Rote Fahne 15/2023

Rote Fahne 15/2023

Krokodilstränen über Fachkräftemangel

Am 23. Juni 2023 beschloss der Bundestag ein neues Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Rund um diesen Beschluss gibt es die Debatte, ob und inwiefern es …

Von nek / mst
Krokodilstränen über Fachkräftemangel
(foto: Vecstock / Freepik)

… in Deutschland einen Fachkräftemangel gibt und woher er kommt. Unter Krokodilstränen bejammern bürgerliche Politiker und Industrielle, dass es knapp zwei Millionen offene Stellen in Deutschland gibt. Ohne Zweifel: Gerade im Handwerk, in Pflegeberufen, der Gastronomie, im IT-Bereich sowie in neuen Bereichen wie Batterie- und Wasserstoffproduktion werden zum Teil händeringend Arbeitskräfte gesucht. Unternehmerverbände und Regierung nehmen das zum Anlass, verstärkt Fachkräfte aus dem Ausland abzuwerben und die Rente mit 70 oder Verlängerung der Wochenarbeitszeit zu fordern. Dabei ziehen sich gerade die Monopole immer weiter aus der Berufsausbildung zurück und lassen das Potenzial von offiziell 2,6 Millionen Arbeitslosen auf der Straße liegen. Per Gesetz wird Hunderttausenden Flüchtlingen verboten, Arbeit anzunehmen. Viele Migranten werden für schlecht bezahlte Arbeiten eingesetzt, statt sie für die dringend benötigten Berufe zu qualifizieren.


Die unterschiedlichen Gründe des Fachkräftemangels sind vor allem der Monopolpolitik selbst geschuldet.

Verschärfte Ausbeutung bringt viele an ihre Grenzen

Mit den pandemiebedingten Schließungen haben allein 216 000 Beschäftigte in Gastronomie und Hotels ihre Jobs verloren. Fast die Hälfte davon ist danach in anderen Jobs geblieben.¹

 

Ein Hauptgrund sind die unsicheren Arbeitsbedingungen, niedrige Löhne und Arbeitshetze. Auch in der Pflege hat sich während der Coronapandemie die Personalabwanderung verstärkt. Mindestens 300 000 Vollzeitkräfte würden in ihren Job zurückkehren, wenn sich die Arbeitsbedingungen und Löhne deutlich verbessern würden.²

 

Die kämpferischen Gewerkschafter von Ver.di haben in den Tarifrunden unmissverständlich mehr Personal, höhere Löhne und Wertschätzung der Arbeit im öffentlichen Dienst sowie in Pflegeberufen gefordert: „Wir zahlen unsere Miete nicht vom Klatschen“, oder: „Nicht der Streik ist das Problem, sondern der ‚Normal‘betrieb“.

Radikale Kürzung der Ausbildungskosten

Gerade die Monopole „sparen“ sich immer stärker die Kosten für die Ausbildung der Jugendlichen und Weiterbildung. Sie wälzen diese immer mehr auf die Allgemeinheit ab. Duale Studiengänge nehmen zu und durch Verzahnung von Fachhochschulen und Betrieben zur Erforschung neuer Technologien greifen Großkonzerne auf die für sie am besten geeigneten Studierenden zu.

 

Zugleich bilden sie am wenigstens aus und schöpfen oftmals die von kleineren Betrieben ausgebildeten jungen Leute nach der Lehre ab. 2018 lag die Ausbildungsquote in Betrieben ab 500 Beschäftigten bei 4,3 Prozent, in Klein- und Mittelbetrieben bei 5,7 Prozent.

 

Besonders drastisch ist das bei den „ganz Großen“: So hat VW mit 120 000 Beschäftigten in Deutschland und 1150 Ausbildungsstellen eine Ausbildungsquote von nicht mal ein Prozent! 2010 lag sie noch bei 3,5 Prozent. Konzerne wie VW sind es, die am lautesten über „Fachkräftemangel“ jammern. Dabei ist dieser im Wesentlichen „hausgemacht“. Die bis zu zehnmal höheren Bewerberzahlen für eine Ausbildung in Großbetrieben zeigen zugleich das große Interesse der Jugend an Arbeit auf hohem technischen Niveau.

 

47 000 Schüler verließen 2021 die Schule ohne Schulabschluss. Die deutsche Regierung rühmt sich, die Ausgaben pro Schüler 2021 gegenüber dem Vorjahr um 500 Euro auf durchschnittlich 9200 Euro gesteigert zu haben. Aber wofür? Am geringsten war die Steigerung der Ausgaben für Personal. Immer mehr Hauptschulen werden geschlossen. Der Neubau von Schulen in den Großstädten hinkt dem Bedarf weit hinterher. Vor allem fehlt es hinten und vorne an genügend Lehrern, um auf die Bedürfnisse der Schüler überhaupt eingehen zu können.

Kurzsichtige und pragmatische Arbeitsmarktpolitik

Neue Entwicklungen wie derzeit im Heizungsbau kommen für die bürgerlichen Politiker und die betreffenden Wirtschaftsbereiche scheinbar immer völlig überraschend. So ist es freilich nicht möglich, dafür Fachkräfte rechtzeitig auszubilden. Laut „MINT-Report“ müssen allein im Bereich der MINT-Berufe³ ab 2024 jährlich 291000 Facharbeiter ersetzt werden.

 

Doch statt sich darauf einzustellen, gingen die Ausbildungsverträge massiv zurück von 525 000 im Jahr 2019 auf 473 100 im Jahr 2021.⁴ Aber klar, woher sollen die Monopole das Geld dafür auch nehmen?! Priorität hat in Deutschland schließlich, dies für die Finanzierung imperialistischer Kriegen einzusetzen, im Kampf um neue Einflussgebiete und Maximalprofite, während für soziale Belange immer weniger Geld da ist. Aktuell hat die NATO-Tagung den Druck auf ihre Mitgliedsstaaten erhöht, zukünftig mindestens zwei Prozent des Staatshaushalts für Militärausgaben zu investieren.

Ausplünderung des Weltarbeitsmarkts

Statt in Ausbildung zu investieren, werden jetzt andere Länder auf die gleiche Weise mit ausgeplündert. Und wer durchs Raster fällt, kann direkt im Mittelmeer ertrinken.

 

Reaktionen auf die anhaltende Kritik am Abschiebeterror sind einzelne Zugeständnisse: Flüchtlinge, die keinen Anspruch auf einen Asylstatus in Deutschland haben (und zum 29. März im laufenden Asylverfahren waren), können bleiben, wenn sie eine Arbeit finden. Familien-Nachzug für Fachkräfte wird erleichtert. AfD-Politikern wie Alexander Gauland geht selbst das zu weit. Er sorgt sich unter anderem um Lohndumping. Das gibt es. Schuld sind aber nicht die Einwanderer. Es sind die Konzerne, die ausgebildete Fachkräfte abwerben, sich hier die Ausbildungskosten „sparen“ und weitere Lohndrückerei organisieren. Gleichzeitig verhindert die reaktionäre Flüchtlingspolitik der Regierung, dass geflohene Menschen überhaupt arbeiten können.

 

„Für die internationalen Monopole ist die Rekrutierung von qualifizierten Arbeitskräften auf dem Weltarbeitsmarkt eine wesentliche Seite ihres internationalen Konkurrenzkampfs geworden. … Die Internationalisierung des Arbeitsmarkts höhlt die Nationalstaatlichkeit, insbesondere der neokolonial abhängigen Länder, weiter aus. Sie ist aber auch ein bedeutender Schrittmacher für die Vereinigung der Arbeiterklasse über Ländergrenzen hinweg.“⁵

 

Und werden in Brasilien, Albanien, Rumänien … keine Ärzte, Ingenieure und Pflegekräfte gebraucht? Albanien hat jetzt schon die niedrigste Zahl von Ärzten und Krankenschwestern pro Kopf in Europa. Die Regierung verabschiedete deshalb ein Gesetz, dass Medizinstudenten nach Abschluss ihres Studiums bis zu fünf Jahre in Albanien arbeiten müssen.

Faktor „demografischer Wandel“

Mit heute zehn Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung sinkt der Anteil an 15- bis 24-Jährigen in Deutschland kontinuierlich. Die sinkende Geburtenrate konnte zeitweise mit der steigenden Frauenerwerbsquote aufgefangen werden. Das stößt aber an Grenzen – unter anderem aufgrund der bürgerlichen Familienordnung, weil sie die Frauen für Kinder- und Altenbetreuung hauptverantwortlich macht. Die Veränderung der Bevölkerungsstruktur untergräbt objektiv die Zahl der Arbeitskräfte, was sich noch weiter verschärfen wird.

Um jeden Preis studieren?

Heute stehen 2,9 Millionen Studenten 1,3 Millionen Azubis gegenüber. Lehrer, Ärzte, Wissenschaftlicher werden gebraucht. Die Orientierung auf individuellen Aufstieg ist mittlerweile fester Bestandteil der bürgerlichen Jugendkultur. Aber wieso soll die individuelle Karriere im Kapitalismus so erstrebenswert sein? Wer baut die Häuser, in denen wir leben? Wer produziert die Lebensmittel, die wir essen?

 

Ohne körperliche, produktive Arbeit gibt es kein gesellschaftliches Leben und keinen gesellschaftlichen Fortschritt. Das ist alles andere als zweite Wahl!

Das würden wir im Sozialismus anders machen

Alle werden in die gesellschaftliche Produktion und Verantwortung einbezogen. Marx und Engels formulierten dieses Vision so: „Die Erziehung wird die jungen Leute das ganze System der Produktion rasch durchmachen lassen können, sie wird sie in Stand setzen, der Reihe nach von einem zum andern Produktionszweig überzugehen, je nachdem die Bedürfnisse der Gesellschaft oder ihre eigenen Neigungen sie dazu veranlassen. Sie wird ihnen also den einseitigen Charakter nehmen, den die jetzige Teilung der Arbeit jedem einzelnen aufdrückt. Auf diese Weise wird die kommunistisch organisierte Gesellschaft ihren Mitgliedern Gelegenheit geben, ihre allseitig entwickelten Anlagen allseitig zu betätigen.“⁶

 

Dazu gehört, dass die ständige Ausbildung und Befähigung einer wachsenden Masse von Menschen ins Zentrum rückt, auch die Weiterqualifizierung, und dass dies planmäßig und vorausschauend entsprechend den gesellschaftlichen Anforderungen möglich sein wird.