Rote Fahne 24/2023

Rote Fahne 24/2023

Was mit der gewonnenen Zeit anfangen?

Ein Leser stellt seine Erfahrungen mit dem Übergang in den Ruhestand zur Diskussion.

Von einem Korrespondenten aus Stuttgart
Was mit der gewonnenen  Zeit anfangen?
Als Rentner bewusst entscheiden, womit man sich beschäftigt – offen sein für Neues und sein Leben neu organisieren

Gerade war ich noch voll im Arbeitsleben, machte meine Arbeit mal mit mehr, mal mit weniger Freude und setzte mich dafür ein, unsere Interessen als  Arbeiterinnen und Arbeiter organisiert und im gemeinsamen Kampf zu verteidigen und zu verbessern. Jetzt, von einem Tag auf den anderen, bleibe ich  morgens liegen, kann endlich ausschlafen, muss nicht mehr um 5 Uhr raus.

 

Jetzt heißt es, einen neuen Rhythmus zu finden, sich bewusst zu entscheiden, was mit der gewonnenen Zeit angefangen wird. Übergänge im Leben sind immer mit einer Entfaltung der Widersprüche verbunden. Es gilt, sich bewusst zu entscheiden, womit man sich jetzt beschäftigt. So oft es geht, morgens laufen, in  Bewegung bleiben, um die eigene Gesundheit zu erhalten. Das habe ich sofort angepackt.

Die Freizeitindustrie lockt ...

Die Medien und Freizeitindustrie sehen uns Ruheständler als Markt und werben um unser Geld. Reisen, Hobbys, sich um Enkel kümmern oder einfach endlich mal nach sich selbst schauen. Alles das hat auch eine Berechtigung. Aber bin ich jetzt plötzlich kein Arbeiter mehr, gilt jetzt nicht mehr „um uns selber müssen wir uns selbst kümmern“, weil im Ruhestand?


Oft bekommt man ja von älteren Kollegen zu hören „jetzt sollen mal die Jungen ran, ich habe genug gekämpft“. Angesichts der latenten Existenzkrise der  Menschheit mit Weltkriegsgefahr und begonnener globaler Umweltkatastrophe braucht es jedoch den gemeinsamen Kampf von Jung und Alt umso mehr. Ganz abgesehen davon, dass es die Erfahrungen von uns Älteren braucht. In vielen Betrieben hat der Generationswechsel dazu geführt, dass die Kolleginnen und Kollegen kaum echte Streikerfahrung haben.


Auch als organisierter Marxist-Leninist ist man nicht frei von der ganzen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Beeinflussung. Dazu kommt, dass in der  Partnerschaft das Zusammenleben neu organisiert und die Aufgaben neu verteilt werden. Das ist auf jeden Fall eine Herausforderung an die Streitkultur, auch um unterschiedliche Lebensrhythmen zusammen zu bringen.


Aber da sind auch ernste Erkrankungen zu bewältigen, was bei manchen mit einer Endzeitstimmung einhergeht, den „Rest des Lebens“ zu genießen, statt  weiter einen – den gesundheitlichen Möglichkeiten entsprechenden – Beitrag zum gemeinsamen Kampf zu leisten.

Der Kampf geht weiter

Der Kampf für eine von Ausbeutung und Unterdrückung befreite Welt endet also nicht mit dem Ende des Arbeitslebens. Mit der persönlichen Erfahrung und Ausbildung dazu beizutragen, dass er nicht nur weitergeht, sondern beschleunigt zum Erfolg geführt wird, ist deshalb nicht nur eine von vielen Möglichkeiten.


Es ist ein Sieg des proletarischen Klassenbewusstseins über den kleinbürgerlich-individualistischen Weg, wie wir ihn bereits im Arbeitsleben jeden Tag erkämpfen mussten.