Rote Fahne 15/2024

Rote Fahne 15/2024

Von Stalinstadt zu Eisen­hüttenstadt (1953 bis 1961)

„In keiner anderen Stadt spürt man den Sozialismus so sehr wie Eisenhüttenstadt“, so „Die Zeit“ vom 30. August 2019. Das will ich sehen. Vom Bahnhof muss ich zuerst eine Siedlung mit Einfamilienhäusern mit den üblichen Vorgärten passieren. Dann geht’s über den Oder-Spree-Kanal. Der war ein Grund für die Standortentscheidung Anfang der Fünfziger Jahre für das Eisenhüttenkombinat Ost und die dazugehörige Wohnstadt

Von Korrespondenz aus München
Von Stalinstadt zu Eisen­hüttenstadt (1953 bis 1961)
Paläste für (Stahl-)Arbeiter in der sozialistischen Wohnstadt Stalinstadt – in den 1950er-Jahren in der damaligen DDR verwirklicht (Block im Wohnkomplex III)

Die DDR hatte 1950 eine entwickelte Maschinenbauindustrie, aber keine Rohstoffe und keine Produktionsstätten für die Stahlproduktion. Für den sozialis­tischen Aufbau war wichtig, unabhängig zu werden von Stahllieferungen aus dem Westen. Ein eigenes Hüttenkombinat wurde gebraucht. Für den neuen Standort Eisenhüttenstadt lieferte ­Polen den Koks und das Eisenerz kam aus der UdSSR – alles per Schiff. Für den Bau des Hüttenkombinats lebten die Arbeiter noch in Baracken.

 

Für die Stahlwerker und ihre Familien galt es, menschenwürdige Unterkünfte zu schaffen. Die Notwendigkeit einer sozialistischen Wohnstadt war geboren.

Sozialistischer Städtebau 1950

Endlich sehe ich die klassizistischen Bauten der Wohnkomplexe II und III. Sie sind von einer breiten Straße getrennt, die ins Stadtzentrum führt. Ich begebe mich in die Höfe der beiden Wohnkomplexe und bin sehr überrascht von der Geschlossenheit der Bauten, der himmlischen Ruhe, die die Höfe ausstrahlen; vom parkähnlichen Grünzug; von den Fassaden der drei- und viergeschossigen Wohnblöcke, die wie toskanische Palazzi auf mich wirken.

 

Jeder Wohnkomplex stellte eine in sich geschlossene Siedlung dar, mit entsprechenden Versorgungseinrichtungen. Heute stehen viele dieser Läden leer oder sind Büros für Agenturen.

 

Man sieht Kinder­spielplätze, Gestelle zum Wäschetrocknen und parkende Autos, die das ursprüngliche Konzept nicht vorsah. Trotz schönen Wetters aber nur vereinzelt Leute. Berichten zufolge herrschte früher ein reges Leben in den Höfen. In den einzelnen Aufgängen gab es auch eine organisierte Nachbarschaft.

16 Grundsätze zur Stadtplanung

1950 erließ die DDR-Führung die 16 Grundsätze zur Stadtplanung. Sie zeigen die damaligen Vorstellungen von einer „sozialistischen Stadt“.

 

Der Generalplaner von Eisenhüttenstadt, Leucht, kennzeichnet: Das hervorragendste Merkmal des sozialistischen Städtebaus liegt darin, dass die sozialistische Stadt die Vorzüge der sozialis­tischen Planwirtschaft widerspiegelt; die Struktur und Komposition der Stadt, ihre Funktionen und Gebäude werden nicht im Interesse des kapitalistischen Profits, sondern für die Gesamtheit der Gesellschaft geplant und gebaut.

Paläste für die Arbeiter

Die Idee, Paläste für die Arbeiter zu errichten, als Gegensatz zur feudalen Schlossarchitektur, entstand in Wien, Anfang der 1920er-Jahre. Dort machte die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) die Lösung der Wohnungsfrage zu einer Hauptaufgabe.

 

Das bekannteste Beispiel ist der Wiener Karl-Marx-Hof. Der Palast sollte die Wohnungsnot lindern, den Flächenverbrauch begrenzen, die Wohnqualität erhöhen und Architektur sollte nicht nur funktional, sondern auch erlebbar sein.

 

Einzigartig an Eisenhüttenstadt sind die im klassizistischen Stil gestalteten Fassaden der Wohnhäuser, auch als sozialistischer Klassizismus bezeichnet. Das knüpfte an den deutschen Klassizismus des 18. und 19. Jahrhunderts an, an die nationale Bautradition, die auch dem Arbeiter und Bauern was bedeutete. Die an adlige Schlossarchitektur erinnernden Bauten sollten das neue Selbstbewusstsein des jungen Staates zeigen.

Veränderungen nach der Restauration des Kapitalismus ab 1956

1961 wurden die Städte Fürstenberg und Stalinstadt zu Eisenhüttenstadt zusammen­geschlossen, um den antikommunistisch unerwünschten Namen zu tilgen.

 

Nachdem die Stadt bis 1988 auf 60 000 Einwohner wuchs, entstanden die Wohnkomplexe IV und VII. Hier endet die sozialistische Idylle. Es fand ein revisionistischer Richtungswechsel statt. Vom Primat der Politik zum Primat der Ökonomie. Dem hatten auch Architektur und Städtebau zu gehorchen. Die Losung lautete: besser, schneller und billiger bauen. Statt Pastelltönen einheitsgrau.

 

Zu diskutieren ist, wie heute eine sozialistische Planstadt aussehen könnte. Viele Ansätze der „16 Grundsätze“ sind auch heute gültig. Wie Bauen und Wohnen nachhaltig und im Einklang mit der Natur zu bewerkstelligen ist, wäre eine heute notwendige, zu ergänzende Seite.