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Wir sind große Verfechter des Internationalismus

Zübeyir Aydar, Mitglied des Exekutivkomitees der Kurdischen KCK (Union der Gemeinschaften Kurdistans)/Europa, März 2018

 

In einem Gespräch mit Vertretern der ICOR und der MLPD gab Zübeyir Aydar Ende März 2018 die nachfolgende Beurteilung der politischen Lage nach dem Abzug von Einheiten der YPG/YPJ aus der Stadt Afrin und der politischen Perspektiven ab.

 

Wenn wir über Afrin sprechen, müssen wir uns darüber klar sein, dass es nicht nur um Afrin, sondern um die Situation in der gesamten Region geht. Die Stadt Afrin ist zwar geräumt. Aber seit 74 Tagen gibt es Widerstand in Afrin gegen die türkische Invasion. Der Krieg ist auch in der Stadt selbst noch nicht beendet. Der Krieg in der Region ist in eine neue Dimension getreten.

Gegen Afrin wurden türkische Luftangriffe geflogen. Dagegen wurden Vorbereitungen getroffen. Angesichts der modernsten Waffentechnologie der NATO muss man jedoch sagen, dass diese Vorbereitungen nicht ausgereicht haben. Die elektronischen Geräte und Waffen der Selbstverteidigungskräfte in Afrin wurden gestört bzw. zerstört. Besondere Schwierigkeiten gab es auch durch den Einsatz von bewaffneten Drohnen. Ständig kreisten 60 Drohnen über Afrin – darunter große, bewaffnete Drohnen. Die Türkei nutzt alle modernen Waffen aus dem Arsenal der NATO.

Aufgrund dieser Situation und der Blockade der Wasser- und Stromversorgung der Stadt Afrin durch die türkische Armee hat die demokratische Selbstverwaltung entschieden, die Bevölkerung zu evakuieren und die Stadt zu räumen um weitere Opfer unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden. Nach 56 Tagen eines militärischen Frontenkriegs ist der Kampf in Afrin jetzt in die Phase eines Guerilla-Krieges übergegangen. So gibt es auch nach wie vor Regionen im Kanton Afrin zu denen die Türkei keinen Zugang hat und die unter der Kontrolle der kurdischen Selbstverteidigungskräfte stehen.

 

Mit der türkischen Armee ist auch der IS/Daesh nach Afrin gekommen. Die „Verbündeten“ der Türkei, die sog. „Freie Syrische Armee“ und weitere Milizen setzen sich zum großen Teil aus Söldnern des IS zusammen. Die Türkei und ihre faschistischen Verbündeten haben Afrin vollständig geplündert. Sie greifen Frauen an und haben junge Mädchen entführt und vergewaltigt. Die Bevölkerung ist zwar vorwiegend muslimisch, es gibt aber auch zahlreiche jezidische, christliche und alevitische Menschen in der Region. Diese werden gezwungen, zum Islam überzutreten. Die Taktik des türkischen Staates ist dieselbe wie in Shengal.

 

80% der Bevölkerung sind aus Afrin geflohen. Sie befinden sich derzeit in verschiedenen Flüchtlingslagern. Die Absicht der Türkei ist, die Demografie in Afrin vollständig umzukrempeln. Sie plant, dort bisher in der Türkei lebende arabisch-sunnitische Flüchtlinge aus Syrien anzusiedeln. Dies ist der strategische Plan der Türkei.

 

Ich betone nochmals, dass Afrin die Türkei zu keinem Zeitpunkt angegriffen hat. Es gab dort eine friedliche Selbstverwaltung der kurdischen Bevölkerung und aller anderen Bevölkerungsgruppen auf gleichberechtigter Grundlage, die der Türkei ein Dorn im Auge ist. Diese demokratische Selbstverwaltung will Erdogan vernichten. Deswegen spricht Erdogan bereits davon, auch nach Minbidsch, Kobanê und Quamislo vordringen zu wollen. Das ist uns bewusst und darauf bereiten wir uns vor.

 

Alle Imperialisten und die regionalen Mächte haben sich hinter die Türkei gestellt. Russland hat „grünes Licht“ gegeben. Die USA und Europa haben „beobachtet“ und ihre „Besorgnis“ zum Ausdruck gebracht, aber gleichzeitig gesagt, sie verstünden die Bedenken der Türkei und hätten Verständnis für deren Sicherheitsinteressen. Einzig und allein Frankreich und die Arabische Liga haben deutlichere Kritik geübt.

 

Im Kampf gegen den IS/Daesh speziell in Kobanê gab es eine militärische Kooperation mit den USA, insbesondere durch deren Luftunterstützung, gegen den selben Feind. Es gab aber keine politische oder ideologische Zusammenarbeit. Wir rücken niemals von unseren Positionen als antiimperialistische Bewegung ab.

In Kobanê gab es einen Kampf auf Leben und Tod. Wir hatten und haben einen sehr gefährlichen Feind und nutzten, um ihn zu bekämpfen, alle taktischen und militärischen Möglichkeiten. Ich erinnere an die Zusammenarbeit zwischen Stalin und Roosevelt gegen den Hitler-Faschismus. In diesem Sinn muss man unsere Taktik einer militärischen Allianz verstehen. Wir werden jedoch von unserer Vision und unseren Prinzipien nicht abrücken. Grundsätzlich können, werden und müssen wir mit jedem sprechen, der dazu bereit ist. Wenn wir zu einer Einheit finden, können wir zusammenarbeiten, aber wir würden niemals Verbindungen eingehen, in denen wir unsere Identität verleugnen müssten. Wir hoffen daher, dass auch andere Kräfte unsere taktischen Entscheidungen verstehen. Ich weiß, dass ihr uns versteht, aber andere sozialistische Linke müssen uns auch verstehen lernen.

 

Wenn Trump jetzt ankündigt, die amerikanischen Truppen würden Syrien verlassen, würde damit die Lufthoheit an die Türkei und Russland übergeben. Das kann auch für uns eine sehr schwierige Situation ergeben. Wir versuchen daher in diplomatischen Verhandlungen zu erreichen, dass in der Region eine Flugverbotszone errichtet wird. Derzeit hält sich auch eine Delegation aus Rojava in Frankreich zu Beratungen mit der französischen Regierung auf.

 

Wir müssen auch sehen, dass durch den türkischen Angriff auf Afrin Kräfte vom Kampf gegen den IS/Daesh abgezogen werden mussten. Der IS/Daesh konnte sich deshalb teilweise reorganisieren und wieder Gebiete in Rojava angreifen. Wir sagen deutlich: Der türkische Angriff auf Afrin hat dem IS/Daesh eine Atempause verschafft.

 

Wir wissen nicht, was in naher Zukunft genau passieren wird. Unser Hauptaugenmerk liegt daher auf der Stärkung unserer eigenen Kräfte. Wir wissen, dass wir weder Trump noch sonstigen Imperialisten trauen können, aber wir müssen alle Möglichkeiten im Kampf gegen den IS ausnutzen.

 

Rojava bedeutet eine neue Erfahrung in politischer, sozialer oder ökologischer Hinsicht, insbesondere, was die völlige Gleichberechtigung der Frauen angeht. Daher muss dieses neue Paradigma in Rojava unbedingt geschützt und erhalten werden. Wie es immer wieder berichtet wird, gibt es in der kurdischen Selbstverwaltung keine Unterscheidung von Männern und Frauen. Das Ziel ist es, die Demokratie und Freiheit in Rojava zu verteidigen.

 

Der Widerstand in Afrin gibt vielen Völkern Hoffnung. Wir spüren, dass Rojava die Unterstützung der Völker, der demokratischen und fortschrittlichen Kräfte überall auf der Welt hat. Diese Unterstützung soll erhalten und ausgebaut, und das Bewusstsein über die Bedeutung der Revolution in Rojava erhöht werden. Der Widerstand der Völker wird den Druck auf die Regierungen, insbesondere die europäischen Regierungen, weiter verstärken.

 

Der kurdische Kampf findet aber nicht nur in Rojava statt, sondern auch in Nordkurdistan (Türkei). Die Türkei greift auch in Südkurdistan (Irak) an. Überall wird an diesen Fronten Widerstand geleistet. Erdogan ist mit den faschistischen Kräften in der Türkei eine Allianz eingegangen. Der „Ausnahmezustand“ in der Türkei ist in Wirklichkeit ein Staatsstreich Erdogans. Wir sehen hier Parallelen zu Hitler, der auch durch Wahlen an die Macht kam. Es ist Tatsache, dass jeder, der Erdogan kritisiert, angegriffen und verfolgt wird.

 

Europas Beziehungen zur Türkei sind v.a. durch den Flüchtlingsdeal geprägt. Dadurch werden die Europäer ruhig gestellt.

 

Vor drei Jahren hatten wir in der Türkei einen Friedensprozess. Dieser wurde durch Erdogan gestoppt. Vor drei Jahren wurden am Tag nach dem Geburtstag Öcalans die Verhandlungen mit der kurdischen Seite über eine friedliche Lösung durch die Türkei abgebrochen. Seitdem besteht auch kein Kontakt mehr zur Abdullah Öcalan. 2016 konnte sein Bruder ihn noch für 30 Minuten besuchen. Seitdem gibt es überhaupt keinen Kontakt mehr und es herrscht vollständige Isolation.

 

Wir verstehen uns als alternative Kraft gegen die kapitalistische Moderne. Diese alternative Bewegung ist antikapitalistisch und antiimperialistisch. Dies zeigt sich besonders am Beispiel des Kampfes in Syrien gegen das diktatorische Baath-Regime unter Assad. Die Türkei und Europa haben die sunnitisch-islamistische Opposition unterstützt. Mit beiden Seiten konnten die KurdenInnen nicht zusammenarbeiten, da die KurdInnen nichts mit ihnen gemeinsam haben. Die Kurden in Rojava haben daher den – bezogen auf diese beiden Alternativen - „dritten“ Weg der Revolution in Rojava gewählt.

 

Jetzt haben wir eine kritische Situation für das Modell einer neuen Gesellschaft in Rojava. Momentan müssen sich alle Anstrengungen darauf konzentrieren, die Bevölkerung zu schützen und das Modell Rojava zu verteidigen. Rojava ist massiven Angriffen auf Afrin durch die Türkei und die NATO ausgesetzt.

 

Bei den KurdInnen geht es nicht nur um die Region, das soll auch als internationalistische Arbeit angesehen werden. Es gibt bestimmt eine Menge Projekte, die wir auch in Zukunft zusammen machen können im Geist des Internationalismus. Die Feinde arbeiten zusammen, wir als Freunde sollten auch international zusammenarbeiten. Wir legen großen Wert darauf, dass wir mit allen, die gegen das System kämpfen, strategisch zusammenarbeiten. Wir sind große Verfechter des Internationalismus!

 

Rojava kann ein Platz des Zusammenlebens, der Demokratie und des Internationalismus werden. Rojava kann ein freies Gebiet der Völker, Arbeiter und Revolutionäre werden.

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