Rote Fahne 10/25
Das Geheimnis von Lenggries
Im Isarwinkel, 60 Kilometer südlich von München liegt die Gemeinde Lenggries. Vom Bahnhof aus in Richtung Osten geht man nach ein paar hundert Metern an einem unauffälligen Haus vorbei. Zur Zeit des Hitler-Faschismus barg es ein lebensgefährliches Geheimnis.
Dort versteckte der damalige Gendamerieposten, Paul Mayer, mit seiner Familie die namensgleiche, aber nicht verwandte jüdische Ärztin Dr. Sophie Mayer fast drei Jahre lang. Am 3. Mai 1945, nach der Befreiung vom Faschismus, betrat der US-Captain Joseph P. Kimble die Polizeistation und traf auf eine fröhliche Vierer-Runde: Paul Mayer mit Frau Rosa und Sohn Pauli sowie Dr. Sophie Mayer.
Die damals 44jährige Sophie Mayer flüchtete aus München und entging der Deportation nach Ausschwitz. Um ihre Flucht zu decken, sprangen ihre Mutter und Schwester bei Deggendorf von der Donaubrücke in den Tod. Die Gestapo ging beim Fund der Leichen davon aus, dass auch Sophie Mayer Selbstmord begangen hatte und stellte die Fahndung ein.
Sophie fand auf abenteuerlichen Wegen in den Isarwinkel. Dort nahm das Ehepaar Rosa und Paul Mayer sie am 12. Juli 1942 auf. Ihrem damals zehnjährigen Sohn Pauli stellten sie die neue Mitbewohnerin als „Tante Toni“ vor. Er überließ ihr sein Kinderzimmer. Dr. Sophie Mayer sollte es bis Kriegsende kaum mehr verlassen.
Sie durfte sich nicht am Fenster sehen lassen und nur leise bewegen. Die Familie hielt dicht. Und das vor der Nase der SS, die im nahen Tölz eine Elite-Kaserne hatte!
Wer waren Paul Mayer und seine Frau Rosa?
Der Sohn eines einfachen Bauern aus dem Landkreis Rosenheim zeichnete sich in frühen Jahren als hilfsbereiter Mensch aus. Im Ersten Weltkrieg rettete er als Soldat bei Verdun unter Lebensgefahr verwundete Kameraden aus dem feindlichen Kugelhagel. 1920 bewarb er sich für den Polizeidienst. Faschistische Schreihälse und ihre völkische und nationalistische Propaganda waren ihm zuwider, er sympathisierte mit der Arbeiterbewegung. 1923 gehörte er der Einheit der Landespolizei an, die sich bewaffnet dem Putschversuch der Hitlerleute bei deren Marsch auf die Feldherrnhalle entgegenstellte.¹ 1930 schloss er die Ehe mit der Friseurin Rosa Windisch. Mayer entschied sich nach langem Widerstreben 1938 Mitglied der NSDAP zu werden.
Der Polizist, der Bauer und der Pfarrer
Polizist Mayer war kein heroischer Einzelgänger. Er stützte sich auf seine Ehefrau und seinen Sohn. Pauli war wie die meisten Kinder „Pimpf“ bei der Hitlerjugend. Obwohl dort zur Denunziation erzogen, verpetzte er seine Eltern nicht. Die Familie war eng mit dem Dorfleben verbunden. Man kannte sich und wusste, wer wie zum Nazi-Regime stand. Die Metzgersfrau Therese Schmid war als Nazigegnerin bekannt. Mayer setzte mehr als einmal seine Autorität ein und verhinderte ihren Abtransport ins KZ Dachau. Er war eng mit Georg Führmann befreundet, dem Vorsitzenden des christlichen Bauernverbands. Der steckte ihm heimlich Lebensmittel zu. Im Gegenzug half Paul Mayer ihm bei Stallarbeiten auf dem Hof. Auch der Dorfpfarrer Balthasar Burgmayr zeichnete sich in den letzten Kriegstagen durch Mut aus. Vor Eintreffen der amerikanischen Soldaten hisste er mit seinem Pfarrdiener die weiße Fahne am Kirchturm. Beide entgingen mit viel Glück der verhängten standrechtlichen Erschießung.
Zweierlei Pflichtgefühle
Der selbstlose Einsatz dieser Menschen straft die Schutzbehauptung jener Nazianhänger Lügen, die sich feige geduckt und danach angeblich von nichts gewusst haben. Und falls doch ihr Verhalten in der Nazizeit ans Licht kam, sich in die Rechtfertigung flüchteten, sie hätten nicht anders können, sie mussten ja nur ihre Pflicht tun. Paul Mayer machte sich in seiner Bescheidenheit später nichts aus großen Ehrungen. „Er behauptete stets, nur seine Pflicht als Mensch und Polizist getan zu haben.“²
Es gab überall Menschen, die Widerstand gegen den Faschismus leisteten. Mit dem Verbot der KPD und Ermordung vieler ihrer führenden Köpfe fehlte nach 1933 die Kraft, die alle Regungen des Widerstands im Land gebündelt hätte. Das wurde in der Nachkriegszeit der BRD weitgehend verschwiegen. Eine schonungslose Entnazifizierung fand in Westdeutschland unter amerikanischer Besatzung nicht statt. Viele alte Nazis nahmen über ihre Netzwerke wieder führend Einfluss auf die Bildungs- und Kulturpolitik. Das Vergessen ist ein latenter Nährboden für Antisemitismus und Antikommunismus. Heute erinnert nichts mehr im öffentlichen Raum von Lenggries an Rosa und Paul Mayer! Umso wichtiger ist es, die Wachsamkeit gegen die faschistische Gefahr zu wecken, die heute mit AfD und FPÖ in neuen Formen auftritt. Und mutige Antifaschisten aus der Geschichte öffentlich zu würdigen – als Vorbild für die Jugend.