Rote Fahne 17/2023

Rote Fahne 17/2023

"Wir müssen uns international zu einer Front zusammenschließen“

Ahmet Kobanê kommt aus der Stadt Kobanê in Rojava (Nordsyrien) und ist 53 Jahre alt. Er lebt seit elf Jahren in Deutschland und ist Vorsitzender von FEDMED, der Dachorganisation der kurdischen Vereinigungen in Nordrhein-Westfalen. Die Rote Fahne Redaktion hatte vor kurzem die Gelegenheit, mit ihm zu sprechen.

"Wir müssen uns international zu einer Front zusammenschließen“
Internationale Brigadisten der Weltorganisation ICOR und einheimische Arbeiter bauen gemeinsam das Gesundheitszentrum in Kobanê (2015)

Rote Fahne: Wie kam es eigentlich zur demokratischen Revolution in Rojava?

Ahmet Kobanê: Schon vor der Revolution in Rojava hatte sich die ganze Gesellschaft von Rojava politisiert in Verbindung mit der Entwicklung des kurdischen Befreiungskampfes. Das syrische Regime wollte das nicht, ebenso nicht die türkische Regierung, noch die iranische Regierung oder irakische Regierung. 2004 wurde ein Plan geschmiedet von der syrischen Regierung, dass Kurden und Araber sich gegenseitig bekriegen, damit die Gesellschaft auseinandergerissen werden sollte, und es Hass untereinander gibt. Da haben wir verstanden, wenn wir kein Bündnis mit der arabischen Bevölkerung schließen, werden wir untergehen. Es wurden nachbarschaftliche Arbeiten zusammen ausgeführt, ein revolutionäres Bündnis gegründet mit verschiedenen Ethnien und Religionen gegen das Regime.

 

Der arabische Frühling 2011 ist für uns eigentlich der Frühling der Völker. Ich war am Beginn der Revolution in Rojava dabei. Wir wollten, dass das Volk in Syrien eins wird, also alle Völker sich vereinigen. Und dass unsere Revolution nicht gestohlen wird. Wir möchten keine Regierung, wo eine Kraft wie Russland oder der Iran dahintersteht. Dann wäre man ja wieder abhängig.


Später wurden die ganzen islamistischen Kräfte von der Türkei nach Rojava geschickt, um gegen die Kurden zu kämpfen. Wir haben unsere Gebiete verteidigt. Jeden Tag hat unsere Revolution mehr Zuspruch gefunden. Unsere militärische Kraft, YPG und YPJ, wurde gegründet. Es wurden Kantone gegründet. Das war der türkischen Regierung natürlich nicht recht. Aber wir haben unseren Platz aufgebaut und sind geblieben in unserem Land.


Was wurde mit der demokratischen Revolution in Rojava bislang erreicht?

Seit elf Jahren haben wir ein System etabliert, auch im Mittleren und Nahen Osten wird das von den Menschen akzeptiert. Es gibt Frauenrechte, eine Selbstverteidigung, Rechte für die Jugend, eine Ökologie. Und das wollte die Türkei uns wegnehmen. Im Nahen und Mittleren Osten ist das auch etwas Neues, der demokratische Konföderalismus. Wir erkennen die Vierteilung Kurdistans durch den Vertrag von Lausanne nicht an. Die Macht der Imperialisten in der Region beruht auf der Vierteilung Kurdistans.


Man hört immer wieder von türkischen Angriffen auf Rojava …

Ständig werden Städte in Rojava durch die Türkei bombardiert. Diejenigen, die gegen den Terror des IS gekämpft haben, werden heute durch die türkische Regierung umgebracht. Obwohl die beiden Weltmächte USA und Russland noch da sind in Rojava, werden von der Türkei die Angriffe gegen unser Volk gestartet. Russland und USA bleiben stumm zu diesen Angriffen. Auch die NATO schweigt dazu. Auch Europa schweigt dazu.


Wir machen auch in Europa sehr viele Aktionen, Demonstrationen und so weiter. Und machen bekannt, dass in unserem Land ein Völkermord stattfindet. Viele Länder in Europa versuchen, auch unsere Demonstrationen zu verbieten und zu kriminalisieren. Es wurde behauptet, in Rojava würden nur Araber leben. Aber das stimmt nicht, dort leben auch Kurden. In Afrîn mussten 700 000 meist kurdische Menschen wegen der Angriffe der türkischen Regierung und Besatzung fliehen. Es wurden Menschen aus Kasachstan und Afghanistan nach Afrîn gebracht, um einen demografischen Wandel zu organisieren, ebenso in andere von der Türkei besetzten Gebiete.


Was bleibt: Wir müssen uns organisieren, mehr Menschen gewinnen und die Revolution vorantreiben. Es ist ein beschämendes Zeugnis für die Weltgemeinschaft, dass ein Volk mit 40 Millionen immer noch kein eigenes Land hat.


Wie beurteilst du die Rolle der deutschen Regierung?

Aus der Geschichte sieht man, dass die Staaten Deutschland und Türkei seit 200 Jahren eine enge Freundschaft haben. Die Türkei versucht sich im Nahen und Mittleren Osten zu etablieren. Früher gab es mehrere kurdische Aufstände in Kurdistan. Man kann auch sehen, dass deutsche Generäle dort zusammen mit der Türkei gegen Aufstände gekämpft haben. Es gibt ein Sprichwort: Wer am meisten einkauft, ist der beste Freund. Und die Türkei kauft viel von Deutschland. Deutschland spielt ein doppeltes Spiel gegenüber der Revolution in Rojava.


In der internationalen Vereinbarung hatte auch Deutschland erklärt, dass sie gegen den IS kämpfen würden. Aber in ihrem Land verbieten sie die Flagge der YPG und YPJ, um ihre wirtschaftlichen Interessen zu pflegen. Deswegen betreiben sie auch die antikurdische Politik. Aber die deutsche Bevölkerung hat Respekt vor der Revolution, und viele haben auch teilgenommen.


Wie bewertest du den Wert der internationalen Solidarität mit der demokratischen Revolution in Rojava?

Wir betreiben unsere Revolution nicht mit den Regierungen anderer Länder, sondern mit den Menschen. Es gibt sehr viele kurdische Organisationen, die mit deutschen Kräften zusammenarbeiten, eine davon ist die MLPD. Wir sehen auch, wie schwierig eure Reise nach Rojava zum Aufbau des Gesundheitszentrums war, und dass ihr es aufgebaut habt. Das arbeitet sehr gut. Ich bedanke mich ganz herzlich für eure Arbeit. Das zeigt uns, dass die Regierungen nicht den Weg der Menschen aufhalten können. Wenn revolutionäre Menschen da sind, kann keine Regierung diesen Weg aufhalten.


Was meinst du, wie muss sich die internationale Solidarität höherentwickeln?

Die imperialistischen Mächte möchten die ganze Welt regieren, sie reißen die ganzen Rechte der Welt an sich, sie meinen, sie wären die Richter über den Menschen.


Eine Partei alleine kann den Widerstand nicht leisten. Deswegen müssen revolutionäre Organisa­tionen, Arbeiterparteien, Gewerkschaften, Jugendverbände und so weiter alle zusammenarbeiten. Alle müssen wir uns zu einer Front zusammenschließen, zu einer Einheit gegen die imperialistische Politik. Vielleicht an verschiedenen Orten, in Deutschland, in Kurdistan oder anderswo, aber vereint im gemeinsamen Kampf.


Herzlichen Dank für dieses Gespräch!