Rote Fahne 04/2024

Rote Fahne 04/2024

„Es geht um das nackte Überleben“

Wieland Hoban, Vorsitzender des Vereins „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ zur Lage im Gaza:

„Es geht um das nackte Überleben“
Wieland Hoban, Vorstandsmitglied des Vereins „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“

Rote Fahne: Die Bundesregierung weist den gegen die israelische Armee erhobenen Vorwurf eines Völkermords in Gaza entrüstet zurück. Was ist davon zu halten?

 

Wieland Hoban: Dies war eine unsachliche und arrogante Antwort. Ohne auf den Inhalt der Klage einzugehen oder überhaupt anzuerkennen, dass es sich hier um ernstzunehmende Vorwürfe und nicht einfach eine unseriöse Frechheit handelt, hat die Bundesregierung behauptet, die Beschuldigung entbehre jeder Grundlage. Mit solchem Verhalten diskreditiert sich Deutschland international.


Benjamin Netanjahu will den Palästinensern nicht einmal mehr eine Zweistaatenlösung zubilligen …

 

Netanjahu hatte noch nie eine politische Vision, die über Herrschaft und Spaltung hinausging. Er hat Jahre lang sein Bestes getan, um irgendeine Art von palästinensischer Einheit zu verhindern. Er sorgte zusammen mit dem Westen dafür, dass die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) zwar schwach war, aber nicht zusammenbrach. Er erreichte auch, dass die Hamas zwar politisch isoliert war und als absoluter Feind galt, aber gelegentlich genug Unterstützung bekam, um ein Gegenpol zur PA zu bleiben. Er hat sich aber verschätzt, er hat die Hamas unterschätzt, und jetzt bleibt ihm nur noch genozidale Gewalt übrig. Viele von denen, die nicht von Bomben getötet wurden, werden jetzt verhungern oder an Krankheiten sterben. Eine Vertreibung der Palästinenser nach Ägypten oder noch weiter weg ist für einige israelische Politiker das Ziel, andere wollen sie komplett vernichten.


Ist es nicht ermutigend, dass schon nach wenigen Monaten Krieg auch in Israel wieder Menschen protestieren?

 

Wie in den Monaten vor dem 7. Oktober gibt es wenige bei den Protesten, die tatsächlich für die Rechte und das Leben der Palästinenser demonstrieren. Vorher ist die überwältigende Mehrheit für die Abwendung einer religiösen Diktatur auf die Straße gegangen, nicht für das Ende von Besatzung und Apartheid. Es gab einen kleinen Block, der es tat, er wurde aber von der Polizei bedrängt und bekam wenig Unterstützung. Jetzt gibt es Demonstranten, die zur Rettung der Geiseln ein Ende des Genozids fordern. Manche, die sogar Angehörige am 7. Oktober verloren haben, betonen auch die Unmenschlichkeit der Gewalt. Auch hier gibt es einen linken Block, der klein aber hartnäckig ist. Dort wird der Genozid benannt und die Freiheit der Palästinenser gefordert. Und erneut werden diese Aktivisten von der Polizei bedrängt. Die große Mehrheit steht hinter der Gewalt, bei einer Umfrage fanden 57 Prozent der Befragten sogar, sie gehe noch nicht weit genug.


Was halten Sie von der Position der MLPD, dass ein friedliches Zusammenleben von Palästinensern und Juden nur in einem gemeinsamen sozialistischen Staat möglich ist?

 

In der jetzigen Situation ist es vielleicht ein Luxus, über diese Optionen zu diskutieren; im Vordergrund steht ein Ende der Tötung und Vertreibung, es geht um nacktes Überleben. Ich glaube nicht, dass die Gesamtbevölkerung des Gebiets Israel-Palästina mehrheitlich den Sozialismus will, und auch wenn das letztlich das Ziel für eine befreite Gesellschaft sein müsste, ist hier wirklich ein Schritt nach dem anderen zu tun.


Danke für das Interview.