Rote Fahne 10/25
„Die Perspektive liegt im gemeinsamen Kampf für den Sozialismus“
Am 15. Mai jährt sich zum 77. Mal der offizielle Beginn der Nakba (Katastrophe), der massenhaften Vertreibung des palästinensischen Volks aus seiner angestammten Heimat. Roland Meister – Palästinakenner, engagierter Rechtsanwalt und langjähriges Mitglied im Zentralkomitee der MLPD – gibt im Interview Auskunft über die Geschichte dieses Tags, seinen Zusammenhang zum aktuellen Krieg in Gaza und zur Perspektive des palästinensischen Befreiungskampfs.
Rote Fahne: Heute wird oft der Eindruck erweckt, die Aggression gegen den Staat Israel ginge von den Palästinensern aus. Wie begann die Auseinandersetzung auf dem Boden Palästinas tatsächlich?
Roland Meister: Die historische Region Palästinas liegt an der südöstlichen Küste des Mittelmeers und umfasst heute Israel, den Gazastreifen, das Westjordanland, Teile Syriens, des Libanons und Jordaniens.
Mehrere Jahrhunderte gehörte die Region zum osmanischen Reich. Im Ersten Weltkrieg eroberten sie britische Truppen. Der britische Imperialismus wurde Mandatsmacht. Gegen seine Herrschaft entwickelten sich Befreiungskämpfe der arabischen Bevölkerung.
Anfang des 20. Jahrhunderts lebten dort seit Generationen etwa fünf Prozent Menschen jüdischen Glaubens, vor allem orientalische Juden (Sefardim). Die Kommunistische Partei Palästinas und die Kommunistische Internationale (Komintern) traten für die enge Kampfeinheit des arabischen und jüdischen Volkes gegen den Imperialismus ein.
Der britische Imperialismus betrieb, gestützt auf arabische Feudalherren sowie zionistische reaktionäre Kräfte eine Politik von Hass und Zwietracht, um die Widersprüche zwischen der arabischen muslimischen Bevölkerung und der Bevölkerung jüdischen Glaubens zu schüren.¹ Während aufgrund der Verbrechen des Hitler-Faschismus immer mehr jüdische Flüchtlinge nach Palästina auswanderten, entwickelte sich zugleich der gemeinsame Kampf der palästinensischen Bevölkerung für Unabhängigkeit und Selbstbestimmung.² Die Kommunistische Partei Palästinas, die arabische wie jüdische Mitglieder hatte, sowie weitere antifaschistische Kräfte setzten sich für einen gemeinsamen Staat mit gleichen Rechten für alle Ethnien und Religionen ein.
Das unterstützte im Mai 1946 auch der Vorschlag einer Untersuchungskommission der UNO. Er sprach sich für einen „Zweivölkerstaat“ aus, der weder vorwiegend jüdische noch arabische Züge tragen sollte. Das scheiterte am Widerstand zionistischer Kräfte. Es war die sozialistische Sowjetunion unter Stalin, die schließlich empfahl – wenn ein gemeinsamer jüdisch-arabischer Staat unmöglich sein sollte –, einen arabischen und einen jüdischen Staat zu bilden, verbunden in einer Wirtschaftsunion. Jerusalem sollte dabei unter internationaler Verwaltung stehen.
Der jüdische Bevölkerungsanteil war bis 1947 auf rund 30 Prozent der Gesamtbevölkerung Palästinas angewachsen. Die UNO verabschiedete am 19. November 1947 schließlich diesen Teilungsplan. Er beinhaltete, dass ein künftiger palästinensischer Staat rund 43 Prozent der Gesamtfläche des ehemaligen britischen Mandatsgebietes haben sollte, für den jüdischen Staat waren 56 Prozent der Fläche vorgesehen. Zur völkerrechtlichen Verbindlichkeit der Resolution gab es von Anfang an die Kritik, dass die Entscheidung über die Köpfe der arabischen Bewohner Palästinas hinweg erfolgte.
Zionistische Kräfte begrüßten die Anerkennung eines jüdischen Staates, lehnten jedoch die damit verbundenen Grenzen ab, weil sie ein Groß-Israel wollten. Der erste israelische Ministerpräsident David Ben-Gurion erklärte, die Grenzen würden „durch Gewalt entschieden, nicht durch die Teilungsresolution“.³ Sie begannen, mit terroristischen Methoden gegen in Palästina lebende Menschen arabischer Ethnie vorzugehen und diese zu vertreiben. Die erste Welle der Nakba begann Ende 1947.
Am 14. Mai 1948 räumte das britische Militär das Gebiet. Ben Gurion erklärte für den jüdischen Exekutivrat am 14. Mai 1948 die Gründung des Staates Israel. Vor dem Hintergrund der bereits erfolgten Vertreibung reagierten die – meist erst kurz zuvor unabhängig gewordenen – Länder Ägypten, Jordanien, Syrien, Libanon und Irak mit einer Kriegserklärung gegen Israel. Die schlecht ausgebildeten und bewaffneten sowie unzureichend koordinierten arabischen Armeen waren jedoch den israelischen Streitkräften unterlegen.
Die Nakba nahm dramatische Ausmaße an. Mehr als 800 000 Palästinenser mussten fliehen. Im Buch „Der neue Nahe Osten“ wird dazu ausgeführt: „Die Israelis halfen dem arabischen Exodus noch nach Kräften nach, indem sie zurückbleibende Araber entweder gewaltsam auswiesen oder aber durch Metzeleien in arabischen Dörfern eine solche Atmosphäre schufen, dass die Moslem-Bevölkerung der Nachbarschaft freiwillig das Weite sucht.“⁴ Der Krieg endete mit einem Waffenstillstand. Israel vergrößerte sein Territorium auf nunmehr 77 Prozent der Gesamtfläche des historischen Palästina.
Wie passt der Vorschlag der sozialistischen Sowjetunion zur Gründung eines arabisch-jüdischen Staats mit der Erfindung eines „linken Antisemitismus“ zusammen, der angeblich Israel vernichten will?
Wir dürfen die Verantwortung des deutschen Imperialismus nicht ausblenden, was gerade die reaktionären Kräfte in Deutschland gerne machen. Der vom Hitler-Faschismus betriebene Holocaust hatte zur Folge, dass von den 1939 in Europa lebenden rund 9,5 Millionen Menschen jüdischen Glaubens 1945 nur noch 2,7 Millionen am Leben waren. Deshalb und aufgrund der historischen Bezüge des Judentums zu dieser Region setzte sich die Sowjetunion für die Zwischenlösung eines geteilten Staates ein, nachdem der Vorschlag eines gemeinsamen Staates gescheitert war. Sie war einer der ersten Staaten, die Israel anerkannten. Nach der reaktionären Entwicklung des israelischen Staats und dem Beginn der Vertreibung der Palästinenser verurteilte die sozialistische Sowjetunion das entschieden.
Es ist schon fast grotesk, wenn heute behauptet wird, der Antisemitismus sei vor allem „links“. Der Vorwurf des Antisemitismus wird in Deutschland und weltweit als Vorwand genutzt, um fortschrittliche, antifaschistische und revolutionäre Kräfte zu unterdrücken.
Tatsache ist auch, dass das palästinensische Volk seit Jahrzehnten den Terror des israelischen Regimes erfahren hat. Während dies von den Herrschenden in Deutschland und ihren Medien ignoriert wird, werden die Ereignisse am 7. Oktober 2023 als Vorwand zur Durchsetzung ihrer imperialistischen Herrschaftspläne sowie von Faschisierung und Rechtsentwicklung genutzt. Gewalttaten gegenüber Zivilpersonen, wie sie besonders der Hamas zuzurechnende Kräfte begangen haben, können dennoch in keiner Weise gerechtfertigt werden.
Tatsache ist, dass seitens des israelischen Staates mit Unterstützung des deutschen und des US-Imperialismus ein systematischer Völkermord im Gazastreifen begangen wird. Die Zahl der Todesopfer liegt mittlerweile bei mehr als 51 000. Die UNO erklärte jetzt, dass die humanitäre Krise im Gazastreifen die schlimmste in den letzten 18 Monaten ist.
Insgesamt geht es den imperialistischen und neuimperialistischen Mächten Israel, USA, China, Türkei, Saudi-Arabien, Iran oder auch Deutschland darum, in der Region des Mittleren Ostens ihre Vorherrschaft voranzutreiben und weiter abzusichern. Die Entwicklung in Palästina spiegelt so auch die deutlich verschärfte Krisenhaftigkeit des imperialistischen Weltsystems wider.
Ist die Lage in Israel/Palästina „aussichtslos“, wie viele Menschen denken? Worin besteht die Perspektive zur Lösung des Konflikts?
Unsere Kanzlei ist bundesweit in Verfahren mit Bezug zur Palästina-Solidarität tätig und steht an der Seite derjenigen, die auf demokratisch-antifaschistischer Grundlage entschlossen gegen die reaktionäre deutsche Politik kämpfen und mit dem palästinensischen Volk solidarisch sind.
Wir können feststellen, dass inzwischen international wie auch in Deutschland die Stimmen, die diese völkerrechtswidrige Politik angreifen und solidarisch sind, an Einfluss gewinnen. Auch juristisch kommt es zu ersten kleineren Erfolgen im Kampf um demokratische Rechte und Freiheiten.
Wir müssen davon ausgehen, dass eine friedliche Perspektive im Interesse des palästinensischen wie des jüdischen Volkes nicht freiwillig durch die Herrschenden gewährt wird. Diese kann auch nicht isoliert in einem Land erkämpft werden. Was wir brauchen, ist eine internationale Koordinierung der Kräfte, die für eine Perspektive der Unabhängigkeit in Palästina eintreten, die sowohl die palästinensischen als auch die jüdischen Menschen umfasst. Das kann nur in einem Prozess der internationalen Zusammenarbeit, Koordinierung und letztlich auch Revolutionierung gelingen.
Dazu gilt es, die United Front weiter zu stärken, die ICOR und die revolutionären Kräfte in den jeweiligen Ländern – für den gemeinsamen Kampf mit der Perspektive des Sozialismus.
Vielen Dank für das Interview!