Die Oktoberrevolution und die Frage der Mittelschichten
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Zweifellos ist die Frage der Mittelschichten eine der grundlegenden Fragen der Arbeiterrevolution. Mittelschichten - das sind die Bauernschaft und die schaffenden kleinen Leute der Stadt. Auch die unterdrückten Nationalitäten sind dazu zu rechnen, die zu neun Zehnteln aus Mittelschichten bestehen. Es sind also gerade die Schichten, die ökonomisch zwischen dem Proletariat und der Klasse der Kapitalisten stehen. Das Gewicht dieser Schichten wird durch zwei Umstände bestimmt: Erstens bilden diese Schichten die Mehrheit oder jedenfalls eine bedeutende Minderheit der Bevölkerung der bestehenden Staaten; zweitens sind das die bedeutsamen Reserven, aus denen die Kapitalistenklasse ihre Armee gegen das Proletariat rekrutiert. Das Proletariat kann ohne die Sympathie, ohne die Unterstützung der Mittelschichten und vor allem der Bauernschaft nicht die Macht behaupten, besonders in einem Lande, wie es unsere Union der Republiken ist. Das Proletariat kann von Machtergreifung nicht einmal ernstlich träumen, solange diese Schichten nicht zumindest neutralisiert sind, solange diese Schichten sich noch nicht von der Kapitalistenklasse gelöst haben, solange sie in ihrer Masse immer noch eine Armee des Kapitals bilden. Daher der Kampf um die Mittelschichten, der Kampf um die Bauernschaft, ein Kampf, der sich wie ein roter Faden durch unsere ganze Revolution von 1905 bis 1917 zieht, ein Kampf, der bei weitem noch nicht beendet ist und der auch noch in Zukunft geführt werden wird.
Die Revolution von 1848 in Frankreich hat unter anderem deshalb eine Niederlage erlitten, weil sie keinen zustimmenden Widerhall in der französischen Bauernschaft fand. Die Pariser Kommune ist unter anderem deshalb gescheitert, weil sie auf den Widerstand der Mittelschichten, vor allem der Bauernschaft, stieß. Dasselbe gilt für die russische Revolution von 1905.
Ausgehend von den Erfahrungen der europäischen Revolutionen, gelangten einige Vulgärmarxisten, mit Kautsky an der Spitze, zu der Schlußfolgerung, die Mittelschichten und vor allem die Bauernschaft seien schier geborene Feinde der Arbeiterrevolution, man müsse sich daher auf eine längere Entwicklungsperiode einrichten, in der das Proletariat zur Mehrheit der Nationen werde, wodurch dann die realen Vorbedingungen für den Sieg der Arbeiterrevolution geschaffen wären. Auf Grund dieser Schlußfolgerung warnten sie, diese Vulgärmarxisten, das Proletariat vor einer „verfrühten" Revolution. Auf Grund dieser Schlußfolgerung überließen sie aus „prinzipiellen Erwägungen" die Mittelschichten völlig dem Kapital. Auf Grund dieser Schlußfolgerung prophezeiten sie uns den Untergang der Oktoberrevolution in Rußland und beriefen sich darauf, daß das Proletariat in Rußland die Minderheit bilde, daß Rußland ein Bauernland sei und daß daher eine siegreiche Arbeiterrevolution in Rußland unmöglich sei.
Charakteristisch ist, daß Marx selber die Mittelschichten und vor allem die Bauernschaft ganz anders einschätzte. Während die Vulgärmarxisten von der Bauernschaft keine Notiz nehmen wollten und diese völlig der politischen Verfügungsgewalt des Kapitals überließen, sich dabei lärmend mit ihrer „prinzipiellen Konsequenz" brüsteten, riet Marx, dieser prinzipientreueste aller Marxisten, der Partei der Kommunisten eindringlich, die Bauernschaft nicht aus dem Auge zu verlieren, sie für das Proletariat zu gewinnen und sich ihrer Unterstützung in der kommenden proletarischen Revolution zu versichern. Bekanntlich schrieb Marx in den fünfziger Jahren, nach der Niederlage der Februarrevolution in Frankreich und Deutschland, an Engels und durch ihn an die kommunistische Partei in Deutschland:
„The whole thing in Germany" (Die ganze Sache in Deutschland) „wird abhängen von der Möglichkeit to back the Proletarian revolution by some second edition of the Peasants' war" (die proletarische Revolution durch eine Art zweiter Auflage des Bauernkrieges zu unterstützen).
Das wurde von dem Deutschland der fünfziger Jahre geschrieben, von einem Bauernland, wo das Proletariat eine unbedeutende Minderheit bildete, wo das Proletariat weniger organisiert war als in dem Rußland von 1917, wo die Bauernschaft ihrer Lage nach weniger zur Unterstützung der proletarischen Revolution neigte, als dies in dem Rußland von 1917 der Fall war.
Zweifellos bildete die Oktoberrevolution jene glückliche Verbindung von „Bauernkrieg" und „proletarischer Revolution", von der Marx allen „prinzipiellen" Schwätzern zum Trotz schrieb. Die Oktoberrevolution hat den Beweis erbracht, daß eine solche Verbindung möglich und realisierbar ist. Die Oktoberrevolution hat den Beweis erbracht, daß das Proletariat die Macht ergreifen und behaupten kann, wenn es versteht, die Mittelschichten und vor allem die Bauernschaft von der Kapitalistenklasse zu lösen, wenn es versteht, diese Schichten aus Reserven des Kapitals in Reserven des Proletariats zu verwandeln.
Kurzum: Die Oktoberrevolution hat als erste aller Revolutionen der Welt die Frage der Mittelschichten und vor allem der Bauernschaft in den Vordergrund gerückt und sie allen „Theorien" und allen Litaneien der Helden der II. Internationale zum Trotz siegreich gelöst.
Das ist das erste Verdienst der Oktoberrevolution, wenn man in diesem Fall überhaupt von Verdiensten reden kann.
Die Sache blieb aber nicht darauf beschränkt. Die Oktoberrevolution ging weiter, indem sie versuchte, die unterdrückten Nationalitäten um das Proletariat zusammenzuschließen. Schon oben war davon die Rede, daß die unterdrückten Nationalitäten zu neun Zehnteln aus Bauern und schaffenden kleinen Leuten der Stadt bestehen. Damit aber ist der Begriff „unterdrückte Nationalität" nicht erschöpft. Die unterdrückten Nationalitäten werden gewöhnlich nicht nur als Bauernschaft und als schaffende städtische Bevölkerung, sondern auch als Nationalitäten unterdrückt, das heißt als Werktätige einer bestimmten Nationalität, mit einer bestimmten Sprache, Kultur, mit bestimmten Lebensformen, Sitten und Gebräuchen. Die doppelte Schraube der Knechtung muß notwendigerweise die werktätigen Massen der unterdrückten Nationalitäten revolutionieren, muß sie zum Kampf gegen die Hauptkraft der Unterdrückung, zum Kampf gegen das Kapital treiben. Und das war die Grundlage, auf der es dem Proletariat gelungen ist, die „proletarische Revolution" nicht nur mit dem „Bauernkrieg", sondern auch mit dem „nationalen Krieg" zu verbinden. Das alles mußte notwendigerweise das Wirkungsfeld der proletarischen Revolution weit über die Grenzen Rußlands hinaus ausdehnen, mußte notwendigerweise die Reserven des Kapitals im tiefen Hinterland in Mitleidenschaft ziehen. Ist der Kampf um die Mittelschichten einer gegebenen herrschenden Nationalität ein Kampf um die nächsten Reserven des Kapitals, so mußte der Kampf für die Befreiung der unterdrückten Nationalitäten notwendigerweise zu einem Kampf für die Gewinnung der einzelnen, im tiefen Hinterland gelegenen Reserven des Kapitals werden, zu einem Kampf für die Befreiung der kolonialen und nicht vollberechtigten Völker vom Joch des Kapitals. Dieser letztere Kampf ist bei weitem noch nicht beendet, ja, er konnte noch nicht einmal die ersten entscheidenden Erfolge zeitigen. Doch hat dieser Kampf um die Reserven im tiefen Hinterland dank der Oktoberrevolution begonnen und wird sich zweifellos Schritt für Schritt fortentwickeln, in dem Maße wie sich der Imperialismus entwickelt, wie die Macht unserer Union der Republiken wächst und die proletarische Revolution im Westen sich entfaltet.
Kurzum: Die Oktoberrevolution war in der Tat der Auftakt zum Kampf des Proletariats um die im tiefen Hinterland gelegenen Reserven des Kapitals, um die Volksmassen der unterdrückten und nicht vollberechtigten Länder, sie hat als erste das Banner des Kampfes für die Gewinnung dieser Reserven erhoben - das ist ihr zweites Verdienst. Die Gewinnung der Bauernschaft ging bei uns unter der Fahne des Sozialismus vor sich. Die Bauernschaft, die den Boden aus den Händen des Proletariats empfing, die die Gutsherren mit Hilfe des Proletariats besiegte und unter der Führung des Proletariats zur Macht aufstieg, mußte unweigerlich fühlen, begreifen, daß der Prozeß ihrer Befreiung unter dem Banner des Proletariats, unter seinem roten Banner verlief und auch weiterhin verlaufen wird. Dank diesem Umstand mußte das Banner des Sozialismus, das früher für die Bauernschaft ein Schreckgespenst war, zu einem Banner werden, dem sie nunmehr Beachtung schenkt und das ihre Befreiung von Getretensein, Elend und Unterdrückung erleichtert.
Dasselbe trifft, jedoch in noch stärkerem Maße, für die unterdrückten Nationalitäten zu. Der Kampfruf zur Befreiung der Nationalitäten, ein Ruf, der von solchen Tatsachen bekräftigt wurde wie die Befreiung Finnlands, die Zurücknahme der Truppen aus Persien und China, die Bildung der Union der Republiken, die offene moralische Unterstützung der Völker der Türkei, Chinas, Hindostans, Ägyptens - dieser Ruf erschallte zum erstenmal aus dem Munde der Menschen, die in der Oktoberrevolution gesiegt hatten. Die Tatsache, daß Rußland, ehemals für die unterdrückten Nationalitäten ein Symbol der Unterdrückung, heute, nachdem es sozialistisch geworden ist, zum Symbol der Befreiung geworden ist, diese Tatsache kann man nicht als einen Zufall bezeichnen. Es ist auch kein Zufall, daß der Name des Führers der Oktoberrevolution, des Genossen Lenin, heute der geliebteste Name auf den Lippen der getretenen und niedergehaltenen Bauern und revolutionären Intellektuellen der kolonialen und nicht vollberechtigten Länder ist. Galt früher das Christentum bei den unterjochten und niedergehaltenen Sklaven des gewaltigen Römischen Reichs als Rettungsanker, so geht jetzt die Entwicklung dahin, daß der Sozialismus für die viele Millionen zählenden Massen der gewaltigen Kolonialstaaten des Imperialismus zum Banner der Befreiung werden kann (und bereits zu werden beginnt!). Es läßt sich wohl kaum bezweifeln, daß dieser Umstand es bedeutend erleichtert, die Vorurteile gegen den Sozialismus zu bekämpfen, und daß er den Ideen des Sozialismus den Weg in die entlegensten Winkel der unterdrückten Länder gebahnt hat. Konnte sich früher ein Sozialist nur schwer mit offenem Visier unter den nichtproletarischen, den Mittelschichten der unterdrückten oder der unterdrückenden Länder zeigen, so kann er jetzt unter diesen Schichten offen die Ideen des Sozialismus propagieren, in der Hoff- nung, daß man ihn anhören und seinen Worten auch wohl folgen werde, denn er verfügt über ein so starkes Argument wie die Oktoberrevolution. Das ist ebenfalls ein Ergebnis der Oktoberrevolution.
Kurzum: Die Oktoberrevolution hat den Ideen des Sozialismus den Weg zu den Mittelschichten, den nichtproletarischen, bäuerlichen Schichten aller Nationalitäten und Volksstämme gebahnt, sie hat das Banner des Sozialismus zu einem für sie populären Banner gemacht. Das ist das dritte Verdienst der Oktoberrevolution.
J. W. Stalin, „Die Oktoberrevolution und die Frage der Mittelschichten“ „Prawda" Nr. 253, 7. November 1923. Stalin, Werke Band 5, S. 299-304