Rote Fahne 10/2023

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Heftige Debatten um den Namen „Stalingrad“

Ein Leser, der aus Russland stammt, hat zur dort laufenden aktuellen Auseinandersetzung über die Rückbenennung von Wolgograd in Stalingrad recherchiert

Von Mark Drefs / Wolf-Dieter Rochlitz
Heftige Debatten um den Namen „Stalingrad“
Die Ewige Flamme des Kriegsdenkmals auf dem Mamajew-Hügel im heutigen Wolgograd ist den Helden des Stalingrad-Kampfs gewidmet

80 Jahre nach der Befreiung der Stadt Stalingrad von der faschistischen Wehrmacht durch die sowjetische Rote Armee steht die Stadt wieder im Brennpunkt. Es gibt seit Monaten eine heftige Auseinandersetzung unter den über eine Million Einwohnern darüber, die Stadt – heute Wolgograd – wieder in Stalingrad umzubenennen. In diesem Jahr sollen anlässlich wichtiger Gedenktage neunmal Straßenschilder am Stadteingang aufgestellt werden.

 

Der Hintergrund hat eine lange Geschichte. Im Jahr 1925 wurde die Stadt in Stalingrad umbenannt. Bis dahin hieß sie Zarizyn, nach einem Nebenfluss der Wolga. An dessen Mündung entstand die Stadt als wichtiger Handelsknoten.

 

Mit der Benennung in Stalingrad wurde ein historischer Sieg im Bürgerkrieg 1918 gegen die weißgardistischen Konterrevolutionäre gewürdigt. Diese wollten die Getreidezufuhr in die großen Städte mit Gewalt unterbinden und mit ­einer Hungerblockade das junge sozialistische Russland erdrosseln. Stalin leitete als verantwortlicher Kommissar den siegreichen Kampf gegen die Konterrevolution.

 

Verleumdungen Chruschtschows

 

Die Umbenennung von Stalingrad in Wolgograd erfolgte nach Stalins Tod durch die modernen Revisionisten.

 

Deren Führer Nikita Chruschtschow leitete die Zerschlagung des Sozialismus und Wiedereinführung des Kapitalismus im Jahr 1956 ein, indem er in einer Geheimrede nach dem XX. Parteitag Stalin als Verbrecher verleumdete.1

 

Es ging ihm nicht darum, sich kritisch und selbstkritisch mit den Fehlern und Erfolgen in der Zeit unter Führung von Stalin auseinanderzusetzen. Das wäre im Interesse der Weiterentwicklung des Sozialismus notwendig gewesen. Chruschtschow und seine Leute wollten vielmehr den Sozialismus zerstören. Er wagte es nicht sofort, Stalins Namen aus der Geschichte zu tilgen. Erst fünf Jahre später, am 7. November 1961, ließ er die Stadt Stalingrad in Wolgograd umbenennen.

 

Viele Menschen in Russland und vor allem in Stalingrad hielten jedoch daran fest, Stalin als führende Persönlichkeit zu ehren. Denn er stand als politischer und militärischer Führer an der Spitze des Kampfs gegen den Hitlerfaschismus. Diese historische Tatsache konnten die modernen Revisionisten niemals kleinreden. Selbst unter Militärhistorikern, deren Blick nicht völlig vom Hass gegen den Sozialismus benebelt ist, bleibt es objektive Tatsache: Stalingrad leitete 1943 die Wende im Verlauf des Zweiten Weltkriegs ein.2

 

Umbenennung von vielen nie akzeptiert

 

Die Umbenennung von Stalingrad in Wolgograd haben Teile der Bevölkerung in Russland nie akzeptiert. Es gab bis heute immer wieder Anläufe für den Namen Stalingrad. So ist er auch unter den Einwohnern üblich. 2013, zum 70. Jahrestag der Schlacht von Stalingrad, beschloss die Duma der Stadt, den offiziellen Titel „Heldenstadt Stalingrad“ zu verleihen. Im Jahr 2015 forderte eine von 50.000 Personen unterschriebene Petition an Präsident Wladimir Putin die Wiedereinführung des alten Namens. Er lehnte das nicht offen ab, sondern sagte, gegebenenfalls darüber eine Abstimmung zu empfehlen.

 

Verschiedene Veteranenverbände erheben immer wieder diese Forderung. Ein regionaler Abgeordneter3 meinte: „Jeder betrachtet Stalingrad als eine Stadt, die absolut eindeutig ist, die Stadt ist ein Teil unserer Geschichte. Wenn man die Menschen fragt, was sie davon halten, die Erinnerung an Stalin zu verewigen, denke ich, dass es eine viel größere Bandbreite an Antworten geben wird.“4

 

Eine wirklich offene Debatte unter der Bevölkerung wurde nie organisiert. Sie hätte nämlich durchaus auch sehr kritische Stimme über den Kapitalismus und die imperialistische Politik in Russland zu Tage gebracht.

 

Putins Absichten – fragwürdiger Spagat

 

Auf einmal wendet sich das Blatt und die Staatsorgane wurden Ende letzten Jahres angewiesen, die Frage der Umbenennung zu forcieren:

Am 2. Februar wurden für eine Staatsfeier Gedenkbüsten von Stalin und seinen Generälen Georgi Schukow und Alexander Wassilewski aufgestellt. Der beauftragte Bildhauer Sergej Schtscherbakow sagte dem lokalen Nachrichtenportal V1.ru zu seiner Arbeit, es sei „alles sehr schnell“ gegangen. „Wir mussten den Auftrag in kurzer Zeit ausführen.“

 

Laut der Tageszeitung Komersant ist darüber ein Bürgerentscheid geplant. Putin bezweckt damit demagogisch, seine „Spezialoperation“ gegen die Ukraine als angebliche Fortsetzung des Krieges gegen den Hitlerfaschismus zu charakterisieren. Er versucht, jetzt den nach wie vor großen Namen von Stalin unter Teilen der Bevölkerung für seinen ungerechten Krieg zu missbrauchen. Diesen Gegensatz zu versöhnen zwischen dem gerechten antifaschistischen Befreiungskampf unter Stalin und Putins völkerwidrigen Angriffskrieg, verlangt mehr als einen unmöglichen Spagat. Er wird früher oder später zum Gegenteil dessen beitragen, was Putins Leute hinterhältig bezwecken.