Antwortbrief des ICOR Hauptkoordinators an die ICOR-Mitgliedsorganisation SMKC (Tschechien)
Antwortbrief des ICOR Hauptkoordinators an die ICOR-Mitgliedsorganisation SMKC (Tschechien)
Liebe Genossinnen und Genossen,
Ihr habt im März diesen Jahres aus „grundsätzlichen Erwägungen“ eine Unterstützung der vom CC der ICOR vorgeschlagenen ICOR-Resolution zur Stilllegung aller Atomkraftwerke abgelehnt. Das ist eine Minderheitsmeinung, die jedoch respektvoll diskutiert werden soll.
Inzwischen wurde vom ICC der ICOR mit dem Koordinierungskomitee der ILPS (International League of Peoples Struggle) die Durchführung einer einjährigen, internationalen Kampagne zur Stilllegung aller Atomkraftwerke vereinbart. In der Erarbeitung eines gemeinsamen Aufrufs haben wir in einer intensiven Diskussion auch noch einmal alle Argumente für und wider die Nutzung der Atomenergie zur Stromerzeugung beraten. Den Aufruf könnt ihr auf der Homepage der ICOR nachlesen.
Dennoch möchte ich noch einmal auf Eure wichtigsten Einwände eingehen:
1. Ist die zivile Nutzung der Kernenergie nur unter kapitalistischen Verhältnissen abzulehnen?
Ihr leugnet die Probleme bei der zivilen Nutzung der Kernenergie nicht, seht diese aber vor allem als Folge ihrer verantwortungslosen Handhabung der nur am Profit interessierten Energiemonopole und ihrer imperialistischen Regierungen, wenn z.B. in Japan auf erdbebengefährdetem Gebiet Atomkraftwerke errichtet wurden. Ihr vertretet die Auffassung, dass unter anderen gesellschaftlichen Voraussetzungen eine gefahrlose Nutzung der Kernenergie möglich und sinnvoll wäre und verweist dazu auf die Atompolitik der früheren Sowjetunion.
Euer Standpunkt wurde lange Zeit von großen Teile der revolutionären Bewegung geteilt. Die Vorstellung, gewaltige Mengen an Energie mit geringem Rohstoffeinsatz produzieren zu können, hat in den 1930iger bis 1950iger Jahren revolutionäre Politiker, aber auch fortschrittliche Physiker und Techniker auf der ganzen Welt fasziniert. Es gab aber bereits nach den Erfahrungen mit der Atomwaffenproduktion und den verheerenden Folgen der Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki auch warnende Stimmen, zum Beispiel von Albert Einstein, Robert Oppenheimer und anderen verantwortungsbewussten Wissenschaftlern. Und die Geschichte hat diese Warnungen mehr als bestätigt.
Während die USA die Entdeckung der Kernspaltung zunächst nur für die Herstellung von Kernwaffen nutzte, verfolgte die damals noch sozialistische Sowjetunion neben der dadurch erzwungenen atomaren Rüstung als erstes Land der Welt die Nutzung der Kernenergie für die Stromversorgung der Bevölkerung.
Am 27. Juni 1954 ging in Obninsk, rund hundert Kilometer südwestlich von Moskau, der weltweit erste Reaktor zur Stromproduktion ans Netz. Obwohl das zweifellos eine bewundernswerte technologische Leistung war und die Zielsetzung dem sozialistischen Aufbau dienen sollte, hat auch die damalige Sowjetunion die grundsätzlichen Probleme der Kernenergie nicht in den Griff bekommen.
Im Gegenteil: Am 29. September 1957 ereignete sich in Kyschtym eine schwere Atomkatastrophe. Ein 180-Kubikmeter-Container mit hoch radioaktivem Inhalt explodierte und setzte Radioaktivität in einer Menge und Gefährlichkeit von der Größenordnung der Tschernobyl-Katastrophe frei. Eine Fläche von 23.000 Quadratkilometern wurde verseucht. Über 270.000 Menschen mussten evakuiert und dauerhaft umgesiedelt werden, die Viehbestände wurden getötet und vergraben, der Boden, wo immer möglich umgepflügt. Weltweit wurde über – die bis heute anhaltenden Folgen – wenig bekannt.
Das hätte man noch unter der Kategorie mangelnder Erfahrungen behandeln können. Aber die seitherige Geschichte der Kernenergiegewinnung beweist unwiderlegbar, dass sie unter dem heute vorhandenen und absehbaren Stand von Wissenschaft und Technik nicht beherrschbar ist. Es ist die Verpflichtung jedes Revolutionärs, einmal gefasste Standpunkte auf der Grundlage neuerer Erfahrungen kritisch und selbstkritisch zu prüfen und daraus Konsequenzen zu ziehen.
-
Von radioaktiver Strahlung geht auch ohne katastrophale Unfälle eine ständige Gefahr aus
Es gibt auch in der Natur Radioaktivität – allerdings in sehr geringen Konzentrationen. Erst aus der künstlich erzeugten Kernspaltung entstehenden in großen Mengen Isotope, die in der Natur nicht vorkommen. Diese Isotope der chemischen Elemente sind radioaktiv aufgeladen, oder bereits von ihren Eigenschaften selbst in höchstem Maße giftig.
Es ist prinzipiell nicht möglich, die Prozesse der Kernspaltung absolut von der Außenwelt zu trennen, weil es immer einen Austausch mit der Umgebung geben muss.
Einmal in Luft Boden oder Wasser frei gesetzte radioaktive Teilchen verschwinden nicht einfach wieder – sie werden von den biologischen Organismen mit wertvollen Stoffen „verwechselt“, angereichert und gelangen so früher oder später immer wieder auch in die menschliche Nahrungskette. Dort sind sie die Ursache für schwere, manchmal erst Jahrzehnte später auftretende Erkrankungen – bis hin zu Schädigungen des Erbguts.
Die von der bürgerlichen Atompolitik festgesetzten Grenzwerte, bis wohin ein Mensch ohne Schaden zu nehmen, radioaktive Strahlung aufnehmen kann, sind vielfach willkürlich – ungefährliche Radioaktivität gibt es nicht. Das beweisen nicht zuletzt umfangreiche Untersuchungen, dass Kinder, die in der Umgebung von Atomkraftwerken leben, eindeutig gehäuft an Leukämie erkranken – obwohl die dortigen Grenzwerte fast immer unter den offiziellen Normen liegen.
Die Techniker und Arbeiter in den Atomkraftwerken sind unvermeidlich gesundheitsgefährdenden Belastungen ausgesetzt. Besonders betroffen sind die zu Wartungs- und Reinigungsarbeiten eingesetzten Arbeiter, fast immer junge Zeit- und Kontraktarbeiter, die sich z.B. sich in Frankreich selber „Neutronenfutter“ nennen.
Beim Uranbergbau bekommen die dort eingesetzten Bergleute extrem häufig Lungenkrebs, ganze Regionen werden durch den Raubbau verseucht.
-
Die Lagerung des atomaren Abfalls ist völlig ungeklärt
Bis heute – auch 60 Jahre nach der erstmaligen zivilen Nutzung der Kernenergie - gibt es nirgendwo auf der Welt ein auch nur annäherndes Modell, was mit den riesigen Mengen des giftigen Abfalls passieren soll, der noch nach 100.000 Jahren strahlen wird. Alle bisherigen Lagerstätten erwiesen sich bereits nach kurzer Zeit als völlig untauglich, wurden zu „tickenden Zeitbomben“ bei der Verseuchung von Flüssen und Grundwasser.
Kein den Menschheitsinteressen verpflichteter Revolutionär kann den Bau eines einzigen AKWs oder nur einen Tag längere Laufzeit eines AKWs befürworten, bevor dieses Problem für künftige Generationen tatsächlich gelöst ist – und dafür gibt es bislang keinerlei Aussicht.
4. Die Gefahr schwerer Unfälle steigt unaufhaltsam
Neben ihrem engen Zusammenhang zur atomaren Hochrüstung hat die zivile Nutzung der Kernenergie eine nie abgerissene Kette von schweren Unfällen und brisanten Störfällen hervorgebracht, die von den Betreibern systematisch vertuscht oder verleugnet wurden. Die größten Katastrophen ereigneten sich in Tree Mile Island in den USA 1979, in Tschernobyl in der Ukraine 1986 – und jetzt eben im März 2011 in Fukushima in Japan, deren Ausmaß und Folgen noch gar nicht abzusehen sind.
Schwere Unfälle und auch solche Katastrophen sind auch in Zukunft keineswegs auszuschließen – im Gegenteil: das Risiko wächst. Je länger ein AKW läuft, um so größer ist das Risiko von Schäden durch Materialermüdung, Korrosion usw.
Wie bei jeder von Menschen gehandhabten Technik, kann es Irrtümer und Fehler bereits beim Bau und im Betrieb eines AKW geben – aber hier haben solche Fehler unkontrollierbare Auswirkungen. Es kommt beispielsweise auch bei der Rohstofförderung und in der chemischen Industrie zu Unfällen, die ebenfalls schwere Auswirkungen haben können. Aber anders als bei einer Atomkatastrophe, können diese eher eingedämmt werden, bleiben ihre Folgen in der Regel lokal oder regional begrenzt.
5. Die Kernenergie trägt nicht zur Reduzierung des CO-2-Ausstoßes bei und ist extrem teuer
Selbst wenn ein Kernkraftwerk im laufenden Betrieb relativ weniger schädliche Klimagase ausstößt als ein Kohlekraftwerk – Bau, Transport, Urananreicherung und Abfalllagerung verbrauchen enorme Energiemengen, so dass die AKWs keinesfalls einen Beitrag zur Verringerung des Treibhauseffektes leisten können. Die mittlerweile sehr aufwändige Sicherheitstechnik macht den Bau und den Betrieb von AKWs zusätzlich extrem teuer. Sie ist ohnehin die teuerste Art der Energiegewinnung und für die internationalen Energiemonopole nur profitabel, weil sie wie keine andere Form der Energiegewinnung staatlich subventioniert wird.
6. Bau und technisches Know-how von Kernkraftwerken werden von wenigen internationalen Konzernen als Machtpositionen genutzt
Die friedliche Nutzung der Kernenergie wird in verschiedenen Ländern auch so begründet, dass damit die Abhängigkeit von imperialistischen Mächten umgangen und die nationale Souveränität gestärkt werden könne. So argumentiert die gegenwärtige tschechische Regierung damit, man wolle durch den weiter betriebenen Ausbau der Atomenergie die Abhängigkeit von Kohle-, Öl- und Gaslieferungen aus Russland ablösen.
Das ist Augenwischerei. Uranvorkommen gibt es nur in wenigen Ländern und Uranabbau und Urananreicherung werden von einigen wenigen imperialistischen Staaten und Konzernen dominiert. Zudem beherrscht eine Handvoll internationaler Konzerne die Atomtechnologie weltweit. Sie profitieren vom Bau und der Ausrüstung der AKWs und sind auch im laufenden Betrieb zu keinem Zeitpunkt bereit, ihre Kenntnisse aus der Hand zu geben.
In Brasilien und Argentinien ist es zum Beispiel die Tochter des deutschen Siemens-Konzerns KWU, die den AKW-Bau dort maßgeblich betreibt. Auch nach dem in Deutschland angekündigten Ausstieg aus der Atomenergie wird diese Politik von der Bundesregierung durch so genannte Hermeskredite gefördert.
Das durch seine Störanfälligkeit berüchtigte Atomkraftwerk im tschechischen Temelín (das sehr nahe an der deutschen und österreichischen Grenze liegt) wird in Kooperation mit dem russischen Atommonopol Rosatrom und dem us-amerikanischen Großkonzern Westinghouse gebaut und betrieben. Sie werden freiwillig ihr Know-how niemals vollständig abgeben.
7. Eine weltweite Energieversorgung aus umweltverträglichen Quellen ist in wenigen Jahren realisierbar
In der Ablehnung der ICOR-Resolution bezweifelt ihr, dass eine sichere Energieversorgung mit Hilfe alternativer, umweltverträglicher Energien möglich wäre und fürchtet, dass dann „halb Europa unter Wasser gesetzt oder mit Windmühlen bestückt“ werden müsste.
Wir sind mit euch der Meinung, dass die Alternative zu den Atomkraftwerken nicht im Ausbau von Kraftwerken mit fossiler Verbrennung aus Stein- oder Braunkohle, Gas oder Öl bestehen kann. Der imperialistische Raubbau an den weltweiten Kohle- und Gasvorkommen ist extrem umweltschädlich und wird in menschenverachtender Weise betrieben. Es gibt keinen Zweifel, dass der mit der fossilen Verbrennung verbundene CO-2-Ausstoß maßgeblich für den Treibhauseffekt und die begonnenen Klimakatastrophe verantwortlich ist und dringend und drastisch reduziert werden muss. Und das ist möglich!
Selbst seriöse bürgerliche Untersuchungen belegen, was Umweltschützer schon lange vertreten: Der gesamte Energiebedarf der Menschheit kann durch Wind, Wasser, Bioabfall und Sonne gedeckt werden. In einem „Plan für eine emissionsfreie Welt“ wies beispielsweise eine Studie der Stanford University nach, dass mit Windrädern, Wasserkraftwerken, Nutzung von Gezeitenströmungen, von Erdwärme sowie Sonnenenergie über Fotovoltaik oder Solarthermie eine vollständige Versorgung bis 2030 möglich ist. Dabei berücksichtigten sie nur heute bereits ausgereifte und großtechnisch erprobte Technologien. („Spektrum der Wissenschaft“ Dezember 2009)
Dort wird auch nachgewiesen, dass die Landbeanspruchung durch Windräder (erst recht, wenn sie im Meer gebaut werden) und Solartechnik minimal ist.
Selbstverständlich ist es richtig, gegen teilweise heute betriebene gigantische Staudammprojekte zu protestieren, weil sie selber große Umweltschäden anrichten. Die alternativen Energiequellen ermöglichen aber in ihrer Kombination mit dezentralen Speichermöglichkeiten eine umweltverträgliche und in hohem Maße auch regional kontrollierbare Energieversorgung. Von dem riesigen Einsparpotential gegenüber der heute betriebenen Verschwendung von Energien ist hier noch gar nicht die Rede.
Wir sind uns deshalb sicher, dass Eure Skepsis gegenüber den Möglichkeiten umweltverträglicher Energiegewinnung nicht gerechtfertigt ist.
8. Weltweit koordinierter Widerstand ist notwendig
Aber wir wissen auch, dass dies nicht ohne den aktiven Widerstand der Massen weltweit durchgesetzt werden kann. Dem soll auch unsere gemeinsame Kampagne mit dem ILPS dienen. Deshalb heißt es in der ICOR-Resolution vom 20.März 2011:
„Ungeachtet der unvorstellbaren Risiken planen die internationalen Energiemonopole ... bis 2030 ca 400 neue Kernkraftwerke... Nichts beweist deutlicher, dass die internationalen Monopole mit vollem Wissen bereit sind, für ihre Profite über Leichen zu gehen und dabei sogar die dauerhafte Zerstörung ganzer Regionen oder gar Kontinente der Erde in Kauf zu nehmen.
Dieser Politik muss durch einen weltweit koordinierten Widerstand das Handwerk gelegt werden. Konsequent muss die Frage aufgeworfen werden: Entweder der Imperialismus zerstört die Lebensgrundlagen der Menschheit durch eine weltweite Umweltkatastrophe oder der Kapitalismus wird besiegt und mit einem neuen Aufschwung im Kampf für den Sozialismus die Einheit von Mensch und Natur wieder hergestellt.“
Liebe Genossinnen und Genossen, wir sind gerne bereit, auch bei Euch Informations- und Diskussionsveranstaltungen mit sachkundigen Referenten anzubieten, wie sie in der Kampagne vorgesehen sind.
Ich freue ich mich über eine Rückmeldung und verbleibe mit herzlichen und solidarischen Grüßen!
Stefan Engel