Zum vierten Jahrestag der Oktoberrevolution
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Der vierte Jahrestag des 25. Oktober (7. November) rückt heran. Je weiter wir uns von diesem großen Tag entfernen, desto klarer wird die Bedeutung der proletarischen Revolution in Rußland, desto tiefer dringen wir auch in den Sinn der praktischen Erfahrung unserer Arbeit als Ganzes ein.
Im kürzesten — und natürlich durchaus unvollständigen und ungenauen — Abriß könnte man diese Bedeutung und diese Erfahrung folgendermaßen darlegen: Die unmittelbare und nächste Aufgabe der Revolution in Rußland war die bürgerlich-demokratische Aufgabe, die Reste des Mittelalters zu beseitigen, sie bis zum letzten Stein wegzuräumen, Rußland von dieser Barbarei, von dieser Schmach, von diesem größten Bremsklotz jeder Kultur und jedes Fortschritts in unserem Lande zu säubern.
Und wir können mit Recht darauf stolz sein, daß wir diese Säuberung viel entschiedener, rascher, kühner, erfolgreicher, viel umfassender und tiefgreifender vom Standpunkt der Einwirkung auf die Masse des Volkes, auf seine breite Masse, durchgeführt haben als die Große Französische Revolution vor mehr als 125 Jahren.
Sowohl die Anarchisten als auch die kleinbürgerlichen Demokraten (d.h. die Menschewiki und Sozialrevolutionäre als die russischen Vertreter dieses internationalen sozialen Typs) redeten und reden unglaublich viel wirres Zeug über das Verhältnis der bürgerlich-demokratischen zur sozialistischen (das heißt proletarischen) Revolution. Daß wir den Marxismus in diesem Punkt richtig auffassen, daß wir die Erfahrungen der früheren Revolutionen richtig auswerten, das hat sich im Laufe von vier Jahren voll und ganz bestätigt. Wir haben die bürgerlich-demokratische Revolution zu Ende geführt wie niemand sonst. Wir marschieren ganz bewußt, sicher und unbeirrt vorwärts, zur sozialistischen Revolution, in dem Bewußtsein, daß sie nicht durch eine chinesische Mauer von der bürgerlich-demokratischen Revolution getrennt ist, in dem Bewußtsein, daß nur der Kampf darüber entscheiden wird, wie weit es uns (letztlich) gelingen wird, vorwärts zu kommen, welchen Teil der unermeßlich hohen Aufgabe wir erfüllen, welchen Teil unserer Siege wir uns auf die Dauer sichern werden.
Die Zeit wird's lehren. Aber wir sehen auch gegenwärtig schon, daß beim Werk der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft — für ein verwüstetes, zerquältes, rückständiges Land — gigantisch viel geleistet worden ist.
Führen wir jedoch die Gedanken über den bürgerlich-demokratischen Inhalt unserer Revolution zu Ende. Für Marxisten muß es klar sein, was das bedeutet. Nehmen wir zur Erläuterung anschauliche Beispiele.
Bürgerlich-demokratischer Inhalt der Revolution, das heißt — Säuberung der sozialen Verhältnisse (der Zustände, der Einrichtungen) des Landes vom Mittelalterlichen, von der Leibeigenschaft, vom Feudalismus.
Welches waren die hauptsächlichen Erscheinungen, Überbleibsel, Reste der Leibeigenschaft in Rußland im Jahre 1917? Monarchie, Ständewesen, Grundbesitz und Bodennutzung, Lage der Frau, Religion, Unterdrückung der Nationalitäten. Man nehme einen beliebigen von diesen „Augiasställen" — die, beiläufig gesagt, von sämtlichen fortgeschrittenen Staaten bei der Durchführung ihrer bürgerlich-demokratischen Revolutionen vor 125, 250 und mehr Jahren (1649 in England) in recht erheblichem Maße ungesäubert gelassen wurden —, man nehme einen beliebigen von diesen Augiasställen, und man wird sehen, daß wir sie gründlich gesäubert haben. In nur zehn Wochen, angefangen mit dem 25. Oktober (7. November) 1917 und bis zur Auseinanderjagung der Konstituante (5. Januar 1918), haben wir auf diesem Gebiet tausendmal mehr geleistet, als die bürgerlichen Demokraten und Liberalen (die Kadetten) und die kleinbürgerlichen Demokraten (die Menschewiki und Sozialrevolutionäre) in acht Monaten ihrer Herrschaft geleistet haben.
Diese Feiglinge, Schwätzer, selbstgefälligen Narzisse und Hamlets fuchtelten mit dem Pappschwert — und vernichteten nicht einmal die Monarchie! Wir haben den ganzen monarchistischen Unrat hinweggefegt, wie das noch niemand jemals getan hat. Wir haben keinen Stein auf dem andern, keinen Ziegel auf dem andern gelassen von dem jahrhundertealten Bau des Ständewesens (die fortgeschrittensten Länder, wie England, Frankreich und Deutschland, haben sich bis heute noch nicht frei gemacht von den Sporen des Ständewesens!). Die tiefsten Wurzeln des Ständewesens, nämlich die Überreste des Feudalismus und der Leibeigenschaft im Grundbesitz, haben wir radikal ausgerissen. „Man kann darüber streiten“ (es gibt im Ausland genug Literaten, Kadetten, Menschewiki und Sozialrevolutionäre, um sich mit derlei Streitereien zu befassen), was bei den Agrarumgestaltungen der Großen Oktoberrevolution „letzten Endes" herauskommen wird. Wir tragen jetzt kein Verlangen danach, mit diesen Streitereien Zeit zu verlieren, denn wir entscheiden diesen Streit und die ganze Masse der davon abhängigen Streitfragen durch Kampf. Nicht zu bestreiten ist jedoch die Tatsache, daß die kleinbürgerlichen Demokraten acht Monate lang mit den Gutsbesitzern, den Hütern der Leibeigenschaftstraditionen, „paktiert" haben, während wir in einigen Wochen sowohl diese Gutsbesitzer als auch alle ihre Traditionen restlos vom Antlitz der russischen Erde hinweggefegt haben.
Man nehme die Religion oder die Rechtlosigkeit der Frau oder die Unterdrückung und Nichtgleichberechtigung der nichtrussischen Nationalitäten. All dies sind Fragen der bürgerlich-demokratischen Revolution. Die Banausen der kleinbürgerlichen Demokratie haben acht Monate lang darüber geschwätzt; es gibt unter den fortgeschrittensten Ländern der Welt kein einziges, wo diese Fragen in bürgerlich-demokratischer Richtung vollständig gelöst wären. Bei uns sind sie durch die Gesetzgebung der Oktoberrevolution vollständig gelöst Wir haben gegen die Religion wirklich gekämpft und tun es nach wie vor. Wir haben allen nichtrussischen Nationalitäten ihre eigenen Republiken oder autonomen Gebiete gegeben. Bei uns in Rußland gibt es keine solche Gemeinheit, Abscheulichkeit und Niederträchtigkeit wie die Rechtlosigkeit oder nicht volle Gleichberechtigung der Frau, dieses empörende Überbleibsel der Leibeigenschaft und des Mittelalters, das von der eigennützigen Bourgeoisie und dem stumpfsinnigen, eingeschüchterten Kleinbürgertum in ausnahmslos allen Ländern des Erdballs immer wieder aufgefrischt wird.
Dies alles ist Inhalt der bürgerlich-demokratischen Revolution. Vor anderthalb und zweieinhalb Jahrhunderten versprachen die fortgeschrittenen Führer dieser Revolution (dieser Revolutionen, wenn man von jeder nationalen Abart des einen allgemeinen Typus sprechen will) den Völkern, die Menschheit von den mittelalterlichen Privilegien, von der Nichtgleichberechtigung der Frau, von den staatlichen Vorrechten dieser oder jener Religion (oder der „Idee der Religion", der „Religiosität" überhaupt), von der Nichtgleichberechtigung der Nationalitäten zu befreien. Das Versprechen gaben sie, aber sie hielten es nicht. Sie konnten es nicht halten, weil der „Respekt" vor dem - - - „heiligen Privateigentum" sie daran hinderte. In unserer proletarischen Revolution hat es diesen verfluchten „Respekt" vor diesem dreifach verfluchten Mittelalter und vor diesem „heiligen Privateigentum" nicht gegeben.
Doch um die Errungenschaften der bürgerlich-demokratischen Revolution zum festen Besitz der Völker Rußlands zu machen, mußten wir weiter vormarschieren, und wir sind weiter vormarschiert. Wir haben die Fragen der bürgerlich-demokratischen Revolution während des Vorrückens, im Vorbeigehen, als „Nebenprodukt" unserer hauptsächlichen und eigentlichen, unserer proletarisch-revolutionären, sozialistischen Arbeit gelöst. Reformen, haben wir immer gesagt, sind ein Nebenprodukt des revolutionären Klassenkampfes. Die bürgerlich-demokratischen Umgestaltungen — haben wir gesagt und haben wir durch Taten bewiesen — sind ein Nebenprodukt der proletarischen, das heißt der sozialistischen Revolution. Nebenbei bemerkt, alle die Kautsky, Hilferding, Martow, Tscher- now, Hillquit, Longuet, MacDonald, Turati und sonstigen Helden des „zweieinhalbten" Marxismus vermochten nicht, ein solches Wechselverhältnis zwischen der bürgerlich-demokratischen und der proletarisch-sozialistischen Revolution zu verstehen. Die erste wächst in die zweite hinüber. Die zweite löst im Vorbeigehen die Fragen der ersten. Die zweite verankert das Werk der ersten. Der Kampf und nur der Kampf entscheidet, wie weit es der zweiten gelingt, über die erste hinauszuwachsen.
Die Sowjetordnung ist gerade eine der anschaulichen Bestätigungen oder Erscheinungen dieses Hinüberwachsens der einen Revolution in die andere. Die Sowjetordnung ist das Höchstmaß an Demokratismus für die Arbeiter und Bauern, und zugleich bedeutet sie den Bruch mit dem bürgerlichen Demokratismus und die Entstehung eines neuen, weltgeschichtlichen Typus der Demokratie, nämlich: des proletarischen Demokratismus oder der Diktatur des Proletariats.
Mögen uns die Hunde und Schweine der sterbenden Bourgeoisie und der hinter ihr einhertrottenden kleinbürgerlichen Demokratie mit einem Schwall von Flüchen, Beschimpfungen und Verhöhnungen wegen unserer Mißerfolge und Fehler beim Aufbau unserer Sowjetordnung überschütten.
Wir vergessen keinen Augenblick, daß bei uns wirklich viele Mißerfolge vorgekommen sind und Fehler gemacht werden. Als ob es bei einem so neuen, für die ganze Weltgeschichte neuen Werk wie der Schaffung eines noch nie dagewesenen Typus der Staatsordnung ohne Mißerfolge und Fehler abgehen könnte! Wir werden unbeirrt kämpfen für die Korrektur unserer Mißerfolge und Fehler, für die Verbesserung der von Vollkommenheit sehr, sehr weit entfernten Art und Weise, in der wir die Sowjetprinzipien auf das Leben anwenden. Aber wir können mit Recht stolz darauf sein und sind stolz darauf, daß uns das Glück zuteil geworden ist, den Aufbau des Sowjetstaates zu beginnen und damit eine neue Epoche der Weltgeschichte einzuleiten, die Epoche der Herrschaft der neuen Klasse, die in allen kapitalistischen Ländern unterdrückt ist und die überall zu neuem Leben, zum Sieg über die Bourgeoisie, zur Diktatur des Proletariats, zur Erlösung der Menschheit vom Joch des Kapitals, von den imperialistischen Kriegen vorwärtsschreitet.
Die Frage der imperialistischen Kriege, jener heute in der ganzen Welt vorherrschenden internationalen Politik des Finanzkapitals, die unvermeidlich neue imperialistische Kriege erzeugt, unvermeidlich eine unerhörte Verstärkung der nationalen Unterdrückung, der Plünderung, Ausraubung, Erdrosselung der schwachen, rückständigen, kleinen Völkerschaften durch eine Handvoll „fortgeschrittener" Mächte mit sich bringt - diese Frage ist seit 1914 zum Eckstein der gesamten Politik aller Länder des Erdballs geworden. Es ist das für Millionen und aber Millionen Menschen eine Frage von Leben und Tod. Es ist das die Frage, ob im nächsten imperialistischen Krieg, der vor unseren Augen von der Bourgeoisie vorbereitet wird, der vor unseren Augen aus dem Kapitalismus hervorgeht, 20 Millionen Menschen niedergemetzelt werden sollen (statt der 10 Millionen Gefallenen des Krieges 1914-1918 nebst den ihn ergänzenden, auch heute noch nicht beendeten „kleinen" Kriegen), ob in diesem (bei Weiterbestehen des Kapitalismus) unvermeidlichen kommenden Krieg 60 Millionen verkrüppelt werden sollen (statt der 30 Millionen Verkrüppelter in den Jahren 1914-1918). Auch in dieser Frage hat unsere Oktoberrevolution eine neue Epoche der Weltgeschichte eröffnet. Die Lakaien der Bourgeoisie und ihre Handlanger in Gestalt der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, in Gestalt der ganzen angeblich „sozialistischen" kleinbürgerlichen Demokratie der ganzen Welt haben die Losung „Umwandlung des imperialistischen [36] Krieges in den Bürgerkrieg" verhöhnt. Aber diese Losung hat sich als einzige Wahrheit erwiesen - als eine unangenehme, grobe, nackte, grausame Wahrheit, gewiß, aber als "Wahrheit inmitten eines Wusts raffiniertester, chauvinistischer und pazifistischer Lügen. Diese Lügen brechen zusammen. Der Brester Frieden ist entlarvt. Mit jedem Tag werden immer schonungsloser Bedeutung und Folgen des im Vergleich zum Brester Frieden noch schlimmeren Versailler Friedens entlarvt. Und immer klarer, immer deutlicher, immer unabweisbarer ersteht vor Millionen und aber Millionen Menschen, die über die Ursachen des gestrigen Krieges und über den heraufziehenden Krieg von morgen nachdenken, die harte Wahrheit: Man kann dem imperialistischen Krieg und der ihn unvermeidlich erzeugenden imperialistischen Welt (dem imperialistischen Frieden - füge ich hinzu, in des russischen Wortes zweiter Bedeutung) nicht anders entrinnen, man kann dieser Hölle nicht anders entrinnen als durch den bolschewistischen Kampf und durch die bolschewistische Revolution.
Mögen die Bourgeoisie und die Pazifisten, die Generale und die Spießbürger, die Kapitalisten und die Philister, alle gläubigen Christen und alle Ritter der II. und der zweieinhalbten Internationale diese Revolution noch so wütend beschimpfen - auch mit Strömen von Bosheit, Verleumdung und Lüge werden sie an der weltgeschichtlichen Tatsache nichts ändern können, daß zum erstenmal in Jahrhunderten und Jahrtausenden die Sklaven den Krieg zwischen den Sklavenhaltern mit der offenen Verkündung der Losung beantwortet haben: Laßt uns diesen zwischen den Sklavenhaltern um die Teilung ihrer Beute geführten Krieg umwandeln in den Krieg der Sklaven aller Nationen gegen die Sklavenhalter aller Nationen!
Zum erstenmal in Jahrhunderten und Jahrtausenden ist diese Losung aus einer dumpfen und ohnmächtigen Erwartung zu einem klar ausgeprägten politischen Programm geworden, hat sie sich gewandelt zum wirksamen Kampf von Millionen Unterdrückter unter der Führung des Proletariats, zum ersten Sieg des Proletariats, zum ersten Sieg auf dem Wege der Abschaffung der Kriege, zum ersten Sieg des Bündnisses der Arbeiter aller Länder über das Bündnis der Bourgeoisie der verschiedenen Nationen, dieser Bourgeoisie, die Frieden schließt und Krieg führt auf Kosten der Sklaven des Kapitals, auf Kosten der Lohnarbeiter, auf Kosten der Bauern, auf Kosten der Werktätigen.
Dieser erste Sieg ist noch nicht der endgültige Sieg, und unsere [37] Oktoberrevolution hat ihn nur unter beispiellosen Mühsalen und Schwierigkeiten, unter unerhörten Qualen, begleitet von größten Mißerfolgen und Fehlern unserseits davongetragen. Als ob es ohne Mißerfolge und ohne Fehler einem einzigen rückständigen Volk gelingen könnte, die imperialistischen Kriege der mächtigsten und fortgeschrittensten Länder des Erdballs zu überwinden! Wir fürchten uns nicht, unsere Fehler zuzugeben, und wir werden sie nüchtern beurteilen, damit wir lernen, sie zu korrigieren. Aber Tatsache bleibt Tatsache: Zum erstenmal in Jahrhunderten und Jahrtausenden ist das Versprechen, den Krieg zwischen den Sklavenhaltern mit der Revolution der Sklaven gegen samt und sonders alle Sklavenhalter zu „beantworten", restlos erfüllt worden --- und wird allen Schwierigkeiten zum Trotz erfüllt.
Wir haben dieses Werk begonnen. Wann, in welcher Frist, die Proletarier welcher Nation dieses Werk zu Ende führen werden, das ist unwesentlich. Wesentlich ist, daß das Eis gebrochen, daß die Bahn frei gemacht, daß der Weg gewiesen ist.
Fahrt fort mit eurer Heuchelei, ihr Herren Kapitalisten aller Länder, die ihr „das Vaterland verteidigt" - das japanische gegen das amerikanische, das amerikanische gegen das japanische, das französische gegen das englische und so weiter! Fahrt fort, euch die Frage nach den Kampfmitteln gegen die imperialistischen Kriege durch neue „Basler Manifeste"
(nach dem Muster des Basler Manifests von 1912[10]) „vom Halse zu schaffen", ihr Herren Ritter der II. und zweieinhalbten Internationale mitsamt allen pazifistischen Spießern und Philistern der ganzen Welt! Die erste bolschewistische Revolution hat die ersten hundert Millionen Menschen auf der Erde dem imperialistischen Krieg, der imperialistischen Welt entrissen. Die folgenden Revolutionen werden die ganze Menschheit diesen Kriegen und dieser Welt entreißen.
Unser letztes Werk - zugleich das wichtigste, schwierigste und unfertigste -. ist der wirtschaftliche Aufbau, die Errichtung des ökonomischen Fundaments für das neue, sozialistische Gebäude an Stelle des zerstörten feudalen und des halbzerstörten kapitalistischen Baus. Bei diesem wichtigsten und schwierigsten Werk hatten wir die meisten Mißerfolge, die meisten Fehler zu verzeichnen. Als ob man ein im Weltmaßstab so neues Werk ohne Mißerfolge und ohne Fehler beginnen könnte! Aber wir haben es begonnen. Wir bringen es voran. Wir sind gerade jetzt dabei, mit [38] unserer „Neuen ökonomischen Politik" eine ganze Reihe unserer Fehler zu korrigieren, wir lernen, wie man das sozialistische Gebäude in einem kleinbäuerlichen Land ohne diese Fehler weiterzubauen hat.
Die Schwierigkeiten sind unermeßlich. Wir sind gewohnt, mit unermeßlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Nicht ohne Grund haben unsere Feinde uns als „die Felsenfesten" und als die Vertreter einer „knochenbrecherischen Politik" bezeichnet. Aber wir haben auch, wenigstens bis zu einem bestimmten Grad, eine andere in der Revolution unerläßliche Kunst erlernt: die Elastizität, die Fähigkeit, unsere Taktik rasch und schroff zu ändern, die veränderten objektiven Bedingungen zu berücksichtigen, einen anderen Weg zu unserem Ziel zu wählen, wenn der frühere Weg sich für den gegebenen Zeitabschnitt als unzweckmäßig, als unmöglich erwiesen hat.
Wir, die wir von der Welle des Enthusiasmus getragen waren, die wir den Volksenthusiasmus - zunächst den allgemeinen politischen, sodann den militärischen - geweckt hatten, wir rechneten darauf, daß wir auf Grund dieses Enthusiasmus auch die ebenso großen (wie die allgemeinen politischen und die militärischen) ökonomischen Aufgaben unmittelbar lösen würden. Wir rechneten darauf - vielleicht wäre es richtiger zu sagen: Wir nahmen an, ohne genügend zu rechnen -, daß wir durch unmittelbare Befehle des proletarischen Staates die staatliche Produktion und die staatliche Verteilung der Güter in einem kleinbäuerlichen Land kommunistisch regeln könnten. Das Leben hat unseren Fehler gezeigt. Es bedarf einer Reihe von Übergangsstufen: Staatskapitalismus und Sozialismus, um den Übergang zum Kommunismus vorzubereiten, ihn durch die Arbeit einer langen Reihe von Jahren vorzubereiten. Nicht auf Grund des Enthusiasmus unmittelbar, sondern mit Hilfe des aus der großen Revolution geborenen Enthusiasmus, auf Grund des persönlichen Interesses, der persönlichen Interessiertheit, der wirtschaftlichen Rechnungsführung bemüht euch, zuerst feste Stege zu bauen, die in einem kleinbäuerlichen Land über den Staatskapitalismus zum Sozialismus führen; sonst werdet ihr nicht zum Kommunismus gelangen, sonst werdet ihr die Millionen und aber Millionen Menschen nicht zum Kommunismus führen. So hat es uns das Leben gelehrt. So hat es uns der objektive Entwicklungsgang der Revolution gelehrt.
Und wir, die wir in drei und vier Jahren ein wenig gelernt haben, schroffe Wendungen zu machen (wenn eine schroffe Wendung erforderlich [39] ist), haben nun eifrig, aufmerksam, ausdauernd (obwohl immer noch nicht genügend eifrig, nicht genügend aufmerksam, nicht genügend ausdauernd) begonnen, die neue Wendung, die „Neue ökonomische Politik" zu lernen. Der proletarische Staat muß ein umsichtiger, sorgsamer, sachkundiger „Unternehmer", ein tüchtiger Großkaufmann werden – sonst kann er das kleinbäuerliche Land nicht ökonomisch auf die Beine bringen, einen anderen Übergang zum Kommunismus gibt es heute, unter den gegebenen Bedingungen, neben dem kapitalistischen (einstweilen noch kapitalistischen) Westen nicht. Es scheint, als sei der Großkaufmann ein ökonomischer Typus, der vom Kommunismus so weit entfernt ist wie der Himmel von der Erde. Aber das ist gerade ein Widerspruch von solcher Art, der im lebendigen Leben von der bäuerlichen Kleinwirtschaft über den Staatskapitalismus zum Sozialismus führt. Persönliche Interessiertheit hebt die Produktion; was wir vor allem und um jeden Preis brauchen, ist die Steigerung der Produktion. Der Großhandel vereinigt die Millionen Kleinbauern ökonomisch, indem er sie interessiert, sie verbindet, sie zur nächsten Stufe hinführt: zu den verschiedenen Formen der Verbindung und Vereinigung in der Produktion selbst. Wir haben den notwendigen Umbau unserer ökonomischen Politik schon begonnen. Wir haben auf diesem Gebiet schon gewisse - allerdings nicht große, nur teilweise, aber unzweifelhafte Erfolge aufzuweisen. Wir beenden auf diesem Gebiet einer neuen „Wissenschaft" schon die Vorbereitungsklasse. Wenn wir zielstrebig und beharrlich lernen, jeden unserer Schritte an der praktischen Erfahrung überprüfen, uns nicht fürchten, Begonnenes mehrmals umzuarbeiten, unsere Fehler zu korrigieren, und uns dabei aufmerksam in ihre Bedeutung vertiefen, dann werden wir auch in die nächsten Klassen aufsteigen. Wir werden den ganzen „Lehrgang" durchlaufen, obwohl ihn die Umstände der Weltwirtschaft und der Weltpolitik weitaus langwieriger und schwieriger gemacht haben, als uns lieb war. Was es auch immer koste, wie schwer auch die Qualen der Übergangszeit, Leiden, Hunger und Zerrüttung, sein mögen, wir werden den Mut nicht sinken lassen und unser Werk zum siegreichen Ende führen.
W.I. Lenin; „Zum vierten Jahrestag der Oktoberrevolution“ „Prawda“ Nr. 234, 18. Oktober 1921. Lenin Werke Band 33, S. 31-39