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Dramatische atomare Katastrophe in Japan stellt das imperialistische Weltsystem in Frage

Rote Fahne Interview mit dem Vorsitzenden der MLPD, Stefan Engel, 31. März 2011

 

Rote Fahne: Am 11.3.2011 kam es zu einem der schlimmsten Erdbeben in der Geschichte Japans, verbunden mit einem Tsunami, der wahrscheinlich bisher schon über 27.000 Menschenleben gekostet, mehr als 400.000 Menschen obdachlos gemacht und unmittelbare materielle Schäden von schätzungsweise 220 Milliarden Euro verursacht hat. Damit verbunden ist die Auslösung einer dramatischen atomaren Umweltkatastrophe. Wie ist die Lage zu beurteilen?

Stefan Engel: Die MLPD erklärte in einer Grußadresse an die Demonstration in Tokio vom 20. März ihre tiefe Anteilnahme und uneingeschränkte Solidarität mit dem Kampf gegen die Atomindustrie und gegen die imperialistische Regierung Japans. Mit einer weltweiten Desinformationskampagne wird von den Herrschenden das eigentliche Problem dieser Katastrophe systematisch vertuscht: der drohende Super-GAU im Kernkraftwerk von Fukushima. Vier der sechs Reaktorblöcke sowie mindestens ein Abklingbecken mit radioaktiven Brennstäben sind nach wie vor außer Kontrolle und stark beschädigt. Immer mehr Fachleute gehen davon aus, dass die Kernschmelze zumindest in einem Reaktor begonnen hat und kaum mehr zu beherrschen ist. Aus zwei Reaktorblöcken treten sehr große Mengen radioaktiver Stoffe aus. Die Strahlung erreichte im unmittelbaren Umfeld des AKWs schon mehrmals den tausendfachen Wert der offiziell erträglichen Jahresdosis, vergiftete Luft und Boden, die Lebensmittel, das Meerwasser mit den Fischbeständen sowie inzwischen auch das Trinkwasser im 250 Kilometer entfernten Tokio. Selbst die verbrecherische Betreibergesellschaft Tepco - auf Platz 126 der 500 größten internationalen Übermonopole - hat das Kraftwerk inzwischen aufgegeben. Sie plant, es in einem gigantischen Sarkophag nach dem Muster von Tschernobyl für Jahrhunderte zu begraben. Die Konsequenzen für Millionen Menschen in Japan, für die Zukunft des Landes und die möglichen weltweiten Auswirkungen über Luft, Meer und die Nahrungsmittelkette werden erst in den nächsten Wochen und Monaten sichtbar werden.

Rote Fahne: Die Energiemonopole priesen bis vor wenigen Tagen die Atomenergie als sauberste und kostengünstigste Energie an.

Stefan Engel: Das ist angesichts von Harrisburg 1979, Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011 üble Heuchelei. Diese Katastrophe beweist unwiderruflich: Die Nutzung der Kernenergie ist nach heutigem Ermessen nicht beherrschbar, spekuliert menschenverachtend mit tödlichen Risiken für Millionen von Menschen und gehört zu den schlimmsten Umweltbedrohungen unserer Zeit. Wer angesichts dessen die Lebenslüge vom "kalkulierbaren Restrisiko" weiter verbreitet, der ist entweder naiv, dumm oder ein verbrecherischer Rosstäuscher. Der unmittelbare Auslöser der Katastrophe von Fukushima war der Stromausfall in Folge des Tsunami, so dass die notwendige Kühlung des Reaktors ausfiel. Es gibt viele denkbare Möglichkeiten, dass es zu einem solchen katastrophalen Stromausfall kommt. Gerne ausgeblendet wird in den deutschen Medienberichten zudem, dass auch drei deutsche AKWs auf erdbebengefährdetem Gebiet ohne entsprechenden Schutz stehen. Welche Sicherheit soll es denn gegen Flugzeugabstürze, Hochwasser und Terroranschläge geben? Die größte Gefahr droht von der Ermüdung des Materials, Korrosion der Rohre, Filter, Schweißnähte usw. aufgrund der verlängerten Laufzeiten, die in Deutschland ebenso wie in Japan mit einer Absenkung der Sicherheitsstandards verbunden waren. Zudem ist bisher nirgendwo in der Welt die Frage der Endlagerung des Atommülls geklärt. Es ist eines der verschärfenden Probleme in Fukushima, dass auf dem Gelände insgesamt 11.125 Brennelemente mit einem Gewicht von ungefähr 1.900 Tonnen end- bzw. zwischenlagern. Dieser hochradioaktive Abfall hat sich ebenfalls erhitzt. Besonders droht aus Reaktor 3 die Gefahr des Austritts von Plutonium. Plutonium ist nicht nur in Kleinstmengen hochgradig krebserregend, sondern könnte bei seiner Freisetzung in einer Halbwertszeit von 24.900 Jahren noch Jahrtausende die Erde verseuchen. Im schlimmsten Fall könnte die Katastrophe ganz Japan unbewohnbar machen.

Die Behauptung von der billigen Kernenergie wird natürlich nicht nach den üblichen Grundrechenarten belegt. Völlig verschwiegen wird, dass in Deutschland von 1950 bis 2010 bereits 204 Milliarden Euro staatliche Subventionen in die Kernenergie geflossen sind. Auch die ganze Frage der Endlagerung des Atommülls und seiner Transporte kostet jeweils die staatlichen Haushalte Unsummen. Billig ist die Kernenergie lediglich bezogen auf das enorme Potenzial an Maximalprofiten der Kraftwerksbetreiber, die natürlich um so größer sind, je länger ein solches Atomkraftwerk Strom produziert. Auch das Haftpflichtrisiko der Betreiber liegt bei einer lächerlichen Deckung von 0,005 Prozent der Folgekosten eines GAU's, den Rest trägt die Gesellschaft. Atomenergie ist also in Wahrheit nicht nur lebenszerstörend, sondern auch unbezahlbar.

Rote Fahne: Glauben die Leute der offiziellen Schönfärberei von Staat und Energiemonopolen?

Stefan Engel: In Deutschland sind die Monopole nach dieser Katastrophe in keiner Frage so von den breiten Massen isoliert wie in der Frage der Atomenergie. Schon im letzten Jahr beteiligten sich 400.000 Menschen an Protestaktionen gegen die auf Geheiß der Monopole beschlossene Laufzeitverlängerung der AKWs. Die Katastrophe in Japan beschleunigt diesen Prozess rasant. Schon unmittelbar danach kam es vom 12. bis 14. März in 450 Städten zu Anti-AKW-Protesten mit insgesamt 180.000 Menschen. Eine Woche später weitete sich die Protestbewegung auf 742 Städte mit über 250.000 Beteiligten aus! Am 26. März fanden vier regionale Demonstrationen mit 250.000 Beteiligten statt. Die Regierung ist vollständig in die Defensive geraten und versucht, mit ihrem Drei-Monats-Moratorium zu retten, was zu retten ist. Doch 68 Prozent der befragten Bevölkerung sehen in der zeitweiligen Abschaltung der alten AKW's ein reines Wahlkampfmanöver. Diese These wurde von Minister Brüderle auf einer BDI-Tagung ausdrücklich bestätigt! Dennoch stellt sich vielen die Frage, ob ein sofortiger Ausstieg aus der Atomenergie überhaupt möglich ist und welche Alternativen es gibt. Die deutsche Stromindustrie hat 40 Prozent Überkapazitäten aufgebaut und einen Stromexportüberschuss von knapp 5 Prozent. Bei 22,6 Prozent AKW-Stromkapazitätsanteil, der meist nur zur Hälfte genutzt wird, könnte in Deutschland sofort auf Atomkraft verzichtet werden, ohne dass auch nur eine Maschine oder Lampe ausgeht und erst recht, ohne dass neue umweltschädliche Kohle- und Gaskraftwerke gebaut werden müssten. Bereits in dem 2008 erschienenen Klimaschutzprogramm der MLPD wurde nachgewiesen, dass bereits bis 2020 im Strombereich 100 Prozent erneuerbare Energien erreichbar sind – wenn man nur will! Eine Untersuchung der Stanford University hat inzwischen den "Plan für eine emissionsfreie Welt bis 2030" wissenschaftlich fundiert. (Quelle: "Spektrum der Wissenschaft", Dezember 2009)

Aber auch die besten Argumente allein werden das Problem nicht lösen. Diese sind den Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik im Wesentlichen seit Jahrzehnten bekannt. Der einzige Grund, warum dennoch an der Atompolitik festgehalten wird, sind die Profitinteressen der internationalen Monopole und die Machtpolitik der Imperialisten. Ohne einen aktiven Widerstand der breiten Massen, der heute international organisiert werden muss, werden weder die vorhandenen Kernkraftwerke stillgelegt, noch wird verhindert werden, dass in den nächsten Jahren die weltweit 400 neu geplanten Kernkraftwerke gebaut werden. Die MLPD hat deshalb ihre taktische Hauptaufgabe für die nächsten drei Monate auf die Entwicklung dieses aktiven Widerstands verändert:
- Sofortige weltweite Stilllegung aller Atomanlagen auf Kosten der Betreiber!
- Sofortiger, uneingeschränkter Kurs auf 100 Prozent umweltschonende regenerative Energien!
- Aufbau einer internationalen Widerstandsfront gegen die globale Umweltkatastrophe!

Rote Fahne: Am 19. März begannen die USA, England und Frankreich und weitere Verbündete mit der Bombardierung Libyens. Sie behaupten, damit die Bevölkerung, die sich gegen Gaddafi erhoben hat, gegen dessen blutigen Staatsterror schützen zu wollen.

Stefan Engel: Das klingt vordergründig alles sehr fortschrittlich, muss aber von jedem selbstständig denkenden Menschen kritisch hinterfragt werden. Jahrzehnte haben die Imperialisten die reaktionären Machthaber in Nordafrika und in den arabischen Ländern des Nahen und Mittleren Osten hofiert und gestützt auf sie und ihre Unterdrückung des eigenen Volkes die Länder und die Erdölvorkommen schamlos ausgeplündert. Orkanartig verbreitete sich die revolutionäre Gärung in nahezu allen nordafrikanischen und arabischen Ländern. Keines der reaktionären Regimes in Nordafrika oder im Nahen und Mittleren Osten kann sich noch sicher fühlen. Der Mittelmeerraum und der Nahe und Mittlere Osten ist zum zentralen Brennpunkt der Widersprüche im imperialistischen Weltsystem geworden. Der Gärungsprozess, der sich noch auf der Stufe des Kampfs um demokratische Freiheiten und Rechte und des Kampfs zum Sturz der Regierungen bewegt, hat zwar noch keinen systemverändernden Charakter. Die innere Dynamik drängt jedoch mehr und mehr auf tatsächliche Gesellschaftsveränderung. Darin erscheint die objektive Tendenz zu einer revolutionären Weltkrise, wie wir sie zu Beginn der Weltwirtschafts- und Weltfinanzkrise vorhergesagt haben. Solange diese demokratischen Aufstandsbewegungen noch relativ wenig gesellschaftliche Perspektiven über den Kapitalismus hinaus haben, sind sie für die Imperialisten noch kein grundsätzliches Problem und relativ leicht steuerbar.

Etwas anders verhält es sich in Libyen. Zu den neokolonialen Statthaltern des Imperialismus gehört ohne Zweifel auch das Gaddafi-Regime, nachdem es seine Abkehr von früher durchaus antiimperialistischen Positionen vollzogen hatte. Der Verrat ging bis hin zur Auslieferung palästinensischer Freiheitskämpfer. Völlig unverständlich sind in diesem Zusammenhang Stellungnahmen aus dem revisionistischen Spektrum, die Gaddafi auch heute noch eine antiimperialistische Haltung zuschreiben. Die Proteste der rebellischen Massen in Libyen gegen das Regime, die sich ja bis zu einem bewaffneten Aufstand entwickelten, sind berechtigt und ihnen gehört unsere ganze Solidarität!

Auch Deutschland hat dieses Regime mit Industrieanlagen und Waffen ausgerüstet sowie die Folterschergen ausgebildet. Jetzt sollen "humanitäre Gründe" den Angriff rechtfertigen, der das Leid des Volkes noch vergrößert? Nicht um den "Schutz" der Aufständischen geht es den westlichen Imperialisten, sondern darum, die reaktionären Macht- und Ausbeutungsverhältnisse unter dem Diktat des Imperialismus aufrechtzuerhalten, darum, Libyen unter die direkte Kontrolle der NATO-Imperialisten zu stellen und dabei auch andere Großmächte, etwa China und Russland, zu verdrängen. Sie wollen die in Libyen kämpfenden Massen in Wirklichkeit zur Manövriermasse des imperialistischen Machtstrebens degradieren. Unter der Regie des Imperialismus gibt es keine Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung! Deshalb fordert die MLPD:
- Sofortige Einstellung aller militärischen imperialistischen Handlungen durch die sogenannte "Koalition der Willigen" in der NATO!
- Organisierung der praktischen Solidarität mit dem Befreiungskampf des libyschen Volkes gegen den reaktionären Machthaber Gaddafi!
- Gegen jede imperialistische Einmischung in die inneren Angelegenheiten Libyens!

Man darf dabei nicht die Gefahr übersehen, dass sich in Verbindung mit dem militärischen Angriff die Widersprüche zu Russland, China und den arabischen Ländern verschärfen. Diese Entwicklung bedeutet eine wachsende Kriegsgefahr! Sie ist auch der Hintergrund für die aufgebrochene Krise der NATO, die zunächst völlig uneinig agierte. Die Gier nach der Vormacht über Libyen hat den französischen Imperialismus vorpreschen lassen. Aufgrund der ökonomischen Interessen Deutschlands hat sich die Merkel/Westerwelle-Regierung bereits bei der Abstimmung der UNO-Resolution Nr. 1973 im Sicherheitsrat enthalten. Sie hat sich an den militärischen Angriffen nicht direkt und offen beteiligt. Das gilt ebenso für die Türkei, die sich grundsätzlich nicht militärisch gegen arabische Länder wenden wollte, um ihren wachsenden ökonomischen und politischen Einfluss in der Region nicht zu gefährden, davon aber aufgrund des massiven NATO-Drucks abrücken musste. Der Kampf um den Weltfrieden, die Solidarität mit den demokratischen Aufstandsbewegungen in den arabischen Ländern und der Kampf zum Schutz der natürlichen Umwelt stehen im Mittelpunkt des Kampfs gegen das imperialistische Weltsystem.

Rote Fahne: Man hat den Eindruck, dass den Herrschenden momentan relativ viel entgleitet.

Stefan Engel: Allerdings – Krisen über Krisen! Die allgemeine Krisenhaftigkeit ist mit der Neuorganisation der internationalen Produktion seit den 1990er Jahren zum allgemeinen Merkmal der imperialistischen Existenzweise geworden. Die nach wie vor anhaltende Weltwirtschafts- und Finanzkrise, das inzwischen abgebrochene und gescheiterte internationale Krisenmanagement der G20, die sich vertiefende Eurokrise, aber auch die konkret nicht vorhersehbare Atomkatastrophe in Japan haben diese allgemeine Krisenhaftigkeit drastisch verschärft und für jeden sichtbar gemacht. Mit der Reaktorkatastrophe in Fukushima ist eine Krise der verbrecherischen Atompolitik eingetreten mit weltweitem Charakter. Der beschleunigte Übergang der Umweltkrise zur Umweltkatastrophe geht ungebremst weiter. Die Weltwirtschafts- und Finanzkrise hat die Eurokrise ausgelöst und die Tendenz zum Staatsbankrott insbesondere von finanzschwachen und hochverschuldeten Ländern verschärft. Die Verschuldungskrise hat internationalen Charakter und betrifft nicht nur die neokolonial abhängigen Länder, sondern hat die meisten imperialistischen Länder in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt. Die Belebung der Weltwirtschaft in einigen Ländern geht einher mit einer internationalen Strukturkrise, wobei der Niedergang der herkömmlichen nationalen Industrien, insbesondere in den Investitionszentren der neokolonial abhängigen Länder, mit dem Neuaufbau internationaler Produktionsverbünde und Wirtschaftszonen unter dem Diktat internationaler Übermonopole verbunden ist. Die demokratische Aufstandsbewegung in Nordafrika stellt die Machtstruktur in Nordafrika und im Mittleren und Nahen Osten offen in Frage. Das verschärft den Kampf um die Neuaufteilung der Welt unter den Imperialisten, insbesondere zwischen den Machtblöcken der NATO und des Schanghaier Bündnisses. Es häufen sich Regierungswechsel wie in Portugal oder Regierungs- und Staatskrisen wie in Belgien. In Deutschland verschärft sich die latente politische Krise. Das imperialistische Weltsystem ist inzwischen auch ideologisch in eine Identitätskrise geraten. Die wachsende Unzufriedenheit ist eine weltweite Erscheinung, die Bindungskraft des imperialistischen Weltsystems lässt nach.

In dieser Situation ist es wichtig, dass wir nicht nur für die Stilllegung aller Atomanlagen streiten und die Einstellung aller militärischen Angriffe auf Libyen fordern. Wir müssen unsere konkreten Forderungen mit einer allseitigen Aufklärungsarbeit über die Untauglichkeit des imperialistischen Weltsystems und die Notwendigkeit einer sozialistischen Alternative verbinden. Gesellschaftliche Krisen sind letztlich eine Infragestellung des herrschenden Systems und nicht nur einzelner Bereiche von Politik und Gesellschaft.

Rote Fahne: Die Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland Pfalz und die Kommunalwahlen in Hessen standen im Zeichen der Atomkatastrophe in Japan. Täuscht der Eindruck, dass dadurch Bewegung in die politische Landschaft gekommen ist?

Stefan Engel: Unterm Strich haben die klassischen sozialen Stützen der Diktatur der Monopole – CDU, SPD und FDP – erheblich an Stimmen eingebüßt. In Baden-Württemberg wurde die CDU sogar erstmals seit 58 Jahren von der Regierung verdrängt. Der Niedergang der FDP hat sie in eine offene Parteienkrise gestürzt. Die Grünen konnten von ihrem Nimbus als "Anti-AKW-Partei" erheblich profitieren und verdoppelten (Rheinland-Pfalz) bzw. verdreifachten (Baden-Württemberg) ihre Wahlergebnisse im Vergleich zu den letzten Landtagswahlen; in Hessen erhielten sie ihr bisher bestes Kommunalwahlergebnis in einem Flächenland. Erstmals war bei den Landtagswahlen die Atom- und Umweltpolitik das ausschlaggebende Kriterium für die Wahlentscheidung, was die Wahlbeteiligung ansteigen ließ. Das kennzeichnet das erheblich gewachsene Umweltbewusstsein und ausgehend davon eine verstärkte Politisierung der Massen. Der Linkstrend hat sich weiterentwickelt und zugleich stärker auf ökologische Fragen verlagert, was mit einigen kleinbürgerlich-parlamentarischen Illusionen einhergeht. Die parlamentarische Westausdehnung der Linkspartei ist dabei ins Stocken geraten; sie wurde bei den Landtagswahlen in etwa auf die Ergebnisse der WASG 2006 zurückgeworfen und erhielt nur etwa ein Drittel der bei den letzten Bundestagswahlen erreichten Prozentanteile. Zugleich belebt sich die praktische Aktivität der Massen erheblich. Bei den verschiedenen Aktionen für die Stilllegung aller AKW beteiligten sich allein in der letzten Woche ca. 500.000 Menschen. All das bringt die Denkweise der Massen in Bewegung, löst hergebrachte Bindungen, macht offen für neue politische Antworten, besonders unter der Jugend, den Frauen und unter Gewerkschaftern.

Rote Fahne: Du sprichst viele allgemeinpolitische Themen an – wie verträgt sich das mit der dringlichen Auseinandersetzung in Betrieb und Gewerkschaft gegen verschärfte Ausbeutung und geplanten Arbeitsplatzabbau?

Stefan Engel: Die Industriearbeiter müssen zum Rückgrat des aktiven Widerstands gegen den Atomtod und gegen den NATO-Krieg in Libyen werden. Dies muss untrennbar mit den sozialen, ökonomischen und politischen Fragen und Forderungen der Arbeiter und ihrer Familien verbunden sein. Der extremen Steigerung des Ausbeutungsgrads der Arbeiter in den Betrieben liegt die selbe Triebkraft zu Grunde wie der voranschreitenden Zerstörung der Umwelt und dem Krieg um die öl- und rohstoffreichen Gebiete in Afghanistan, dem Irak und Libyen: die Schlacht um die Beherrschung des Weltmarkts zur Realisierung von Maximalprofiten – um jeden Preis und auf dem Rücken der Werktätigen und der natürlichen Umwelt! Die Ankündigung der Vernichtung von 1.200 Arbeitsplätzen bis hin zu offenen Massenentlassungen bei Opel in Bochum zum 1. Mai 2011 bedeutet eine Provokation der Opel-Arbeiter, die sich eine Arbeitsplatzgarantie bis 2016 erkämpft hatten. Offensichtlich meinen die internationalen Monopole, nachdem sie die Widersprüche während der Weltwirtschaftskrise etwas dämpfen konnten, dass nun die Zeit gekommen sei, die Krisenlasten verschärft auf die Arbeiter abwälzen zu können.

Noch hat sich der allgemeine Stimmungsumschwung in der Arbeiterbewegung von Deutschland und Europa noch nicht so stark entwickelt. Aber gegen die unerträgliche Steigerung der Arbeitshetze entwickelten sich in den letzten Monaten zahlreiche betriebliche Protest- und Streikaktionen. Es ist sehr bedeutsam, dass die Arbeiterbewegung sich dagegen verwahrt, wenn der Kampf um Arbeitsplätze gegen den Umweltschutz ausgespielt wird.

Rote Fahne: Vom 4. bis 8. März fand die erste Weltfrauenkonferenz der Basisfrauen statt. Wie beurteilt die MLPD dieses Ereignis?

Stefan Engel: 1911 hat der erste internationale Frauentag auf Vorschlag der internationalen Sozialistinnenkonferenz das Signal für eine weltweit koordinierte Bewegung für Frauenrechte und für die Befreiung der Frau gegeben. Genau 100 Jahre später wurden mit der Weltfrauenkonferenz der Basisfrauen in Caracas und ihren Beschlüssen die Weichen für einen international gemeinsamen Aufbruch zur Befreiung der Frau im 21. Jahrhundert gestellt. Das ist ein bedeutender Fortschritt für die kämpferische Frauenbewegung der Welt. Immerhin war der Zusammenschluss der internationalen Frauenbewegung über Jahrzehnte dominiert entweder von Kräften der UNO, von kleinbürgerlich-feministischen Kräften oder dem revisionistischen Dachverband IDFF. Allein schon die vollständig selbst organisierte und finanzierte Teilnahme von Repräsentantinnen bedeutender Frauenbewegungen aus über 40 Ländern ist eine gewaltige Leistung und kennzeichnet ein hervorragendes Potenzial. Mit der Durchführung beider beschlossener Säulen - von Generalversammlung und Massenprogramm - ist auch das spezifische Profil im Prinzip durchgekämpft worden: breitester überparteilicher Meinungs- und Erfahrungsaustausch, Kultur und Bildung bei gleichzeitig verbindlicher Beschlussfassung für die zukünftige Zusammenarbeit auf demokratischer Grundlage. Viele internationale Zusammenkünfte – zum Beispiel auf den Weltsozialforen – sind doch eher durch ebenso langatmige wie unverbindliche Debatten geprägt. Die Konferenz in Caracas hat dagegen die weitere Zusammenarbeit mit künftigen Weltfrauenkonferenzen alle fünf Jahre, die Bildung einer demokratischen Koordinierungsgruppe und die antiimperialistische Zusammenarbeit an der ganzen Bandbreite frauenpolitischer Themen einhellig beschlossen.

Allerdings gibt es auch Einschränkungen im Erfolg der Konferenz: sie hat aus verschiedenen Gründen nicht die angestrebte massenhafte Breite erreicht. Teilweise herrschten nach dem Urteil von Teilnehmerinnen organisatorisch chaotische Zustände und es musste zuweilen um die Einhaltung der Prinzipien der demokratischen Streitkultur hart gekämpft werden. Der Hintergrund für diese Probleme waren parteipolitische Auseinandersetzungen in Venezuela, die leider auf dem Rücken der Weltfrauenkonferenz ausgetragen wurden. Es ist nicht akzeptabel, dass das Frauenministerium in Venezuela aufgrund parteipolitisch motivierter Widersprüche zu einzelnen Teilnehmerorganisationen aus Lateinamerika die Konferenz diskreditierte, ihr Steine in den Weg legte und nach glaubwürdigen Berichten sogar Frauenorganisationen oder Aktivistinnen in Venezuela unter Druck setzte, wenn sie sich an der Weltfrauenkonferenz beteiligen wollten. Ebenfalls völlig unakzeptabel ist das Verhalten des venezolanischen Außenministeriums, das 525 Frauen aus Kolumbien und Delegationen aus weiteren sechs Ländern nicht einreisen ließ. Das stand im krassen Gegensatz zur wiederholten Zusage von Chavez und der ehemaligen Frauenministerin Maria Leon zur Unterstützung der Konferenz! Zwar haben die Medien und auch Vertreter der PSUV sich selbst ein Bild gemacht, ihre Haltung zur Weltfrauenkonferenz im Laufe ihrer Durchführung geändert und letztendlich ein sehr positives Bild in den Medien verbreitet - aber eine offizielle Entschuldigung und Klärung dieser Probleme steht bis heute aus. Auch wurde im Vorfeld aus der DKP-Spitze in Deutschland heraus eine massive Hetze gegen Aktivistinnen aus Deutschland und die Konferenz als Ganzes nach Venezuela transportiert. Diese Verleumdungen spiegelten sich auch in Hetzartikeln des MLPD-Hassers Scheer in einigen deutschen Zeitungen wider. Das ist der verzweifelte Versuch, die revisionistischen Alleinvertretungsansprüche über die internationale Frauenbewegung aufrecht zu erhalten. Das spaltet die Frauenbewegung und ist nicht hinnehmbar. Dabei waren die Frauenorganisationen aus dem Lager der IDFF immer eingeladen, sich gleichberechtigt in diese überparteiliche Weltkonferenz der Basisfrauen einzubringen. Die Weltfrauenbewegung darf sich von allen diesen Problemen nicht aufhalten lassen. Es muss eine internationale kämpferische Weltfrauenbewegung organisiert werden, die sich wechselseitig unterstützt, ihre Arbeit koordiniert, voneinander lernt und auch verschiedene weltanschauliche Richtungen in sich vereint. Es ist das Signal der Weltfrauenkonferenz 2011, dass sie sich durch keine Hürde von dieser bedeuteten Perspektive abhalten ließ, sondern die Konferenz insgesamt zu einem Erfolg machte.

Rote Fahne: Wie ist die Arbeit der MLPD zu beurteilen?

Stefan Engel: Der Erfolg der Weltfrauenkonferenz ist der Erfolg der gleichberechtigten Kooperation von Frauen aus der ganzen Welt mit unterschiedlichster weltanschaulicher Richtung. Sie haben ihre besten Erfahrungen und Kräfte zum Gelingen ein- und zusammengebracht. Die MLPD hat als Impulsgeberin, mit über 100 Aktivistinnen und Aktivisten vor Ort, mit ihrem Know-how und dem Markenzeichen ihrer proletarischen Streitkultur sicherlich dazu beigetragen. Das gilt für die Vorbereitung und Durchführung der Konferenz ebenso wie für ihre internationale Bekanntmachung vor allem unter den ICOR-Parteien. Ein besonderer Fortschritt lag in der profilierten Arbeit des Jugendverbandes REBELL. Da die Weltfrauenbewegung ihre ausschlaggebende Basis in den kämpferischen Frauenbewegungen der einzelnen Länder hat, legten wir einen besonderen Schwerpunkt auf die Durchführung des 8. März in Deutschland. Dieser 100. Jahrestag kennzeichnete eine neue Qualität der Bündnisfähigkeit der kämpferischen Frauenbewegung. Erstmals waren über 5.000 aktive Frauen aus über 60 verschiedenen Organisationen und Bündnissen in Deutschland tätig. Weltweit liegen aus über 50 Ländern Berichte über Aktionen vor. Wir arbeiteten aktiv in den vielfältigen Bündnissen mit und trugen mit selbständigen Beiträgen zum strategischen Blick dieses internationalen Frauentages bei. Dazu gehörten internationale Beziehungen und Beiträge, Studiengruppen über "Neue Perspektiven für die Befreiung der Frau", Bildungsveranstaltungen zu 100 Jahre Internationaler Frauentag und bestens besuchte frauenpolitische Aschermittwochs-Veranstaltungen. Der entscheidende Maßstab ist jedoch die nachhaltige Stärkung der kämpferischen Frauenbewegung, über die die Arbeit der nächsten Wochen und Monate entscheidet.

Rote Fahne: Am 20. März fand die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt statt. Wie ist ihr Ergebnis vor dem Hintergrund der Ereignisse zu beurteilen?

Stefan Engel: Es ist den Herrschenden gelungen, die Verhältnisse in Sachsen-Anhalt zumindest vorübergehend wieder etwas zu stabilisieren. Die Wahlbeteiligung stieg um 7,1 Prozent auf 51,2 Prozent. Die Medienkampagne "Wählen gehen", um einen Einzug der NPD in den Landtag zu verhindern, appellierte an das tief sitzende antifaschistische Bewusstsein. Auch die Ereignisse in Japan und die demokratische Aufstandsbewegung in den arabischen Ländern politisierten die Leute.

CDU und FDP verloren trotz der deutlich gestiegenen Wahlbeteiligung knapp 26.000 Stimmen und zusammen fast 7 Prozent. Das ist eine Niederlage der Berliner Regierung. Sie traf vor allem die FDP, die mit 3,8 Prozent aus dem Landtag flog. SPD (21,5 Prozent) und Linkspartei (23,7 Prozent) erhielten vor allem aufgrund der gestiegenen Wahlbeteiligung zwar absolut mehr Stimmen, blieben aber beide hinter ihren Wahlzielen. Die Linkspartei verlor gegenüber der letzten Landtagswahl leicht (-0,4 Prozentpunkte), aber erheblich gegenüber der Bundestagswahl (-8,7). Offensichtlich lässt die Attraktion der Linkspartei trotz der akuten gesellschaftlichen Krisen eher nach. Die Grünen gewannen 3,4 Prozentpunkte dazu und ziehen erstmals seit 13 Jahren wieder in den Landtag ein. Viele sehen in ihnen eine linke, ökologische Alternative. Wir freuen uns, dass die faschistische NPD trotz der größten Materialschlacht in ihrer Geschichte mit 4,6 Prozent den sicher geglaubten Einzug ins Parlament verpasste. Dennoch darf es auf keinen Fall unterschätzt werden, wenn nach Analysen über 15 Prozent der Jungwähler NPD gewählt haben sollen. Das gibt den antifaschistischen Aufgaben einen weiterhin hohen Stellenwert.

Rote Fahne: Die MLPD hat sich an dieser Landtagswahl beteiligt. Welches Resümee zieht sie aus ihrem offensiven Straßenwahlkampf?

Stefan Engel: Angesichts der komplexen Aufgabenstellung in den letzten Monaten war für die MLPD der Wahlkampf in Sachsen-Anhalt eine eingeschränkte Aufgabe als taktische Offensive für den Parteiaufbau auf regionaler Ebene. Im Vergleich zu 2006 haben wir nur ca. ein Drittel der Kräfte und Ressourcen eingesetzt. Der Wahlkampf zielte darauf ab, eine Stagnation im Parteiaufbau in Sachsen-Anhalt zu überwinden und die relative Isolierung weiter aufzubrechen. Das ist gut gelungen. Wie nie zuvor waren Grundsatzfragen Thema bei vielen interessanten Gesprächen im Wahlkampf. Die Fragen und Diskussionen zum Thema Sozialismus und Revolution werden tiefgehender. Unsere Genossinnen und Genossen haben es im Wahlkampf immer besser verstanden, die wachsende Minderheit, die nach einem revolutionären Ausweg sucht, zu erreichen. 443 Wahlhelfer wurden neu gewonnen und unterstützten in sechs Wählerinitiativen unseren Wahlkampf. Die 2.371 (0,23 Prozent) Zweitstimmen für die MLPD sind zwar ein Rückgang gegenüber 2006. Man muss sie aber ins Verhältnis zum weitaus geringeren Kräfteeinsatz stellen sowie dazu, dass wir unseren Wahlkampf unter weitgehendem Ausschluss der Medienöffentlichkeit vollständig alleine durchführten. Unsere kompetenten sechs Direktkandidaten erzielten mit bis zu 1,2 Prozent alle deutlich mehr Personenstimmen als die jeweiligen MLPD-Zweitstimmen. Unsere Genossinnen und Genossen aus dem Landesverband Elbe-Saale waren erstmals voll eigenverantwortlich für den Wahlkampf und haben sich sehr gut geschlagen. Auch wenn die Kräfte von außerhalb aufgrund der anderen Aufgaben weniger waren, so leisteten sie dennoch eine unverzichtbare Hilfe. Wir konnten besonders Jugendliche, Frauen und junge Arbeiterinnen und Arbeiter für die MLPD und ihren Jugendverband REBELL interessieren und zum Teil schon organisieren. Überhaupt haben die Mitglieder der MLPD und des REBELL in den letzten Monaten eine immense Arbeitsproduktivität und Ausstrahlung entwickelt. Eine hervorragende Arbeit, zu der ich den Genossinnen und Genossen herzlich gratuliere.

Rote Fahne: Am 6. Oktober 2010 wurde die ICOR gegründet. Wie hat sich die ICOR seitdem entwickelt und wie sind ihre Perspektiven?

Stefan Engel: Die ICOR muss sich vor dem Hintergrund der einschneidenden Ereignisse in den letzten Monaten einerseits bereits in der Praxis bewähren, ist jedoch zugleich noch nicht allseitig arbeitsfähig. Der Gründungsprozess hat mit der Gründung der ICOR, dem Beschluss der Gründungsdokumente, der Mitgliedschaft von 41 Gründungsmitgliedern, der Wahl eines ICC und seines Sekretariats und des Hauptkoordinators, der Einrichtung einer Homepage und eines zentralen Büros sowie den ersten koordinierten Aktivitäten sicherlich erfolgreich begonnen. Momentan steht der Aufbau eines notwendigen multilateralen Apparates, der finanziellen Basis und kontinentaler und regionaler Strukturen im Mittelpunkt. Erfolgreich hat bereits die Amerika-Konferenz stattgefunden. Dort wurde die ICOR Amerika gegründet, zwei neue Mitgliedsorganisationen aus Kolumbien und Venezuela aufgenommen und ein Kontinentales Koordinierungskomitee gewählt. In den nächsten Wochen werden auch die Kontinentalkonferenzen in Asien, Europa und Afrika stattfinden. Neben der Vollendung der Gründung und Konstituierung der ICOR werden auch die aktuellen Fragen im Parteiaufbau in den einzelnen Ländern und im Klassenkampf zur Sprache kommen. Die Durchführung der Kontinentalkonferenzen ist eine wichtige Voraussetzung für das weitere Wachstum der ICOR, damit sie wirklich in den meisten relevanten Ländern vertreten ist, aber auch für die Herstellung einer operativen internationalen Handlungsfähigkeit.

Rote Fahne: Am 18. März, am Ende des Wahlkampfes in Sachsen-Anhalt, fand die erste öffentliche Veranstaltung über das neue Buch "Morgenröte der internationalen sozialistischen Revolution" in Halle statt.

Stefan Engel: Diese wunderbare Veranstaltung war mit 185 Besuchern - hauptsächlich aus dem Landesverband Elbe-Saale - sehr gut besucht. Ein buntes, aber auch sehr kompetentes Publikum - Industriearbeiter, kämpferische Frauen und jung gebliebene Rentner bis zu frisch aus dem Wahlkampf gewonnenen Jugendlichen - hatte das Buch mit Spannung erwartet. Sowohl der Zeitpunkt kurz vor Abschluss unserer taktischen Offensive zur Landtagswahl wie der Ort, der historische Fritz-Weineck-Saal in Halle, waren angemessen gewählt. Durch meinen Vortrag wurde vielen Zuhörern deutlich, wie aktuell die Frage der internationalen sozialistischen Revolution für alle Beteiligten ist. Die glaubhafte Vertretung der sozialistischen Alternative muss alle historischen Erfahrungen schöpferisch verarbeiten und die aktuellen Entwicklungen des imperialistischen Weltsystems und der Internationalisierung des Klassenkampfs berücksichtigen. Die Diskussion verarbeitete die Grundgedanken meiner Ausführungen schöpferisch mit den intensiven Erfahrungen aus dem Wahlkampf, in dem unsere Genossen viele grundsätzliche Antworten geben mussten. Nach viereinhalb Stunden musste die Veranstaltung abgebrochen werden, obwohl dem Publikum der Diskussionsstoff noch lange nicht ausgegangen war.

Rote Fahne: Welche Bedeutung hat dieses Buch für die Parteiarbeit?

Stefan Engel: Wir hatten 2003 mit der "Götterdämmerung über der 'neuen Weltordnung'" eine umfassende Analyse der in den 1990er Jahren eingesetzten Neuorganisation der internationalen Produktion vorgelegt. Sie weist nach, dass eine neue historische Umbruchphase vom Kapitalismus zum Sozialismus eingeleitet wurde. Jetzt ziehen wir allseitige und wissenschaftliche Schlussfolgerungen für die Strategie und Taktik. Die Internationalisierung des Klassenkampfs erfordert als entscheidende Schlussfolgerung die Vorbereitung und Durchführung der internationalen sozialistischen Revolution. Es passt genau, dass das Buch zu einem Zeitpunkt erscheint, in dem die allgemeine Krisenhaftigkeit des imperialistischen Weltsystems allseitig in Erscheinung tritt.

Das Buch hat drei Teile. Im ersten Teil weisen wir nach, das die Strategie der internationalen sozialistischen Revolution seit Marx und Engels Bestandteil des Marxismus-Leninismus ist. Marx und Engels hatten im Unterschied zu Lenin, Stalin und Mao Tsetung nur eine unterschiedliche Strategie und Taktik zur Umsetzung dieser Grundposition entwickelt. Während Marx und Engels noch von einer einheitlichen internationalen sozialistischen Revolution ausgingen, hatte Lenin die Strategie und Taktik des Beginns der Revolution am schwächsten Kettenglied des imperialistischen Weltsystems entwickelt, auf den Stück für Stück die anderen Länder nachfolgen sollten. Leider ist diese Strategie und Taktik in Deutschland durch die Konterrevolution erstickt worden, so dass die sozialistische Sowjetunion über lange Zeit allein den Sozialismus aufbauen musste. Die Trotzkisten bekämpften diesen Aufbau des Sozialismus in einem Land und stellten dem demagogisch die Strategie der internationalen Revolution entgegen. In Wirklichkeit aber hatten sie einen konterrevolutionären Standpunkt eingenommen, was mit der Strategie der internationalen Revolution nicht das Geringste zu tun hatte. Lenin hatte selbstkritisch Stellung genommen, dass seine Strategie und Taktik nicht verwirklicht werden konnte, und führte das auf die noch mangelhaft ausgebildeten internationalen Produktivkräfte zu dieser Zeit zurück. Die MLPD hat nichts anderes gemacht, als nach der Analyse der Neuorganisation der internationalen Produktion die Strategie der internationalen Revolution wieder auf die Tagesordnung zu setzen und eine konkrete Strategie und Taktik für ihre Vorbereitung und Durchführung zu entwickeln. Im zweiten Teil wird die veränderte Strategie und Taktik durch die Herrschaft des alleinherrschenden internationalen Finanzkapital analysiert. Dabei wird insbesondere hervorgehoben, welche grundlegende Schwäche dieser scheinbar unbesiegbaren Macht zugrunde liegt. Im dritten Teil wird die Strategie und Taktik der MLPD entsprechend den neuen Gegebenheiten weiterentwickelt. Es wird festgestellt, dass sich die Strategie und Taktik der MLPD in den letzten 40 Jahren bewährt hat, dass sie aber auch den neuen internationalen Gegebenheiten angepasst werden muss. Dazu ist es notwendig, eine neue Stufe des proletarischen Internationalismus in der Parteiarbeit und im Jugendverband durchzusetzen.

Das Buch ist - wie es bereits in der Einleitung heißt - keine Generallinie für die internationale marxistisch-leninistische, revolutionäre und Arbeiterbewegung. Aber es ist der Beitrag der MLPD für die dazu notwendige Diskussion. Es ist zugleich die Linie der MLPD, wie wir künftig unseren Beitrag zur Vorbereitung und Durchführung der internationalen Revolution leisten werden. Die Fragen, die es mit seiner Strategie und Taktik der internationalen sozialistischen Revolution beantwortet, werden in dieser Situation massenhaft aufgeworfen: Wie kann eine Revolution unter den Bedingungen des allein herrschenden internationalen Finanzkapitals erfolgreich durchgeführt werden? Was ist die Perspektive der demokratischen Aufstandsbewegungen im Mittelmeerraum? Welche Alternativen hat die Menschheit zur kapitalistischen Barbarei, die in Japan ein Gesicht bekommt? Wir eröffnen bzw. bereichern damit auch eine gesellschaftliche Strategiedebatte, um die Massen für die revolutionäre Alternative zu gewinnen, statt uns von der Flut bürgerlicher und kleinbürgerlicher Rechtfertigungsideologien beeindrucken zu lassen.

Rote Fahne: Wie wird damit in der nächsten Zeit gearbeitet werden?

Stefan Engel: Natürlich geht es als erstes einmal darum, das Buch der breiten Öffentlichkeit vorzustellen und es möglichst zahlreich unter den Arbeitern, den Frauen und Jugendlichen zu verbreiten. Es wird bereits auch intensiv an der Übersetzung in Englisch, Spanisch, Türkisch und Französisch gearbeitet.

Im April wollen wir eine Studienbewegung beginnen, die uns zugleich auf unseren IX. Parteitag vorbereiten soll. Das Buch hat unzählige Erfahrungen, Berichte und Veröffentlichungen aus der ganzen Welt, ca. 3.000 Bücher, Artikel und Untersuchungen, sowie vor allem aufbauend auf den theoretischen Grundlagen der MLPD die vielfältigen praktischen Erfahrungen in Parteiaufbau und Klassenkampf in Deutschland aber auch international verarbeitet und eine ganze Reihe neuer Schlussfolgerungen herausgeschält.

Um zu einer neuen Qualität des proletarischen Internationalismus in Partei und Jugendverband zu kommen, muss man sich als erstes die theoretischen Grundlagen erarbeiten. Sonst kommt dabei lediglich die Vorstellung heraus, dass wir jetzt einfach quantitativ mehr internationalistische Arbeit betreiben müssten. Deshalb werden wir mit sechstägigen Studienseminaren eine Anleitung geben, wie man mit dem Buch arbeitet. Ergänzt wird das durch örtliche Studiengruppen und Schulungsabende, in denen speziellere Fragen beraten werden können in Verbindung mit Schlussfolgerung für die Veränderung der eigenen Praxis. Wir werden es unseren Kontakten, in Buchhandlungen, auf Veranstaltungen usw. anbieten. Wir gehen davon aus, dass dieses Buch den Nerv der Zeit trifft und auf das Interesse zahlreicher Leute stoßen wird, die nach einer gesellschaftlichen Alternative suchen und sich fragen, wie eine sozialistische Gesellschaft erkämpft werden kann. Sie wollen wir einladen, mit uns gemeinsam das Buch zu studieren und zu diskutieren.

Rote Fahne: Was hat die MLPD in den nächsten Monaten vor?

Stefan Engel: Wir werden einen aktiven Beitrag zur Entwicklung einer weltweiten Front des aktiven Widerstands für die Stilllegung aller Atomkraftwerke leisten. Das werden wir verbinden mit einer Agitation und Propaganda für die revolutionäre Alternative zur allseitigen Krisenhaftigkeit des Imperialismus. Entscheidend und praktischer Maßstab des Erfolgs dabei ist die nachhaltige Stärkung von MLPD und Selbstorganisationen der Massen.

Wir fördern dazu überparteiliche Aktionseinheiten gegen die Atom- und Klimakatastrophe auf der Grundlage des Kampfs, beteiligen uns aktiv an örtlichen und regionalen Demonstrationen und Kundgebungen und bereiten diese mit vor. Dabei werden wir unsere Literatur verbreiten, Studiengruppen, Veranstaltungen usw. dazu anzubieten. In den Betrieben treten wir in Verbindung mit den brennenden Alltagsfragen für gewerkschaftliche und selbständige Protestaktionen gegen Atomtod und Umweltzerstörung ein. Wir fördern, dass der Kampf zur Stilllegung aller Atomanlagen und gegen die Umweltzerstörung auf Betriebs- und Gewerkschaftsversammlungen behandelt und Resolutionen und Beschlüsse dazu gefasst werden. Wir treten für ein vollständiges und allseitiges gesetzliches Streikrecht und für freie politische und gewerkschaftliche Betätigung im Betrieb ein. Das verbinden wir mit dem Kampf gegen die verstärkte Abwälzung der Krisenlasten auf dem Rücken der Arbeiter und gegen die verschärfte Ausbeutung in den Betrieben sowie gegen Massenentlassungen. Die Arbeit zum 1. Mai wird im Zeichen der Förderung der Arbeiteroffensive und als ICOR-Kampftag unter dem Gesichtspunkt der internationalen Koordinierung und Revolutionierung des Klassenkampfes stehen.

Wir unterstützen in unserer positiven Gewerkschaftsarbeit die weitere Verbreitung der Dortmunder Erklärung zur Stärkung kämpferischer Gewerkschaften. Die Kritik an der Klassenzusammenarbeitspolitik und der antikommunistischen Spaltung der Gewerkschaften durch Teile der rechten IGM-Gewerkschaftsführung bekommt eine wichtige Rolle in der Vorbereitung der Gewerkschaftstage von Verdi und IG Metall, die im Herbst stattfinden.

Einen besonderen Schwerpunkt werden wir auf die Jugendarbeit legen. Wir wollen die Masse der Jugend als praktische Avantgarde der weltweiten Front des aktiven Widerstands gewinnen und dabei zahlreiche rebellische Widerstandsgruppen aufbauen. Wir gehen davon aus, dass die aktuelle Entwicklung zu einer politischen Mobilisierung insbesondere unter der Jugend führen wird. Gewappnet mit den Ergebnissen der Kritik-Selbstkritik-Kampagne zur Jugendarbeit ist es an der Zeit, eine größere Anzahl von Jugendlichen und Kindern für den REBELL und die Rotfüchse zu gewinnen und eine neue Generation von Marxisten-Leninisten herauszubilden. Der erfolgreiche Verbandsdelegiertentag des REBELL hat dazu gute Grundlagen geschaffen, wozu wir ihm herzlich gratulieren!

Das 15. Internationale Pfingstjugendtreffen muss in dieser Situation eine wichtige Plattform bilden, auf der die ganzen praktischen und theoretischen Aktivitäten von Partei und Jugendverband zusammen kommen. Besonders wird der internationale Charakter des Pfingstjugendtreffens organisiert werden. Die Stärkung der MLPD und der Selbstorganisation der Massen - insbesondere des marxistisch-leninistischen Jugendverbands REBELL und seiner Rotfüchse - sind der entscheidende Gradmesser, ob wir die Aufgaben der nächsten Monate richtig anfassen. In diesem Sinne muss auch die Veränderung der taktischen Hauptaufgabe begriffen werden.

Rote Fahne: Vielen Dank für das Interview.

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