor den Kampfmaßnahmen ein eigenständiges Kampfkomitee, das demokratisch berät und entscheidet.

Solche selbstständigen Kampferfahrungen sind auch deshalb von Bedeutung, weil wir uns darauf einstellen müssen, dass die Monopole  in den nächsten Monaten massiv Arbeitsplätze abbauen wollen. Die 3200 angekündigten Entlassungen bei Ford in Köln, der Abbau von Tausenden Arbeitsplätzen bei Amazon, SAP oder Twitter geben dafür ein erstes Vorzeichen.

 

Seit dem Zweiten Weltkrieg hat es keine solche inflationäre Entwicklung mehr gegeben wie 2022. Die Regierung behauptet, dass es sich um eine „kriegsbedingte Inflation“ handelt, die durch den Angriffskrieg von Putin zu verantworten sei.

Stefan Engel: Es ist schon ein Phänomen, dass die Inflation mit der Weltwirtschafts- und Finanzkrise derartig in die Höhe schnellte. Üblicherweise war es so, dass eine Überproduktionskrise mit einer Deflation einhergeht. In Deutschland stieg sie 2022 offiziell auf eine Rate von 7,9 Prozent, real lag sie bei Arbeiterfamilien zwischen 15 und 20 Prozent.9

Die Veränderung hat nur indirekt etwas mit dem Ukrainekrieg oder der Covid-19-Pandemie zu tun. In Wahrheit handelt es sich um eine spekulationsgetriebene Inflation, ausgehend von den allein herrschenden internationalen Monopolen. Sie wollen mithilfe der Spekulation ihre Maximalprofite auch in Zeiten von Wirtschaftskrisen sichern. Die Maßnahmen der Regierung gegen diese inflationäre Entwicklung laufen vor diesem Hintergrund weitgehend ins Leere oder schlagen sogar in das Gegenteil um. So finanziert der Staat mit der sogenannten Gaspreisbremse sogar die Spekulation mit den Steuern der Massen.  Die Regierung trägt durch die Umverteilung des Nationaleinkommens zugunsten der Monopole und zulasten der breiten Massen zusätzlich zur Entwertung der Löhne und Gehälter bei.

Natürlich hat diese inflationäre Entwicklung auch negative Folgen für die imperialistische Gesellschaft und Wirtschaft, weil sie die Massen verunsichert und gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse aufbringt. Sorgenvoll warnte Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing schon im Juli 2022, dass die Inflation eine „Bedrohung des sozialen Friedens“ und „Gift für die Gesellschaft“ sei.10

Außerdem wirkt die Inflation zum Teil auch negativ auf Produktion und Handel zurück, was insbesondere für die nichtmonopolistische Bourgeoisie und das selbstständige Kleinbürgertum ein großes Problem darstellt. Deshalb versuchen die imperialistischen Regierungen, dämpfend auf die Inflation einzuwirken, ohne jedoch auch nur den geringsten Versuch zu unternehmen, der ursächlichen Spekulation durch die internationalen Monopole entgegenzutreten. Es bleibt der Arbeiterklasse und den breiten Massen nur der gemeinsame Kampf für höhere Löhne und Gehälter und für entsprechende soziale Errungenschaften.

 

Glaubt man den bürgerlichen Darstellungen, ist die Weltwirtschafts- und Finanzkrise auf die Corona-Pandemie oder den Kriegsausbruch zurückzuführen. Was sagst du dazu?

Gabi Fechtner: Wir befinden uns seit dem dritten Quartal 2018 – also lange vor dem Ukrainekrieg – in einer ausgewachsenen und zyklisch auftretenden Weltwirtschafts- und Finanzkrise. Diese Krise erreichte 2019 die überwältigende Mehrheit der imperialistischen und kapitalistischen Länder. Bis heute haben sich führende imperialistische und neuimperialistische Länder wie Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Japan, Brasilien, Südafrika, wie auch die Gesamtwirtschaft der Eurozone oder der Gruppe der G7-Staaten nicht davon erholt. Sie liegen bei der Industrieproduktion zum Teil immer noch deutlich unter dem Vorkrisenstand. Die USA haben diesen lediglich leicht übertroffen. China liegt in seiner Industrieproduktion zwar über dem Vorkrisenstand. Sein Wachstum hat sich aber seit Beginn der Weltwirtschafts- und Finanzkrise in der Tendenz deutlich abgeschwächt und wird 2022 voraussichtlich den niedrigsten Wert seit Jahrzehnten erreichen.11 Die Wechselwirkungen zur Corona-Pandemie, zum Ukrainekrieg und dem Weltwirtschaftskrieg vertieften die Weltwirtschafts- und Finanzkrise, sind aber nicht die Ursache. Am 25. Januar präsentierte der Minister für Wirtschaft und Klimaschutz, Robert Habeck, den „Jahreswirtschaftsbericht 2023“, in dem die Regierung innerhalb eines dreiviertel Jahres zum dritten Mal ihre Wirtschaftsprognose korrigiert. Habeck hatte ja bereits vor einem Jahr eine Kostprobe seiner analytischen Fähigkeiten abgeliefert. Er sagte eine Wende zur „sozial-ökologische(n) Marktwirtschaft“ voraus. Herausgekommen sind die Verlängerung der Laufzeiten von Atom- und Kohlekraftwerken, die Forcierung der Gas- und Ölförderung in Afrika, die Verwendung von Fracking-Gas aus den USA und eine in der Nachkriegszeit nicht gekannte relative und absolute Armut in Deutschland! Aber Habecks Fähigkeit wird ja ohnehin vor allem darin gesehen, über seine Politik zu philosophieren. Zyklische Überproduktionskrisen sind eine Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen Produktion, das kann selbst Habeck nicht wegreden!

 

Mitten in der krisengeschüttelten Weltlage soll die 3. Internationale Konferenz der kämpferischen und klassenkämpferischen Bergarbeiterbewegung diesmal in Deutschland stattfinden. Welche Bedeutung misst du diesem Ereignis bei?

Stefan Engel: Die Bergarbeiter bilden mit über 20 Millionen Kumpels das größte Heer an Industriearbeitern in der internationalen Produktion. Sie sind in der Regel außerordentlich kämpferisch und radikal, haben also für die Entwicklung des internationalen Klassenkampfs eine hervorragende Bedeutung. Auch wenn in Deutschland der Steinkohlebergbau 2018 beendet wurde, so gibt es hier immer noch über 50 verschiedene Schachtanlagen. Die größte Gruppe von Bergleuten sind heute neben den Beschäftigten des Braunkohleabbaus die Kali-Kumpel in Nordhessen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Vor allem im Erzgebirge werden gerade wieder alte, nach der Wiedervereinigung geschlossene Erzgruben neu abgetäuft, um den global immer knapper werdenden Rohstoffvorräten (Silizium, Seltene Erden etc.) entgegenzuwirken. Die Bergarbeiterinitiative „Kumpel für AUF“ hat in Zusammenarbeit mit verschiedenen überparteilichen Selbstorganisationen der Massen 2013 maßgeblich dazu beigetragen, dass sich die „Internationale Bergarbeiterkoordination“ (IMC) erfolgreich in Arequipa/Peru gründen konnte. Der dritte Kongress soll nun Ende August in Thüringen/Deutschland stattfinden. Politisch muss er der zunehmenden Gefahr der Spaltung der internationalen Arbeitereinheit vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs und des damit verbundenen Aufblühens von Sozialchauvinismus und Nationalismus in der Arbeiterbewegung entgegentreten. Die MLPD macht die Vorbereitung und Unterstützung dieses Bergarbeiter-Events zu einer ihrer zentralen Aufgaben im Jahr 2023 und unterstreicht damit ihren Alleinvertretungsanspruch gegenüber den Bergleuten in der herkömmlichen Parteienlandschaft.

 

Wie bewertet das kürzlich zu Ende gegangene 4. Plenum des Zentralkomitees die Entwicklung der MLPD, die ja letztes Jahr ihren 40. Geburtstag feierte?

Gabi Fechtner: Das 4. ZK-Plenum zog eine positive Bilanz zur Entwicklung der MLPD. Unsere dreitägigen Feierlichkeiten „40 Jahre MLPD“ im August hinterließen bei den rund 3000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern und auch bei vielen Online-Zuschauern einen tiefen Eindruck: Mit den politischen Veranstaltungen und der Klärung der Rolle der theoretischen Arbeit im erfolgreichem Parteiaufbau gegen die gesellschaftliche Desorientierung – mit hohem kulturellen Niveau und optimistischer Ausstrahlung, der Ehrung von verdienten Genossen der ersten Stunde, der vielfältigen Darstellung des Systems der Kleinarbeit der Partei und des Jugendverbands REBELL/Rotfüchse sowie mit einer hochwertigen Organisationsarbeit. Die MLPD hat ihre Fähigkeit, Massen zu bewegen und zu führen, ausgebaut. Mit der Herausgabe der Nummern 36 „Die Krise der bürgerlichen Ideologie und des Antikommunismus“ und 37 „Die Krise der bürgerlichen Ideologie und des Opportunismus“ in der Reihe REVOLUTIONÄRER WEG nahmen wir wesentliche Felder der bürgerlichen Ideologie ins Visier. Das hat nicht, wie vielleicht von manchen befürchtet, dazu geführt, Bündnispartner zu verprellen, sondern hat Klärungsprozesse vorangetrieben. Mit einem einzigartigen bundesweiten System von Studiengruppen, Saal- und auch Open-Air-Veranstaltungen organisierten wir kleinere und größere Massendiskussionen darüber. Mit über 12 000 verbreiteten Broschüren „Der Ukrainekrieg und die offene Krise des imperialistischen Weltsystems“ und 17 000 Online-Zugriffen12 auf diesen Text konnten wir zur Bewusstseinsbildung beitragen und wie nie zuvor auf demokratische, antifaschistische, antimilitaristische und sozialistische Menschen einwirken.

Wir haben uns besonders vorgenommen, die Anleitung, Ausbildung und Beratung und ihre jeweilige Bilanzierung zu verstärken, um unseren Mitgliedern noch besser zu helfen, die aktuelle Krisensituation zu begreifen und ihre Kleinarbeit in den Betrieben, Stadtteilen und Hochschulen darauf auszurichten.

Unser Jugendverband REBELL hat einige Qualitätsmerkmale herausgebildet, die ein Jugendmassenverband braucht. Sie sie sind aber noch nicht Allgemeingut in der Jugendarbeit der Partei und des REBELL. Die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie haben der Jugendarbeit erheblich zugesetzt. So konnten  zum Beispiel Rotfuchsgruppen nicht regelmäßig stattfinden. Diese negativen Auswirkungen müssen jetzt wieder schrittweise überwunden und der Weg zum Jugendmassenverband muss konsequent fortgesetzt werden.

Bei all dem muss man beachten, dass das verschärfte Vorgehen der Herrschenden gegen die MLPD weitergeht. Es begann ja unter dem ehemaligen Innenminister Horst Seehofer mit Gefährder-Anzeigen gegen Stefan Engel und weitere, Fahndungsausschreibung gegen die Parteiführung, Veranstaltungs- und Saalverboten und so weiter. Die Politik der heutigen Bundesregierung zielt in Verbindung damit verstärkt darauf, die MLPD wieder in die Isolierung zu treiben. Dafür werden regelrechte Hetzkampagnen losgetreten, Schlägertrupps gegen die MLPD losgeschickt und Ähnliches. Sie erhoffen sich davon, Bündnispartner und Interessierte abzuschrecken. Ein übles antikommunistisches Urteil gegen den überparteilichen Frauenverband Courage sagt aus, dass künftig jeder verfolgt werden muss, der nur einen Infostand bei einer Veranstaltung macht, bei der auch die MLPD ist, oder ein Grußwort an eine ihrer Veranstaltungen richtet. Solche Gesinnungsschnüffelei ist offene antikommunistische Unterdrückung!

Gleichzeitig ist für viele die kleinbürgerlich-antikommunistische Denkweise weiterhin das Haupthemmnis für eine dauerhafte Zusammenarbeit mit der MLPD. Diese ist bei allen Fortschritten noch immer eine relativ kleine Kraft. Eine Schlussfolgerung ist, die Bewegung „Gib Antikommunismus keine Chance!“ offensiv zu führen. Also nicht nur zu reagieren, wenn Angriffe kommen, sondern selbst das Thema der Perspektive des Sozialismus auf die Tagesordnung zu setzen. Dazu sind vor allem die Kampf- und Gedenktage der revolutionären Arbeiterbewegung von großer Bedeutung, in denen die strategischen Fragen der Vorbereitung der internationalen sozialistischen Revolution diskutiert und kulturvoll verarbeitet werden können. Auch solche Veranstaltungen und Aufgaben gehören zum weltanschaulichen Kampf, den wir weiter unbedingt verstärken müssen.

 

Warum habt ihr das Thema  „Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft“ für das neue Buch Nr. 38 in der Reihe REVOLUTIONÄRER WEG gewählt, das dieser Tage erscheint, und worum geht es in dem Buch?

Stefan Engel: Die Massen sind in den letzten Jahren immer kritischer geworden gegenüber den Äußerungen von Politikern, Branchenvertretern oder Konzernsprechern. Aber die Naturwissenschaft gilt immer noch als neutral, allein der Wahrheit verpflichtet und per se fortschrittlich. Damit ist sie ein geeignetes Vehikel, besonders in zugespitzten Krisensituationen die bürgerliche Ideologie zu verbreiten und Vertrauen zurückzugewinnen. Nicht umsonst wurde zu Beginn der Covid-19-Pandemie ein riesiges Aufgebot an Virologen, Epidemiologen und Ärzten aufgefahren, um zu vermitteln, die Lage sei bei der Regierung in guten Händen. 

Über Tausende von Fernsehdokumentationen, Internetbeiträgen, Magazinen und Zeitungen werden dabei durchaus wertvolle, materialistische Informationen transportiert. Aber jede Einzelinformation wird dabei auch weltanschaulich gedeutet, in das bürgerliche Weltbild eingeordnet und mit praktischen Schlussfolgerungen versehen.

Uns liegt fern, die Naturwissenschaften in Bausch und Bogen zu verdammen. Vielmehr geht es in dem Buch darum, die dialektisch-materialistische Kritik an der bürgerlichen Naturwissenschaft zu entwickeln und dadurch alle materialistischen neuen Erkenntnisse für die Arbeiterklasse und ihre Verbündeten nutzbar zu machen und zu erhalten. Diese Seite des weltanschaulichen Kampfs ist besonders wichtig für die Verbreitung des Materialismus unter der Arbeiterklasse. Wir werden damit auch eine systematische Kritik an den bürgerlichen Lehrinhalten in Schulen und Universitäten anregen. Wir verteidigen in dem Buch vor allem den wissenschaftlich begründeten Materialismus gegen dessen wissenschaftsfeindliche Untergrabung durch die pragmatische Borniertheit und die positivistischen Scheuklappen der bürgerlichen Ideologie. Wir ebnen damit der dialektisch-materialistischen Naturwissenschaft als fundamentalem Bestandteil des wissenschaftlichen Sozialismus den Weg.

Dabei haben wir bewusst darauf geachtet, dass das Buch nicht in eine unverständliche Fachdebatte abgleitet, sondern wirklich Fragen der Massen behandelt: Gewohnt polemisch setzen wir uns mit der antikommunistischen These, der Mensch sei von Natur aus egoistisch, auseinander, mit den Fantastereien des Urknalls und der Schwarzen Löcher. Oder mit der idealistischen These, jedem psychischen Problem würde ein Trauma zugrundeliegen und die Lösung bestünde im Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben. An vielen Stellen verweisen wir auf die Perspektive der Naturwissenschaften in einer sozialistischen Gesellschaft, soweit das heute schon möglich ist. Der Sozialismus wird die Naturwissenschaft beflügeln, wenn sie sich im Kampf gegen dessen antikommunistische Verunglimpfung wieder dem dialektisch-materialistischen Denken zuwendet und sich konsequent in den Dienst der Massen stellt. Das ist zugleich eine Initiative zur Förderung der Jugendarbeit der Partei, unter der Masse der studierenden Jugend und den wissenschaftlich arbeitenden Intellektuellen.

 

Wie wollt ihr das Buch verbreiten und diskutieren?

Gabi Fechtner: Wir werden dieses Buch breit unter Arbeitern, Frauen und Jugendlichen verkaufen, gemeinsam lesen und auf zahlreichen Veranstaltungen diskutieren. Einen besonderen Schwerpunkt werden wir darauf legen, mit der Kritik an der bürgerlichen Naturwissenschaft und damit an den Lehrinhalten an Universitäten und Hochschulen in die Offensive zu gehen. Immerhin gibt es drei Millionen Studenten an deutschen Hochschulen. Bei vielen ist das Motiv, mit dem Studium als Arzt, Ingenieur oder Umweltforscher einen Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt zu leisten. Neben Veranstaltungen zum gesamten Buch planen Autoren und Mitarbeiter auch, gemeinsam mit fortschrittlichen und streitbaren Studierenden und Dozenten in Universitäten Diskussionen in den jeweiligen Fachbereichen wie Physik, Biologie, Psychologie und so weiter zu organisieren. Wir werden eine breite Werbeoffensive starten für Rezensionen und dafür auch an Wissenschaftsmagazine, Professoren und Industriearbeiter herantreten. Dieses Buch gehört in jede Universitätsbibliothek.

 

Was sind die weiteren Aufgaben der Redaktion REVOLUTIONÄRER WEG in den nächsten Jahren? 

Stefan Engel: Im Mittelpunkt steht gegenwärtig die Fertigstellung unserer Streitschrift  „Die Krise der bürgerlichen Ideologie und die Lehre von der Denkweise“ in fünf Bänden. In Arbeit sind nach dem dritten Band „Die Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft“ auch die zwei weiteren Bände dieser Reihe unter dem Titel „Die Krise der bürgerlichen Geisteswissenschaften und Kultur“ und „Die Lehre von der Denkweise“ sowie das Buch „Über die Veränderungen im imperialistischen Weltsystem“.

Parallel macht eine Arbeitsgruppe seit geraumer Zeit umfassende Analysen zu der Herausgabe „Einige biografische Betrachtungen zu Stalin“. In den nächsten Monaten werden wir aber zunächst in der Reihe REVOLUTIONÄRER WEG eine Sondernummer beziehungsweise einen Ergänzungsband zur Nummer 35 „Katastrophenalarm! Was tun gegen die mutwillige Zerstörung der Einheit von Mensch und Natur?“ zum Eintritt in den Prozess der globalen Umweltkatastrophe und zu den Schlussfolgerungen für die proletarische Strategie und Taktik im Umweltkampf erarbeiten.

Bei alledem kommt es besonders darauf an, den Generationswechsel in der Redaktion REVOLUTIONÄRER WEG zielstrebig weiterzuführen, um auch für die zukünftige Entwicklung von Parteiaufbau und Klassenkampf eine solide theoretische Grundlage zu gewährleisten. Die marxistisch-leninistische theoretische Arbeit muss systematisch erlernt werden. Dadurch kommt es zuweilen auch zu der einen oder anderen unvermeidbaren Verzögerung. Sie ist aber auch kein Hexenwerk, wenn man sich diszipliniert, mit proletarischem Ehrgeiz, proletarischem Arbeitsstil und einer proletarischen Arbeitsweise drangibt.

 

Man hat den Eindruck, in der internationalen revolutionären Bewegung werden die Karten neu gemischt. Ist dieser Prozess positiv oder bereitet er dir eher Sorgen?

Gabi Fechtner: Inzwischen zeigt sich, dass in der internationalen revolutionären und Arbeiterbewegung ein regelrechter Neuorientierungs- und Neuformierungsprozess tobt. Er wurde durch die Krisenhaftigkeit des imperialistischen Weltsystems und insbesondere durch den Ukrainekrieg enorm befeuert. International beobachten wir eine ganze Reihe von Spaltungen und Linienkämpfen in revolutionären Organisationen. Das geht damit einher, dass sich die Fronten klären. So zum Beispiel gegen den modernen Revisionismus, der zur offen sozialchauvinistischen Verteidigung des russischen Imperialismus übergegangen ist.

Die Veränderungen im imperialistischen Weltsystem nehmen auf den internationalen Klärungsprozess Einfluss – entweder positiv oder negativ. So wird von verschiedenen revolutionären Parteien und Organisationen das Phänomen der Herausbildung neuimperialistischer Länder verkannt, was bei einigen sogar dazu führt, sozialchauvinistische Positionen gegenüber imperialistischen Ländern einzunehmen. An dieser Frage kann ein neuer Spalt in der internationalen revolutionären und Arbeiterbewegung entstehen, wenn es nicht gelingt, sie positiv zu klären.

Ein besonderes Merkmal der MLPD ist, dass wir eine systematische theoretische Arbeit machen und mit unserem System REVOLUTIONÄRER WEG ein Stück weit der Entwicklung voraus sind. Das ist auch bei uns ein intensiver Diskussionsprozess, der sich aber lohnt und den sich heute keiner sparen kann. Diese theoretische Arbeit findet international großen Anklang und ist vielleicht unser wichtigster Beitrag zum internationalen Klassenkampf. Es gibt eine rege, vorwärtstreibende Diskussion in der ICOR und mit immer mehr revolutionären Parteien und Organisationen. Die ICOR hatte jederzeit eine klare Position des proletarischen Internationalismus vertreten. Auch die internationale antifaschistische und antiimperialistische Einheitsfront ist ein großer Fortschritt. Eine etwas merkwürdige Einschränkung dieser Einheitsfront wäre es, diese nur noch auf den Kampf der unterdrückten Völker gegen die USA ausrichten zu wollen. Tatsächlich tobt auch in den unterdrückten Ländern, die zum allergrößten Teil inzwischen selbst kapitalistisch sind, der Klassenkampf, gibt es eine Bourgeoisie, die mit dem internationalen Finanzkapital verflochten ist, und muss die Arbeiterklasse die führende Rolle haben. Vor allem jagen sich die Imperialisten heute in erster Linie die Maximalprofite gegenseitig ab, was einen erbitterten Konkurrenzkampf und eine wachsende Weltkriegsgefahr nach sich zog.

 

Gibst du uns einen kurzen Ausblick? 

Gabi Fechtner: Eine echte „Zeitenwende“ vom Kapitalismus zum Sozialismus kann niemals ausreifen ohne führende Rolle der Marxisten-Leninisten in ideologischer,
politischer und organisatorischer Hinsicht. Diese muss gegenwärtig in einer allseitigen und intensiven bewusstseinsbildenden und organisierenden Kleinarbeit zum Ausdruck kommen. Die gesamtgesellschaftliche Rolle der MLPD und der ICOR auf der Weltbühne wird immer mehr zu einer
entscheidenden Frage der gesellschaftlichen Entwicklung. Denn wie Karl Marx sagte, es kommt nicht nur darauf an, die Welt zu interpretieren, sondern darauf, die Welt zu verändern. Der proletarische Internationalismus ist die Leitlinie für die Vorbereitung und Durchführung der internationalen sozialistischen Revolution.

Proletarier aller Länder vereinigt euch!

Proletarier aller Länder und Unterdrückte vereinigt euch!  

 

Rote Fahne: Vielen Dank!

 

 

 

 

1 https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ukraine-russland-krieg-general-milley-usa-100.html

2 www.tagesspiegel.de/politik/waffenlieferungen-an-die-ukraine-es-gibt-keine-roten-linien.9170511.html

3 https://friedensratschlag.de/abschlusserklaerung/

4 https://www.umweltbundesamt.de/print/11187

5 Aufruf „x-tausend für Lützerath“, https://www.x-tausend-luetzerath.de

6 Sozialpsychologe Ulrich Wagner am 02.01.23 im ZDF, www.zdf.de/nachrichten/heute-19-uhr/silvester-gewalt-gegen-sicherheitskraefte-video-100.html

7 https://yougov.de/topics/politics/articles-reports/2022/11/11/sonntagsfrage-november-2022-unzufriedenheit-mit-de

8 Quelle Streikstatistik GSA

9 www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/01/PD23_022_611.html, Berechnungen der GSA

10 RND 4.7.22, http://www.handelsblatt.com/finanzen/banken-versicherungen/banken/christian-sewing-gift-fuer-die-gesellschaft-deutsche-bank-chef-warnt-vor-folgen-der-inflation/28477676.html

11 Berechnungen der GSA auf Grundlage der OECD-Zahlen, zu China für 2022 auf Grundlage des chinesischen Statistikamts

12 Stand 3.2.23, inkl. fremdsprachige

 

Artikelaktionen