Imperialismus heute
Der Imperialismus als gesellschaftliches Phänomen ist auch dem Gesetz der Veränderung unterworfen, und die Marxisten-Leninisten stehen heute vor der Herausforderung, anknüpfend an Lenins Studie des Imperialismus im frühen 20. Jahrhundert die konkrete Wirklichkeit des Imperialismus im 21. Jahrhundert hinsichtlich der qualitativen Veränderungen, die er erfahren hat, zu entwirren.
Der globalisierte Imperialismus einschließlich seiner jüngsten neoliberalen Entwicklung, die sich qualitativ von seiner kolonialen Phase unterscheidet, muss in die gesamte Zeitschiene der neokolonialen Phase des Imperialismus nach dem Krieg eingeordnet werden. Das verlangt, in den neokolonialen Akkumulationsprozess oder in die Bewegungsgesetze einzudringen, denen die Internationalisierung des monopolisierten Finanzkapitals unterliegt, einschließlich ihrer ideologischen, politischen, ökonomischen, militärischen und kulturellen Dimensionen.
Verglichen mit der relativ auf Nationalstaaten ausgerichteten Produktionsbasis der kolonialen Phase, haben sich vor allem die strukturellen Grundlagen des Imperialismus in der neokolonialen Phase grundlegend durch das verändert, was man Internationalisierung der Produktion nennt. Die Entstehung neuer Techniken unter den Nachkriegsverhältnissen bezogen auf Produktion und Verarbeitung, Transport, Information und Kommunikation hat es dem internationalen Kapital ermöglicht, die Produktion in mehrere Stufen zu zerlegen und die verschiedenen Stufen in entfernte Orte auf der Welt zu verlagern. Dies geschah durch eine neue internationale Arbeitsteilung, zu der Industriestandorte, Kontrolle und Organisation der Produktion gehören, die immer weniger von geographischen Entfernungen abhängig sind. Die Internationalisierung der Produktion hat es dem Imperialismus ermöglicht, mit einer ganzen Reihe von zusätzlichen Methoden bezüglich Arbeitskräften, Umwelt, Steuern, Investitionen, Handel und Gewinnrückführung das billigste Arbeitskräftepotenzial zu erschließen in Kombination mit einer bisher unbekannten Stufe der Ausplünderung der Natur in den neokolonialen Ländern.
Diese Internationalisierung der Produktion führte zu einer beispiellosen Überausbeutung der Arbeiterklasse sowohl in den „abhängigen“ als auch in den imperialistischen Ländern, indem sie die neokolonialen Länder allgemein auf der Basis billiger Arbeitskräfte in „Exportplattformen“ oder „exportorientierte“ Standorte umwandelte. Während dies zu einem unvergleichlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit in den imperialistischen Ländern führte, war das Ergebnis in den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas allgemein eine Deindustrialisierung und ein durch die Industrialisierung der Landwirtschaft erzwungenes Bauernlegen, Vertreibung und Migration in großem Umfang und ein Flüchtlingsstrom über Ländergrenzen hinweg, sowie Zunahme des Teils der Arbeiterklasse mit Gelegenheitsarbeit, unorganisierten oder „informellen“ Jobs als der elendsten sozialen Klasse auf der Erde von heute. Die Herabdrückung der Löhne weit unter den Wert der Arbeitskraft (oder unter den weltweiten Durchschnittslohn) ist weiterhin die prinzipielle Form zur Gewinnung des Mehrwerts aus den unterdrückten Ländern. Der sich daraus ergebende ständig steigende Profit der Multis und der Reichtum der Milliardäre der Welt und das relative Sinken der Löhne und des Lebensstandards der Arbeiter und der unterdrückten Massen überall sowie der Prozess der Gewinnung des Mehrwerts, selbst als die Weltwirtschaft in der Krise taumelt, müssen aus der Perspektive der marxistisch-leninistischen Werttheorie untersucht werden.
Die Internationalisierung der Produktion hat es sowohl den privaten als auch den staatseigenen Betrieben in den neokolonial abhängigen Ländern ermöglicht, über Ländergrenzen hinweg Partnerschaften und Joint Ventures mit Multis zu bilden und in die globalisierte Produktion einzutreten, wodurch man solche Länder auch als „Kapitalexporteure“ kennzeichnen kann. Doch eine tiefere Klassenanalyse wird ergeben, dass dieses mit dem „Kapitalexport“ zusammenhängende Rätsel nur auf der Ebene der „Form“ besteht, während das Wesen die Produktionsverhältnisse sind, die durch den Prozess der Wertgewinnung bestimmt sind. Heute kann das Finanzkapital aus den abhängigen Ländern sogar Mehrwert erbeuten, ohne auf den formalen Kapitalexport zurückzugreifen. Und in der Nachkriegszeit arbeitet das Kapital immer noch innerhalb der historischen Strukturen der imperialistischen Ordnung – mit Ausnahme der imperialistischen Umwandlung von Russland und China, zwei einstmalige sozialistische Länder. Trotz der größeren Verzahnung zwischen den imperialistischen Staaten und der herrschenden Kompradorenklasse aus den abhängigen Ländern sichern nach wie vor die UNO und ihr Sicherheitsrat, der IWF-Weltbank-Verbund, die WTO, verschiedene militärische Abkommen und so weiter, die immer noch von einer Handvoll führender imperialistischer Mächte kontrolliert werden, die imperialistische Vorherrschaft über den Planeten ab. Da sich jedoch der Imperialismus verändert, wäre es dogmatisch, die Möglichkeit der Herausbildung von neuen imperialistischen Ländern auszuschließen.
Im Gegensatz zur früheren Phase des Imperialismus, als die Finanzspekulation von der Produktivwirtschaft zehrte, floriert die Spekulationsblase heute unter dem Neoliberalismus auf einer stagnierenden und dem Untergang geweihten Wirtschaft, und zwar derart, dass das Fäulnis und der Parasitismus, die Lenin als Merkmale des Finanzkapitals bezeichnet hat, beginnen erschreckende Ausmaße anzunehmen. Die nicht-quantifizierbare und unüberschaubare Internationalisierung des finanziellen Überbaus, genannt „Finanzialisierung“, die sich durch ungehinderte Spekulation auf die eigene Expansion vorbereitet, wurde furchtbar zerstörerisch, und weil die Akkumulation von Wert hier zunehmend von seiner Schaffung getrennt ist, untergräbt diese die Grundlagen der kapitalistischen Warenproduktion selbst.
Die ihre äußersten Grenzen erreichende Internationalisierung des Finanzkapitals führt auch zu einer beispiellosen ökologischen Katastrophe. Wenn man die Dynamik der Klassenbeziehungen hinter dem herrschenden Entwicklungsmodell begreift, das der Umweltkrise zugrunde liegt, so ist die herausfordernde Aufgabe eine alternative, auf den Menschen ausgerichtete Entwicklung in Harmonie mit der Natur, mit Demokratie und Sozialismus.
Der Durchbruch der Digitalisierung im 21. Jahrhundert war ein Katalysator in der Internationalisierung des monopolisierten Finanzkapitals. „Digitale Produktionsverhältnisse“, die von informeller oder unorganisierter, unbezahlter, unterbezahlter, besonders ausgebeuteter „Sklaven“-Arbeit geprägt sind, liefert heute dem Finanzkapital ein unerschöpfliches und komplexes Netz von weltweiten, miteinander verbundenen Möglichkeiten der Ausbeutung und der Ausplünderung. Die Herausbildung eines transnationalen Cyberspace als Werkzeug der Privatisierung, Kommunikation und Koordination kann nicht nur den Wirtschaftsbereich umstrukturieren, sondern auch politische und kulturelle Systeme manipulieren. Die Digitalisierung hat für die Arbeiterklasse neue Herausforderungen geschaffen, da die traditionelle Herangehensweise an die Organisierung der Arbeiter in der „digitalen Ära“ weniger effektiv wird. Es genügt der Hinweis, dass die objektive Analyse der neuen Grenze der Digitalisierung aus einer marxistischen Perspektive für das Proletariat unverzichtbar ist.
Der Nachtrab seitens der Marxisten-Leninisten in der konkreten Bewertung des heutigen Imperialismus und das Abwürgen einer ideologisch-politischen Alternative gibt überall den postmodernen, entpolitisierenden und neofaschistischen Manövern durch den Imperialismus und seine Lakaien Spielraum.
[Konzentrierte Zusammenfassung der Abhandlung Imperialismus heute von P J James, CPI (ML) Red Star und veröffentlicht im Mai 2017]