Rote Fahne 23/2022
Stuttgart 21: Dokumente aus dem Staatsministerium belegen Zeugenkomplott
Dieter Reicherter, Vorsitzender Richter am Landgericht a.D., kämpft seit Jahren im Rahmen des andauernden Widerstands gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 für die Aufklärung der Vorkommnisse um den „Schwarzen Donnerstag“. Das war eine schockierende Gewaltorgie der Polizei mit Wasserwerfern und Pfefferspray mit 400 teils Schwerverletzten am 30. September 2010. Er schildert haarsträubende Vertuschungsversuche
Rote Fahne: Ein Untersuchungsausschuss des Landtags sollte die Verantwortung für den brutalen Polizeieinsatz klären. Doch die „schärfste Waffe des Parlaments“ entließ den verantwortlichen Ministerpräsidenten Stefan Mappus (CDU) mit – fast – weißer Weste. Was ist in den 12 Jahren passiert?
Dieter Reicherter: Ich stellte 2012 einen Antrag auf Akteneinsicht. Grundlage ist das „Umweltinformationsgesetz“, ein EU-Recht, auf das alle Bürgerinnen und Bürger Anspruch haben. Im Januar 2013 konnten wir im Staatsministerium erste Unterlagen sichten. Etliche Dokumente wurden uns aber verweigert mit haarsträubender Begründung. Es folgte eine Odyssee über das Verwaltungsgericht Stuttgart zum Verwaltungsgerichtshof in Mannheim, der mir 2017 in vollem Umfang recht gab.
Dagegen legten das Staatsministerium und die Bahn Revision zum Bundesverwaltungsgericht ein. Dieses verwarf die Revision zum Teil und legte wegen der übrigen Fragen das Verfahren dem Europäischen Gerichtshof vor. Dieser entschied, im Einzelfall sei vom zuständigen Gericht zu klären, ob angesichts langer Zeitdauer das Geheimhaltungsinteresse hinter dem Interesse der Öffentlichkeit auf Aufklärung zurücktrete.
Ich beantragte nun die Vernehmung von Zeugen des damaligen Regierungsapparates, nämlich unter anderem Mappus, Ministerin Gönner1 sowie die jetzige Ministerin Razavi2. Offenbar unter dem Druck der Beweisanträge entschloss sich das Staatsministerium nun – 2022, nach der Verjährung strafrechtlicher Vorwürfe –, mir freiwillig Einsichtnahme in diese Dokumente zu gewähren.
Was fand sich da zum Untersuchungsausschuss?
Dort fand ich, dass Mappus und sein Staatssekretär akribisch auf ihre Zeugenaussagen vorbereitet wurden. Wie in einem Drehbuch wurden ihnen ihre Schilderungen Wort für Wort aufgeschrieben und an die Aussagen der bereits vernommenen Zeugen angepasst. Besonders auffällig war die Empfehlung für Mappus, einen wichtigen Teil einer Besprechung mit der Polizei nicht zu erwähnen, weil die anderen Zeugen davon auch nicht gesprochen hätten.
Welche Rolle spielt die grün-geführte Landesregierung dabei?
Die Behandlung durch das grün-geführte Staatsministerium Kretschmanns kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Eine gewisse Geheimhaltung von Interna ist zwecks Arbeitsfähigkeit einer Behörde zulässig. Doch das trifft hier nicht zu. Die Arbeitsfähigkeit des Staatsministeriums war sicher nicht dadurch beeinträchtigt, dass man mir Unterlagen vorenthielt, die mögliche Straftaten der Vorgängerregierung enthielten. Kretschmann hatte ja eine „Politik des Gehörtwerdens“ versprochen. Ob es darum ging, Mappus und andere wie den Polizeipräsidenten vor Strafen wegen falscher Aussagen zu schützen, kann ich nicht beurteilen.
Was treibt Dich an, so hartnäckig dranzubleiben?
Während meiner Tätigkeit als Staatsanwalt und Strafrichter habe ich mich immer um Klärung der Wahrheit und Gerechtigkeit bemüht. Ich handelte schon immer nach dem Motto, Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen und mich dabei nicht behindern zu lassen. Durch die Sichtung vieler Dokumente kannte ich die Richtung der Vertuschung und der Lügen im Zusammenhang mit dem Polizeieinsatz und dem Projekt Stuttgart 21 und machte mir zum Ziel, möglichst viel ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen.
Höhepunkt der Proteste war die Demonstration von 100 000 Menschen zwei Tage nach dem „Schwarzen Donnerstag“. Völlig in der Defensive kam von Mappus die für die Herrschenden rettende Idee einer „Faktenschlichtung“ unter Vorsitz von Heiner Geißler (CDU) – auf Vorschlag der Grünen –, um die Gemüter zu beruhigen. Was fand sich hierzu in den Akten?
Über den Inhalt der Dokumente hierzu war ich besonders entsetzt. Sie beweisen eindeutig, dass die Landesregierung unter Mappus die Schwächen sowie die viel höheren Kosten des Projekts genau kannte. Dies alles wurde vertuscht und die Lügen wurden sogar bei der Volksabstimmung zum Ausstieg des Landes aus Stuttgart 21 eingesetzt. Dies ging so weit, dass man den Projektgegnern nach Aufdeckung des „Murks 21“ die Schuld für Kostensteigerungen in die Schuhe schieben wollte.
Wie ordnest Du Deine Erfahrungen mit dem „demokratischsten Rechtsstaat der Welt“ ein?
Insgesamt bin ich erschüttert, mit welch schmutzigen Methoden damals gearbeitet wurde. Leider zeigt aber die weitere Geschichte des Projekts, insbesondere jetzt die Diskussion um zusätzliche Bauten, weil Stuttgart 21 die erforderliche Leistung nicht erbringen kann, dass Täuschen und Lügen weiterhin zum politischen Handwerk gehören.
Beschäftigt Dich nur die Vergangenheit?
Nein, das dickste Brett muss noch gebohrt werden: die Offenlegung des untauglichen, von Experten als kriminell qualifizierten Brandschutzes. Fortsetzung folgt!