Rote Fahne 22/2023

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Italien: Vor 60 Jahren Katastrophe am Vajont-Stausee

Profitgier und Ingenieursdünkel rissen vor 60 Jahren 2000 Menschen in den Tod. Ein Korrespondent hat vor Ort am Vajont-Stausee recherchiert

Von einem Korrespondenten aus Berlin
Italien: Vor 60 Jahren Katastrophe am Vajont-Stausee
Longarone nach der Katastrophe

Longarone ist ein altes italienisches Städtchen in den Alpen. Trotzdem gibt es dort keine alten Häuser. Die Ursache kann man vom neuen Stadtplatz aus gut sehen: eine Staumauer hoch oben im gegenüberliegenden engen Gebirgseinschnitt des Vajont-Flusses. Nur 190 Meter breit, jedoch 261 hoch. Bei Fertigstellung 1960 die höchste der Welt.

Rücksichtslose Durchsetzung großer Staudammprojekte

Rückblende: Der italienische Imperialismus wurde im Zweiten Weltkrieg sehr geschwächt. Viele Industrieanlagen waren zerstört, alle Kolonien verloren. Für die italienischen Monopole hatte ein rascher Wiederaufbau der Industrie zur Sicherung ihrer Macht oberste Priorität. Kohle als Energiebasis dafür stand in Italien jedoch kaum zur Verfügung. Das war der allgemeine Hintergrund für die Planung und rücksichtslose Durchsetzung großer Staudammprojekte zur Stromerzeugung.

 

Beim Vajont-Staudamm begann der Energiekonzern SADE¹ mit dem Bau 1956, noch bevor die zuständigen Ministerien überhaupt ihre Zustimmung erteilt hatten. Vielfache Warnungen der Einheimischen, dass die Berge des Vajont-Tals instabil sind und es früher schon zu Rutschungen kam, wurden ignoriert. Die bürgerliche Presse verbreitete die SADE-Beruhigungspillen, man habe alles im Griff.

Katastrophe statt „Naturschauspiel“

Ein unabhängiger Geologe, Leopold Müller aus Österreich, kam nach umfangreichen Untersuchungen zu dem Schluss, dass ein riesiger Bergrutsch unvermeidbar ist – außer man stellt das Stauseeprojekt sofort ein. Undenkbar für die SADE und ihre profitgierigen Aktionäre, undenkbar auch für die Chefingenieure, die so stolz auf ihren „höchsten Staudamm der Welt“ waren.

 

Damit nahm die Katastrophe ihren Lauf. Auf der einen Seite des Vajont-Tals hatte die Gesteinsstruktur eine Besonderheit: Eine nur wenige Zentimeter dicke, aber großflächige poröse Tonschicht zog sich rund zwei Kilometer schräg durch den Abhang. Dort drang nun langsam Wasser ein. Der enorme Wasserdruck des Stausees begann außerdem, den unteren Teil des Abhangs anzuheben.

 

Am 2. September war offensichtlich ein Kipppunkt überschritten. Der ganze Abhang fing an, sich talwärts zu bewegen. Zuerst 6 Millimeter, dann 12, dann 22 Millimeter pro Tag. Am 9. Oktober rissen im oberen Hang große Spalten auf. Bäume stürzten langsam um, man konnte die Bewegung des Hangs von der Dammkrone aus direkt beobachten. Und das taten die Ingenieure auch! Sie hatten zuvor eine maximal 20 Meter hohe Wasserwelle berechnet, den Wasserspiegel „vorsorglich“ um 25 Meter abgesenkt und erwarteten nun ein „Naturschauspiel“. Eine vorsorgliche Warnung der Bevölkerung unterhalb des Staudamms hielt man für unnötig.

 

Was dann passierte, erklärte der Geologe Müller später so: „Durch hohen Druck und die zunehmende Bewegung stieg die Temperatur in den tongefüllten Klüften so weit, bis der Ton anfing, zu dehydrieren. Fast explosionsartig stieg damit der Porenwasser-Druck. Die Reibung ging abrupt verloren.“²

70 Meter hohe Flutwelle

Um 22.39 Uhr rutschten Millionen Kubikmeter Gebirge schlagartig in den Stausee. In wenigen Sekunden wurde eine Energie vergleichbar mit drei Hiroshima-Atombomben freigesetzt.³

 

Nicht 20 Meter, sondern über 200 Meter hoch schlug das Wasser auf der gegenüberliegenden Talseite auf!⁴ Die Staumauer hielt stand, das Wasser schoss darüber hinweg. Das tief darunter liegende Longarone wurde von einer 70 Meter hohen Wasserwand getroffen, die im Zen­trum alle Häuser bis auf die Grundmauern wegriss. 350 Familien wurden komplett ausgelöscht, darunter 487 Kinder unter 15 Jahren. Viele Tote wurden nie gefunden.

 

Die Überlebenden mussten über 30 Jahre lang für Schadenersatz streiten, denn SADE/ENEL betrieb systematisch Spurenverwischung unter dem Motto „unvorhersehbare Naturkatastrophe“. Keinesfalls sollte der Kapitalismus und die mit ihm verbundene Krise des bürgerlichen Ingenieurswesens in die Kritik geraten.

 

Das 2023 erschienene Buch von Stefan Engel „Die Krise der bürgerlichen Naturwissenschaft“ führt dazu treffend aus: „Nach dem Motto ‚Hauptsache, es funktio­niert und bringt Profit‘ wird der Pragmatismus zur allgemeinen Leitlinie.“ Dazu kommt „ein Architekten- und Ingenieursdünkel, geprägt von abgrundtiefem Idea­lismus und Metaphysik. Dieser Dünkel folgt der selbstverliebten Illusion, sich die Welt nach den eigenen genialen Entwürfen unterwerfen zu können – losgelöst von ihren objektiven Gesetzmäßigkeiten, den realen Bedingungen des Projekts und den Interessen von Mensch und Natur.“⁵

 

60 Jahre Vajont-Katastrophe – ein Lehrbeispiel für die Untauglichkeit der bürgerlichen Weltanschauung zur Lösung der Probleme der Menschheit.