Rote Fahne 22/2025
„Der Waffenstillstand in Gaza ist ein großer Grund zur Freude –doch der Kampf geht weiter“
Im Interview mit der Roten Fahne äußert sich Monika Gärtner-Engel, Internationalismus-Verantwortliche der MLPD, zur Bedeutung des Waffenstillstands in Gaza, zur weltweiten Solidaritätsbewegung und den weiteren Perspektiven
Rote Fahne: Was hat den Waffenstillstand in Gaza tatsächlich bewirkt?
Monika Gärtner-Engel: Eindeutig der unbeugsame palästinensische Widerstand und Freiheitswille in Verbindung mit der millionenfachen weltweiten Solidaritätsbewegung. Trotz des Völkermordes durch das faschistische Netanjahu-Regime ließ sich die palästinensische Bevölkerung nicht brechen.
Über 20 Millionen Menschen beteiligten sich weltweit an Protesten gegen den barbarischen Völkermord. Diese antiimperialistische Bewegung ist in ihrer Bedeutung vergleichbar mit der gegen den Vietnamkrieg. Die weltweite Solidarität und das Mitgefühl bestärkten auch den Überlebenswillen der Bevölkerung in Gaza. Vornedran stand die Jugend auf den Straßen, Hafenarbeiter in Griechenland oder Italien nahmen mit ihren Streiks gegen Militärtransporte eine Vorreiterrolle ein. Auch die Sumud und Freedom Flotillas setzten Zeichen. Millionen spenden für Gaza und nehmen diesen barbarischen Mord an einem Volk nicht hin. Unter diesem Druck erkannten inzwischen 160 Regierungen Palästina als Staat an, internationale Gerichte ebenso wie eine Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrats charakterisierten die Geschehnisse als Völkermord und verurteilten ihn. Die USA und Israel waren zuletzt weltweit immer weiter völlig isoliert und geächtet.
In den bürgerlichen Medien wird aber Trump als der eigentliche Friedensstifter gefeiert …
Es ist an Dreistigkeit nicht zu überbieten, wenn der brutalste imperialistische Kriegstreiber sich jetzt als größter „Friedensengel“ selbst feiert und feiern lässt. Hat er nicht dem faschistischen Netanjahu-Regime grünes Licht für den Völkermord gegeben? In seiner Rede vor der israelischem Parlament am 13. Oktober lobte er Netanjahu für seine „großartige Arbeit“ und betonte: „Wir stellen die besten Waffen der Welt her und haben Israel viel gegeben … und ihr habt sie gut eingesetzt.“ Gut eingesetzt? Wie zynisch ist das angesichts der völlig zerstörten Häuser, der verseuchten Böden und Wasserquellen. Ohne die militärische und finanzielle Unterstützung der USA hätte Israel niemals zwei Jahre lang Krieg führen, geschweigedenn sieben Nachbarländer1 bombardieren können. Was er nicht erwähnt, ist das Scheitern seiner Pläne zur vollständigen Vertreibung der Menschen aus Gaza. Mit dem Waffenstillstand haben ihm der Widerstand und die weltweite Solidarität der Massen eine empfindliche Niederlage bereitet.
In der internationalen Solidaritätsbewegung reagierten manche verhalten auf den Waffenstillstand, weil sie Trump und Netanjahu nicht trauen und sich nicht mit Trump gemein machen wollen. Natürlich bleiben wir wachsam! Trotzdem ist Skepsis die falsche Perspektive! Der großmäulige Präsident und Narzisst Donald Trump würde natürlich niemals kleinlaut zugeben, dass er die Reißleine ziehen und seine perversen Träume von der Gaza-Riviera beerdigen musste.
Der Waffenstillstand ist ein großer Grund zur Freude – nicht nur aus Sicht der Menschen in Gaza. Damit enden der Bomben- und Scharfschützenterror und kann der Hunger gelindert werden. Auch die internationale Protestbewegung kann dies als ihren Sieg feiern – gegen jede Repression und Hetze wie die vom „linken Antisemitismus“ oder der „Staatsräson“ als Verpflichtung aus dem Holocaust in Deutschland. Vor allem aber ist es ein Signal: die aggressivsten imperialistischen und bis an die Zähne hochgerüsteten Kriegstreiber sind besiegbar! Das ist doch die Quintessenz. Natürlich darf man Imperialisten niemals trauen, weshalb Wachsamkeit angesagt ist und der Protest weitergehen muss: für freien Zugang nach Gaza, für den Wiederaufbau und das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volks.
Die Freilassung der israelischen Geiseln ist aber auch ein Grund zu feiern, oder?
Natürlich, die Geiselnahme von Zivilisten ist abzulehnen und sie wurden von der Hamas auch zynisch vorgeführt. Einer musste völlig abgemagert für ein Video sein eigenes Grab schaufeln. Man muss aber auch sagen, dass gemessen an den Bedingungen die Tausenden palästinensischen Gefangenen, Frauen und Kinder wesentlich barbarischer behandelt wurden. Sie wurden systematisch geschlagen, misshandelt und gedemütigt. Sie durften sich nicht duschen, haben zu wenig Essen bekommen und es gab Fälle von Vergewaltigung. Tausende Männer, Frauen und Kinder wurden willkürlich verhaftet und waren ebenfalls Geiseln. Wenn sie jetzt zurückkehren, kehren sie in ein zerstörtes Land „nach Hause“. Aber man kann Grausamkeiten nicht gegeneinander aufrechnen.
Welche Rolle hat die revolutionäre Weltorganisation ICOR dabei gespielt?
Die ICOR-Organisationen stehen weltweit mit an vorderster Front in der Palästina-Solidarität. ICOR-Vertreter nahmen auch an der Freedom und der Sumud Flotilla teil. Aus dem ICC kam von Hatem Laouini der Vorschlag, wie in Kobanê auch in Gaza ein Gesundheitszentrum aufzubauen. Ich initiierte dann 2024 den Solidaritätspakt mit dem säkularen Al-Awda-Gesundheitsnetzwerk. Dafür wurden bisher 300.000 Euro für die akute Gesundheitsversorgung in Gaza gespendet und ein kleinerer Teil von inzwischen 75.000 Euro für den Wiederaufbau des Krankenhauses gesammelt. Der Großteil davon auf der Straße in Deutschland. Das ist praktizierter proletarischer Internationalismus.
In der Palästina-Solidarität sind sich sicher alle ICOR-Parteien einig?
In der praktischen Solidarität – uneingeschränkt: Ja! Aber nach dem 7. Oktober gab es zunächst über mehrere Monate heftige Diskussionen um den Konsens, auf welcher Grundlage das stattfindet. Die MLPD hat die Hamas ganz klar als islamistisch-faschistische Organisation gekennzeichnet, auch wenn sie heute subjektiv und objektiv Schulter an Schulter mit den anderen Kräften angesichts der katastrophalen Situation Widerstand leistet und ihre Sprache und ihr Handeln gegenüber ihrer Gründungs-Charta auf der Grundlage der Scharia geändert hat. Für die MLPD gibt es prinzipiell keine Zusammenarbeit mit faschistisch denkenden und handelnden Kräften. In der ICOR haben wir uns aber darauf geeinigt, dass wir entschlossen die praktische Solidarität verwirklichen und dabei Schritt um Schritt weiterhin Differenzen klären.
Es ist auch ein strategischer Fehler zu behaupten, es gebe in Israel keine Arbeiterklasse, weil es alles „Siedlerkolonialisten“ seien. Natürlich haben Zionismus und Faschismus einen größeren Teil der israelischen Bevölkerung beeinflusst, aber es gibt eine wachsende und lauter werdende Bewegung auch von Kommunisten, die den Völkermord in Gaza kritisieren, die solidarisch sind und gegen ihre eigene Regierung auf die Straße gehen. Das sind wichtige Verbündete des palästinensischen Befreiungskampfs. Man wäre da sicherlich schon weiter, wenn die palästinensische Bewegung den fortschrittlichen Kräften in Israel stärker die Hand reicht beziehungsweise eine offensive Auseinandersetzung führt. Berechtigt ist natürlich die Kritik an der weitverbreiteten, vom US-Imperialismus vereinnahmten Denkweise relativ breiter Massen, die sich in dem riesigen Jubel für Trump bei der Großkundgebung am 11. Oktober ausdrückte.
Was ist zu erwarten, wenn jetzt ausgerechnet die Trump-Regierung die Oberhoheit über eine internationale „Stabilisierungstruppe“ übernehmen will?
Mit ihrer Niederlage in Gaza sind die Ambitionen des US-amerikanischen und israelischen Imperialismus nicht aufgehoben. Der Traum von einem Großisrael wird im Westjordanland, im Südlibanon oder in Syrien und in Gaza weiterverfolgt. Die Zerstörungswut der israelischen Armee geht auch nach dem Waffenstillstand weiter. So berichten Palästinenser, dass die teilweise abziehende Armee zahlreiche Feuer gelegt und eine Wasseraufbereitungsanlage zerstört hätte, die mit deutscher Unterstützung in Höhe von 88 Millionen gebaut worden war.2 Mitten im Waffenstillstand wurden mutige Journalisten ermordet. Der Trump-Plan verweigert den Palästinensern weiterhin ihr Selbstbestimmungsrecht. An der „Stabilisierungstruppe“, die den Wiederaufbau kontrollieren soll, will Trump Ägypten, Katar und die Türkei unter seiner unmittelbaren Führung beteiligen. Diese neu-imperialistischen Staaten richten sich nicht nach den Interessen der palästinensischen Bevölkerung.
Die reaktionäre Medienberichterstattung heizt schon wieder die Stimmung an. In Israel wird der Hamas unterstellt, sie rücke die toten Geiseln nicht raus, dabei liegen diese wie Tausende andere Menschen unter den von Israel verursachten Trümmern der Gebäude und Tunnel. Damit wird propagandistisch die Option einer Wiederaufnahme des Kriegs vorbereitet. Nachdem die Bundesregierung erst Israel Waffen für die Zerstörung Gazas geliefert hat, will Bundeskanzler Merz jetzt heuchlerisch zusammen mit Ägypten zu einer internationalen Wiederaufbaukonferenz einladen. Wenn in Nahost die Karten neu gemischt werden, will der deutsche Imperialismus nicht fehlen.
Was ist das Besondere am Al-Awda-Solidaritätspakt? Wie und wann soll es mit den Solidaritätsbrigaden losgehen?
Die ICOR2 steht mit inzwischen deutlich über 100 Brigadistinnen und Brigadisten bereit für den Wiederaufbau vor Ort und will loslegen, sobald die Al Awda Health Association das für möglich hält. Schon jetzt beginnen die umfangreichen Vorbereitungsarbeiten. Al Awda ist die größte säkulare Gesundheitsorganisation in Gaza. Ihr entschlossenes Motto ist: „Solange noch ein Mensch an einem Ort unsere Hilfe braucht, werden wir bleiben.“ Der Wiederaufbau soll nach ökologischen Prinzipien auf modernster technologischer Grundlage erfolgen und ist in enger Zusammenarbeit mit palästinensischen Kräften ausschließlich an den Interessen der palästinensischen Bevölkerung orientiert. Konkret übernimmt die ICOR Verantwortung für den Aufbau eines Gesundheitszentrums. Jetzt müssen wir die Vorbereitung intensivieren und vor allem in den publizierten Arbeitsgruppen mit realen Ergebnissen zusammenarbeiten (siehe Seite 24/25).
Welche Vorschläge hat die MLPD für die weitere Solidarität mit dem palästinensischen Volk?
Die MLPD hat die Losung ausgegeben „Organisiert euch – Gaza muss leben!“ Die Solidaritätsbewegung gewinnt Festigkeit und Schlagkraft, wenn sie ihren Organisationsgrad erhöht. Wir empfehlen die Mitarbeit bei der Initiative „Palestine must live“ in Solidarität International. Solidarische Jugendliche sollten sich in den Gaza-Solidaritäts-AGs des Jugendverbandes REBELL organisieren. Der barbarische Völkermord zeigte in aller Deutlichkeit die menschenverachtende Fratze des Imperialismus. Wer die Ursachen von Kriegen beseitigen will, muss den Imperialismus beseitigen.
In der Vietnam-Solidarität kam damals die ganze internationale Solidaritätsbewegung mit den sozialistischen Zielen der Kommunistischen Partei Vietnams und der Unterstützung durch das China Mao Zedongs in Berührung und begeisterte sich dafür. Heute ist es durch die politische Gemengelage in Palästina – von islamistisch-faschistischen Organisationen über die als korrupt und verräterisch verschrieene „Autonomiebehörde“ bis hin zu marxistisch-leninistischen Revolutionären – äußerst kompliziert. Mit dem Waffenstillstand und energischen Bemühungen um einen tatsächlichen Frieden sowie demokratische Verhältnisse verbessern sich auch die Voraussetzungen, die Auseinandersetzung darum auszutragen. Die Palästinenser werden ihre Freiheit letztlich nur in einem vereinten sozialistischen Palästina erlangen, in dem sie mit den Israelis gleichberechtigt friedlich zusammenleben. Wer davon überzeugt ist, kann als Mitglied in der MLPD und im REBELL am besten dafür eintreten.
Die Urheber der Zerstörung in Gaza, die Regierungen der USA und Israels sowie ihre Helfershelfer aus Deutschland müssen den Wiederaufbau bezahlen. Die Verantwortlichen für den Völkermord müssen zur Rechenschaft gezogen, Netanjahu muss vor ein Kriegsverbrechertribunal gestellt werden. Ich habe als Vertreterin der ICOR mit dem Gesundheitsnetzwerk Al Awda, der Solidaritäts- und Hilfsorganisation „Solidarität International“ und verschiedenen Privatpersonen Strafanzeige gegen die Bundesregierung gestellt wegen Beihilfe zu Kriegsverbrechen. Israelische und andere ausländische Truppen müssen komplett aus Palästina abziehen. Und die Palästinenser müssen selbstbestimmt leben können auf demokratischer Grundlage.