Rote Fahne 09/2024

Rote Fahne 09/2024

Sowjetunion, 1962: Streik mit roten Fahnen und Lenin-Porträts

In den bürgerlichen Medien wird peinlichst vermieden, den diametralen Bruch in der Geschichte der Sowjetunion durch das Abgehen vom Marxismus-Leninismus und die Einführung des bürokratischen Kapitalismus auch nur zu erwähnen.

Von dj
Sowjetunion, 1962: Streik mit roten Fahnen und Lenin-Porträts
Der Arbeiteraufstand von Nowotscherkassk wurde vor allem von Arbeitern und Jugendlichen getragen. Die Rote Fahne veröffentlichte in der Ausgabe 1/2024, S. 20, eines der sehr seltenen Fotos, das diesen Widerstand gegen Chruschtschows Politik der Restaurierung des Kapitalismus in der Sowjetunion dokumentiert.

Doch wurde dieser Verrat von den sowjetischen Massen keineswegs widerstandslos hingenommen. Sie spürten vor allem an ihren Lebensverhältnissen den Unterschied zwischen Sozialismus und dem neu eingeführten bürokratischen Kapitalismus, und viele begegneten dem mit offenem Hass und Widerstand. Der Arbeiteraufstand von Nowotscherkassk war ein Höhepunkt dieses Widerstands. Er begann als selbständiger Streik mit Demonstration auf dem Werk für Elektroloks in dieser Stadt.

 

Es war sechs Jahre nach dem 20. Parteitag der KPdSU. Unter Führung Nikita Chruschtschows hatten damals entartete Bürokraten den Sozialismus verraten und die Macht an sich gerissen. Nach diesen sechs Jahren zeigte die Ausrichtung der Betriebe auf den „eigenen“ Gewinn, nämlich den für die führenden Bürokraten in Partei, Staat und Wirtschaft, bereits verheerende Wirkung. Mehr Geld aus den Arbeitern herausholen, weniger in die Höherentwicklung von Produktion, Technik und damit Produktivität stecken. Die Landwirtschaft war mit der Schließung der MTS-Stationen (Maschinen-Traktoren-Stationen), das heißt mit dem Ende der gemeinsamen Nutzung und Reparatur der landwirtschaftlichen Technik, ruiniert worden. Es mangelte an Nahrungsmitteln in dem an landwirtschaftlichen Ressourcen reichen Land, so dass die Herrschenden sich gezwungen sahen, in diesem Jahr erstmals wieder Getreide einzuführen.

Chruschtschow legte die Lunte ans Pulverfass

In dem Elektrolokomotivenwerk waren die Zuschläge für Schwerarbeit, die einen großen Teil der Arbeit ausmachte, im Frühjahr 1962 gesenkt und zugleich die Arbeitsnorm erhöht worden, was zusammen eine Lohnsenkung um 10 Prozent bedeutete. Die Wohnverhältnisse waren miserabel und machten dazu noch über 30 Prozent des Lohns für die Miete aus.

 

In dieser Situation wurde am 1. Juni in der ganzen Sowjetunion die Erhöhung der Preise für Milch- und Fleischprodukte um 31 Prozent und für Butter und Öl um 25 bis 35 Prozent bekannt gegeben. Nikita Chruschtschow¹ wollte so die Nahrungsnachfrage senken, da die Landwirtschaft nicht mehr genügend liefern konnte. Unter Stalin war Jahr für Jahr eine Riesenliste mit Preissenkungen erschienen. Es war eine der Formen, mit der die Massen in der damals sozialistischen Sowjetunion an der Erhöhung von Produktion und Produktivität teilhatten und mit dem das Lebensniveau der Massen erhöht wurde. Chruschtschows Preiserhöhung für wichtigste Grundnahrungsmittel war ein Schock im ganzen Land.

Streik dehnte sich rasch aus

In Moskau, Leningrad, Kiew, Donezk, Dnjepropetrowsk und anderen Großstädten erschienen Flugblätter mit Aufrufen zum Sturz der „gegen das Volk gerichteten sowjetischen Macht“. Am Tag der Verkündung der Preiserhöhungen legten um 10 Uhr 200 Stahlarbeiter des Elektrolokomotivenwerks die Arbeit nieder, gingen zur Leitung, forderten höhere Löhne. Auf dem Weg schlossen sich weitere an. Rund 1000 standen dann vor dem Direktor und fragten: „Wovon sollen wir in Zukunft leben?“ Für seine höhnische Antwort erntete er Pfiffe, brachte die Situation zum Platzen und floh. Um 13 Uhr streikten bereits 4000 Kollegen. Sie blockierten die Eisenbahngleise der Hauptverbindung nach Rostow und in andere Richtungen. Chruschtschow wurde vom Werksdirektor sofort informiert und gab den Befehl, den Streik gewaltsam zu beenden. Zunächst wollten dem Miliz und Armee nicht folgen. Sie kehrten um oder verteilten sich unter den Streikenden und deren Unterstützern.

 

Am zweiten Tag waren die Tore überall von Miliz, Geheimdienst KGB und Militär besetzt, die die Arbeiter aufforderten, an die Arbeit zu gehen. Daraufhin schlossen sich noch mehr von ihnen dem Streik an, weil sie nicht unter Aufsicht des Militärs arbeiten wollten. Die Arbeiter, Bewohner des Vororts, Frauen und Kinder marschierten mit roten Fahnen und Lenin-Porträts zum Parteihaus im Zentrum der Stadt. Sie ließen sich davon auch nicht durch die mit Panzern besetzte Brücke abhalten, marschierten ruhig mitten durch sie hindurch.

Regierung lässt auf Arbeiter schießen

Vor dem Parteihaus angekommen, empfing sie eine Salve von Schüssen. 17 Arbeiter waren sofort tot. Weitere fünf wurden beim Versuch, sich gegen die staatliche Miliz zu wehren, erschossen. Insgesamt 70 wurden schwer verletzt mit Schusswaffen, weitere zwei noch am Abend erschossen. Dass der Gewaltapparat auf einfache Arbeiter schoss, was sich vorher die mit Leninbildern demonstrierenden Kollegen nie hätten vorstellen können, wollten Chruschtschow und Konsorten unbedingt geheim halten.

 

Es gelang ihnen nicht völlig. So wurde im Oktober 1962 der Arbeiter Baskalow in einer nahegelegenen Stadt vor den Staatsanwalt gezerrt. Er hatte Chruschtschow kritisiert und in einem Flugblatt, das er an eine Anschlagtafel klebte, geschrieben: „Nur in kapitalistischen Ländern und im zaristischen Russland hat man zu solchen Maßnahmen gegriffen, wie jetzt unsere Regierung in Nowotscherkassk. … Sie setzen Panzer und Gewehre gegen unbewaffnete friedliche Menschen ein. Schande über unsere Regierung!“²

– Fortsetzung folgt –