Rote Fahne 18/2022
Politische Arbeit mit Depressionen?
Ein Diskussionsbeitrag aufgrund persönlicher Erfahrungen
Es ist ein Spiegelbild der krisenhaften kapitalistischen Gesellschaft, dass psychische Krankheiten vermehrt auftreten. Es ist entscheidend, ein materialistisches Verhältnis zu solchen Krankheiten zu bekommen.
Psychische Erkrankungen wie Depressionen und so weiter sind Stoffwechselkrankheiten. Sie können ihre Ursachen haben in Umweltgiften, sonstigen Erkrankungen, die den Stoffwechsel stören (Schilddrüse, Darmerkrankungen …). Auch traumatische Erlebnisse können (müssen nicht!) ein Grund sein – aber auch dann geht es um materielle Veränderungen im Gehirn. Das ist wichtig für das richtige Verständnis vom Kampf um die Denkweise. Eine psychische Krankheit kann man nicht einfach per proletarischer Denkweise „abschalten“. Aber man ist ihr auch nicht einfach ohnmächtig ausgeliefert – das ist ein wichtiger Schlüssel.
Man muss die materiellen Ursachen bekämpfen, kann mit Medikamenten, Sport, Ernährung und so weiter darauf Einfluss nehmen. Psychotherapien, Rehas, Kliniken können hilfreich sein, wenn man materialistische Ansätze nutzt und fördert, sich kritisch mit dem Idealismus der bürgerlichen Psychologie auseinandersetzt.
Die richtige Analyse der Krankheit bei jedem konkreten Menschen ist das A und O – Diagnose und Ursache, Zusammenhänge, Entwicklungsgeschichte, nur so kann man eine richtige Strategie und Taktik dagegen entwickeln. Das ist bei keinem gleich!
Ein Wesensmerkmal einer psychischen Erkrankung ist, dass das Gehirn in seiner Verarbeitung der Wirklichkeit beeinträchtigt wird, was sich am deutlichsten in einer Manipulation der Gefühle ausdrückt. Typische Mechanismen aus meiner Erfahrung sind:
1. Reale Probleme und Widersprüche werden bei Panik und Angststörungen völlig übersteigert
„Jede Kerze wird zum Flächenbrand“, so ungefähr kann man es sich vorstellen, wenn im Gehirn das Panikzentrum (Amygdala) aktiviert, massenhaft Hormone ausgeschüttet werden. Das Problem ist, dass sich das sehr real anfühlt. Auf diesen Mechanismus muss und kann man aber die Selbstkontrolle ausrichten und zum Beispiel mit Atemübungen entgegenwirken.
Bei jedem helfen unterschiedliche bewusstseinsbildende Mechanismen, um tatsächlich zu der „Kerze“ zurückzukommen, das wirkliche Problem zu bearbeiten. Mir hilft es zum Beispiel, aufzuschreiben, was real ist und was ich nur interpretiere, befürchte.
2. Die Krankheit manipuliert die Unterscheidungsfähigkeit von Widersprüchen
Dies tritt oft auf bei traumatischer Erfahrung oder auch bei extremem jahrelangem Mobbing und Repressalien.
Der Mechanismus ist, dass durch alltägliche Ereignisse an tief im Gehirn durch Synapsenverbindungen eingeprägte Erlebnisse erinnert („angetriggert“) wird, obwohl die Situation eine ganz andere ist. Dann kann sich die Kritik von einem Freund absurderweise anfühlen wie die jahrelange Schikane eines Vorgesetzten.
Auch hier muss man sich bewusst machen: das ist ein manipuliertes Gefühl! Mir persönlich hilft es, mir bewusst zu machen, an was mich die Situation erinnert, welches Gefühl von damals kommt hoch und warum. So kann ich mir selbst den Unterschied vor Augen führen und es können sich dann auch die Gefühle verändern.
3. Die Krankheit gaukelt einem genau die Dinge als Bedürfnis vor, die am schlechtesten für einen sind
Das ist vor allem das Bedürfnis nach totalem Rückzug. Selbst bürgerliche Psychologen sagen immer öfter, dass die Vermeidung der Dinge, vor denen man Angst hat, die Erkrankung noch schlimmer macht.
Natürlich braucht man mit einer psychischen Erkrankung ausreichend Erholung, Schlaf, Zeit für Sport. Aber man muss eben auch richtig dosiert unter die Leute gehen, sich lösbaren Herausforderungen stellen, deren Lösungen auch das Selbstbewusstsein wieder stärkt.
Man sollte offen mit seinen Freunden und Genossen sprechen und sich helfen lassen, Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen. Vor allem muss man diese dosierten Konfrontationen mit den eigenen Ängsten sehr bewusst verarbeiten – dann kann man auch seine manipulierten Gefühle umdrehen. Natürlich gibt es Situationen und Krankheitsbilder, wo man sich eine Zeit lang auf die Gesundung konzentrieren muss und vielleicht auch wirklich gar nichts machen kann. Tritt aber eine gewisse Stabilisierung ein, rate ich jedem dringend, geeignete auch politische Betätigung anzunehmen!
Der schlechteste Rat ist, sich nur noch mit sich selbst zu beschäftigen und „auf sein Bauchgefühl“ zu hören. Ja, man muss eine besondere Sensibilität gegenüber seinem „Bauchgefühl“ entwickeln. Aber nicht, um dem blind zu folgen, sondern vor allem, um sich damit kritisch auseinanderzusetzen. Auch wenn das nicht immer einfach und schnell geht, kann das geduldige Training helfen, die falsch einprogrammierten Verknüpfungen im Gehirn wieder zu verändern.
Erkennt man die genannten Mechanismen nicht als Krankheitssymptome, dann führt das zu dem Gefühl, die politische Arbeit sei das Problem, man empfindet es als Druck und so weiter. Dabei ist die organisierte (Partei)arbeit wichtigster Teil der Lösung – sowohl in der Bekämpfung der kapitalistischen Ursachen, als auch in der konkreten praktischen Hilfe.