Rote Fahne 15/2024

Rote Fahne 15/2024

„Die Hälfte der Bevölkerung ist auf der Flucht“

Der aus dem Sudan geflüchtete Mouhamed¹ lebt und arbeitet seit mehreren Jahren in Deutschland. Er berichtet über die dramatische Entwicklung in seinem Heimatland:

„Die Hälfte der Bevölkerung ist auf der Flucht“
Stoppen Sie die Morde und Vergewaltigungen in Darfur! Foto: Alisdare Hickson/CC BY-SA 2.0

Rote Fahne: Wann ging der aktuelle Bürgerkrieg im Sudan los und welche Folgen hat er für die Menschen?

Mouhamed: Der Bürgerkrieg begann im April 2023, zuerst in der Hauptstadt Khartum. Mittlerweile hat er sich auf das ganze Land ausgebreitet. Die Hälfte der Bevölkerung ist bereits auf der Flucht. Die meisten fliehen nach Ägypten, Libyen oder Tschad. Sie hoffen, dort Sicherheit zu finden, werden aber oft auf der Flucht von der Gewalt eingeholt und getötet.

 

Wer kein Geld hat, kann nicht fliehen. Wer nicht flüchten kann, schwebt in ständiger Lebensgefahr. Alle Straßen werden von Bewaffneten kontrolliert. Vor kurzem habe ich mit meinem jüngeren Bruder telefoniert. Er berichtete, dass bewaffnete Milizen die Habseligkeiten und Einrichtungsgegenstände der Familie einfach mitnahmen. Meinen Onkel zwangen sie, ihnen das letzte Geld zu geben, das er noch zum Leben hatte.

 

Was sind das für Menschen, die so etwas tun?

In unserer Region ist das die Dschandschawid-Miliz. Das sind Faschisten. Sie gehen extrem unmenschlich vor, vergewaltigen Frauen und schlachten Menschen auf offener Straße ab. Sie wurden von der alten Regierung mit Waffen ausgerüstet, um konkurrierende Milizen zu bekämpfen. Inzwischen wurden die aus den Dschandschawid hervorgegangenen „Rapid Support Forces“ (RSF) auch durch faschistische Söldner aus anderen Ländern verstärkt, unter anderem aus Mali, Libyen und dem Südsudan.

 

Vor dem Bürgerkrieg seit April 2023 gab es eine breite Aufstandsbewegung. Was ist daraus geworden?

Es gab schon 2019 Massenproteste gegen die Regierung unter Umar al-Baschir. Sie richteten sich gegen die große Armut, obwohl Sudan eines der reichsten Länder Afrikas ist, aber auch gegen das katastrophale Bildungs- und Gesundheitssystem und die politische Unsicherheit. Al-Baschir wurde dann vom Militär abgesetzt. Die Übergangsregierung, auf die sich die Militärführung und die Aufstandsbewegung einigten, brach 2023 aufgrund der imperialistischen Einmischung auseinander.

 

Neben den offiziellen Streitkräften und den RSF kämpfen weitere Milizen um die Vorherrschaft. Dahinter stecken imperialistische Mächte wie USA, Russland, Iran und Saudi-Arabien. Sie wollen vor allem Einfluss auf die Bodenschätze – Erdöl, Erdgas, Eisen, Gold und Uran – und auf die bedeutende   Zuckerindustrie bekommen. Große Gebiete werden inzwischen von Russland kontrolliert. Im Südosten der Region Darfur haben mit den USA verbündete Kräfte rund 30 Prozent des Gebiets besetzt.

 

Wurde also die Aufstandsbewegung um ihre Ziele betrogen?

Die große Mehrheit der Bevölkerung wollte vor allem eine bessere Zukunft und Demokratie. Die Regierungen verstecken sich hinter ihrer Maske und tun so, als ob sie sich dessen annehmen. Tatsächlich haben sie die Leute belogen und betrogen und unser Land der imperialistischen Ausplünderung preisgegeben.

 

Hast du selbst den brutalen Krieg im Sudan miterlebt?

Ich bin schon 2014 geflohen. Davor habe ich selbst einen Bürgerkrieg in der Provinz Kurdufan erlebt. Ich sah mit meinen eigenen Augen, wie Menschen getötet wurden. Ich wurde selbst verletzt und habe Freunde durch Raketenbeschuss verloren.

 

Als die Proteste im Sudan begannen, sind wir auch in Deutschland auf die Straße gegangen. Die Massen im Sudan waren gegen die Regierung und wollten ein neues System haben. Die Übergangsregierung hat alles Mögliche versprochen, doch es waren leere Versprechungen.

 

Bei den Massenprotesten seit 2019 war es doch so, dass die Menschen ihre Angst vor der gewaltsamen Unter­drückung überwunden haben …

Auf dem Höhepunkt der Proteste haben an einem Tag bis zu 600 000 Menschen im ganzen Land demon­striert.

 

Hunderte wurden getötet, verhaftet und gefoltert. Doch die Protestierenden haben ihre Angst davor besiegt.

 

Was ist die Perspektive für das sudanesische Volk?

Ohne Friedensverhandlungen wird es keine Lösung geben. Um das durchzusetzen, müssen sich die Menschen breit zusammenschließen – und mit der revo­lutionären Weltorganisation ICOR zusammenarbeiten, die beim Aufbau einer marxistisch-leninistischen Partei helfen wird.

 

Gibt es auch im Sudan Marxisten-Leninisten, die eine klare Perspektive für die Menschen haben?

Ich denke, dass es solche Organisationen gibt, auch wenn ich sie persönlich nicht kenne. Das Problem ist, dass man bei uns nicht einfach auf die Straße gehen und sich zu erkennen geben kann.

 

Vielen Dank für das Interview