Rote Fahne 06/2023
Wachsendes Selbstbewusstsein in Tarifkämpfen
Erstaunt reiben sich bürgerliche Kommentatoren die Augen und schreiben über eine „Renaissance der Gewerkschaften“ in Europa.1 Streikwellen in verschiedenen …
… europäischen Ländern und die kämpferischen Tarifaktionen mit viel Sympathie für Urabstimmung und Streik in Deutschland bringen ihr Weltbild ins Wanken. Demnach wären die Arbeiterklasse und ihre Organisationen verschwunden oder allenfalls ein „Relikt der Vergangenheit“. Davon konnte jedoch nie die Rede sein. Auf der Grundlage der Verarbeitung wichtiger Kampferfahrungen der letzten Jahrzehnte und der wachsenden Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Systems entfalten sich gegenwärtig Arbeiterkämpfe und Massenproteste: unter anderem in Großbritannien, Frankreich, Italien, Griechenland und Portugal. In Deutschland stehen über 3,6 Millionen Beschäftigte in kämpferischen Tarifauseinandersetzungen – im öffentlichen Dienst des Bundes und der Kommunen, bei der Post, der Bahn, in der westdeutschen Textil- und Modeindustrie, der papier- und kunststoffverarbeitenden Industrie sowie im KfZ-Handwerk. Dabei zeigt sich eine neue Qualität des gewerkschaftlichen Bewusstseins.
Die eigene Rechnung aufmachen!
Auf Druck der gewerkschaftlichen Basis wurden vielfach deutlich höhere Forderungen als in den letzten Jahren und Monaten aufgestellt. Die Arbeiterinnen und Arbeiter lernen, von ihren eigenen Klasseninteressen auszugehen. Eine Erzieherin: „Meinen Kolleginnen und mir sind die 500 Euro Mindestbeitrag am wichtigsten, weil wir als unterdurchschnittliche Verdiener dann näher an einem wirklichen Inflationsausgleich wären.“ Festgeldforderungen bringen den Gedanken der Arbeitersolidarität für schlechter verdienende Kolleginnen und Kollegen zum Ausdruck.
Wenn die Bundesbank nun von einer „Lohn-Preis-Spirale“ fabuliert, will sie damit den kämpfenden Arbeiterinnen und Arbeitern einreden, sie seien selbst schuld an den sprunghaften Preissteigerungen. Sie behauptet: „Steigende Löhne erhöhen die Kosten für Firmen, die diese wiederum an ihre Kunden weitergeben.“2 Damit wird die Wirklichkeit auf den Kopf gestellt.
Löhne sind der Preis der Ware Arbeitskraft. Der ist bestimmt durch die Mittel, die die Arbeiter zu deren Wiederherstellung benötigen. Deshalb kann man davon auch nicht reich werden. Ganz anders verhält sich das für die Käufer der Arbeitskraft, die Kapitalisten. Denn die Arbeitskraft hat die Eigenschaft, in Verbindung mit Naturstoffen neuen Wert zu schaffen. Während sie über die Gefahr steigender Löhne jammern, erzielten die 100 umsatzstärksten Konzerne 2022 Rekordgewinne. Allein in den ersten neun Monaten des letzten Jahres stiegen sie um 22 Prozent. Lag die statistische Inflation 2021 bei 3,1 Prozent und 2022 bei 6,9 Prozent, erhöhten sich die Tariflöhne im Durchschnitt nur um minimale 1,7 und 2,7 Prozent.3 Nicht die Arbeiterinnen und Arbeiter sind schuld an den extrem steigenden Preisen, sondern die Kapitalspekulation an den Energie-, Rohstoff- oder Nahrungsmittelbörsen.
Länderübergreifender Lernprozess
Selten gab es in so vielen Ländern Europas gleichzeitig wachsende Streik- und Protestbewegungen. Sie konzentrieren sich derzeit auf Frankreich, Großbritannien, Portugal, Italien, Griechenland – aber auch Deutschland. Sie beflügeln sich gegenseitig – so wenn auch hierzulande immer mehr Kolleginnen und Kollegen auf das reformistische Tarifritual pfeifen, wonach man sich „irgendwo in der Mitte trifft“. Viele sagen: „Jetzt muss mal richtig gestreikt werden.“ Bei der Post stimmten 85,9 Prozent der Ver.di-Mitglieder in der Urabstimmung für einen unbefristeten Streik. Um den zu unterlaufen, einigte sich die Post kurzfristig mit der Ver.di-Spitze. Die Post musste Zugeständnisse machen, aber es ist ein fauler Kompromiss, da die volle gewerkschaftliche Kampfkraft nicht entfaltet wurde. Die MLPD tritt für Gewerkschaften als Kampforganisationen ein und kritisiert Klassenzusammenarbeitspolitik.
Die Mehrheit der Arbeiterinnen und Arbeiter will nicht für Kriege und Krise der Herrschenden verzichten. „Warum sollen wir für die Hochrüstung der Bundeswehr bezahlen?“ Noch wirkt die Argumentation der Regierung, dass nur Waffenlieferungen an die Ukraine den Krieg beenden könnten, während damit tatsächlich nur immer mehr Öl ins Feuer gegossen wird. Das hemmt die Erkenntnis, dass sich die Arbeiterbewegung an die Spitze des aktiven Widerstands gegen akute Weltkriegsgefahr und Abwälzung der Kriegs- und Krisenlasten stellen muss. So wie in Italien, wo die Hafenarbeiter am 24. Februar gegen Waffentransporte streikten, oder in Frankreich, wo Hunderttausende gegen die Rentenpläne der Regierung Front machen.
Zusammenhänge werden klarer
Neu sind gemeinsame Demonstrationen von Ver.di mit der Umweltbewegung „Fridays for Future“ am 3. März oder mit der Frauenbewegung am 8. März, dem Internationalen Frauentag. Das Bewusstsein über den Zusammenhang der sozialen, ökologischen und politischen Fragen wächst. Es gibt Übergänge zu politischen Streiks. Bus- und Bahnfahrern geht es nicht nur um höhere Löhne, sondern auch um ein umweltfreundliches öffentliches Verkehrswesen. Erzieherinnen und weibliche Pflegekräfte wollen mehr Geld und mehr „Wertschätzung“. Das richtet sich gegen ihre doppelte Ausbeutung und Unterdrückung im Kapitalismus. Unterschätzt wird vielfach noch die Dimension der begonnenen globalen Umweltkatastrophe, die die Existenz der ganzen Menschheit gefährdet.
Es belebt sich die Auseinandersetzung um die Frage des Streikrechts. Als „gefährliche Grenzüberschreitung“ attackiert der Monopolverband BDA die gemeinsamen Aktionen von Ver.di und „Fridays for Future“ mit dem Verweis, dass die Vermischung von „Arbeitskämpfen mit allgemeinpolitischen Zielen“ nicht rechtens sei.4 Warum sollten sich die Arbeiterinnen und Arbeiter den von den Herrschenden diktierten „Grenzen“ eines kastrierten Streikrechts unterordnen? Es ist höchst verantwortungsvoll, für das „allgemeinpolitische Ziel“ des Kampfs gegen die Weltkriegsgefahr und die globale Umweltkatastrophe auch in den Streik zu treten.
MLPD selbstverständlicher Bestandteil
Die MLPD ist selbstverständlicher Teil der Streikaktionen und Kundgebungen. Das hat sie mit jahrelanger Kleinarbeit zur Förderung der Arbeiteroffensive und gegen antikommunistische Vorbehalte erkämpft. Noch viel mehr diskutiert werden muss die marxistisch-leninistische Kritik am Lohnsystem. Nicht selten hört man, es ginge um einen „gerechten Lohn“. Ein System, das den Käufern der Arbeitskraft, den Kapitalisten, das Recht gibt, sich an ihr maximal zu bereichern, während die Arbeiter stets nur im Besitz ihrer Arbeitskraft bleiben, kann niemals gerecht sein. Deshalb hat Karl Marx recht, wenn er den Arbeiterinnen und Arbeitern rät, sich vor allem für die Abschaffung des kapitalistischen Lohnsystems im echten Sozialismus einzusetzen. Wer dies tun will, ist in der MLPD genau richtig!