Rote Fahne 09/2022

Rote Fahne 09/2022

„Jeden kann eine schwere Hirnverletzung treffen“

Dr. med. Matthias Thöns, Facharzt für Anästhesiologie, Notfall-, Palliativmedizin spez. Schmerztherapie aus Witten, erläutert, warum jeder Mensch eine Patientenverfügung mit Vorsorgevollmacht abschließen sollte

Von Dr. med. Matthias Thöns
„Jeden kann eine schwere Hirnverletzung treffen“
Die von Dr. Thöns zur Verfügung gestellte Patientenverfügung

Rote Fahne: Warum empfehlen Sie auch jungen Menschen den Abschluss einer Patientenverfügung?

 

Dr. Matthias Thöns: Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht sind wichtige Dokumente zum 18. Geburtstag, macht man sich einmal klar, was passiert, wenn man so ein Dokument nicht hat: Jeden kann ein Unfall treffen, bei dem man durch eine schwere Hirnverletzung in ein Wachkoma fällt. Anfangs gibt es gut begründete Hoffnung, dass man wieder gesund wird. Die meisten wünschen sich hier von der Medizin alles, was zur Gesundung beiträgt – Maximalmedizin, Beatmung, Intensivstation.

 

Doch mit der Zeit schwindet die Hoffnung, dass alles wieder gut wird. So gibt es bei Menschen, die mehr als ein Jahr im tiefsten Wachkoma liegen, jenseits von Wundern keine realistische Aussicht auf vollständige Genesung. Wahrscheinlich ist aber, dass man gerade als junger Mensch diesen Zustand über Jahrzehnte überlebt, wahrscheinlich ist, dass diese Zustände leidvoll sind. Ich persönlich habe mehr Angst davor, einer von den 99,999 Prozent zu sein, die jahrzehntelang in so einem Zustand verharren, als die Chance auf ein Wunder zu verpassen.

 

Warum ist die Vorsorgevollmacht eine sinnvolle beziehungsweise notwendige Ergänzung zur Patientenverfügung?

 

Hat man keine Vorsorgevollmacht, gibt es niemanden, der seine Wünsche umsetzt.   Es muss dann vom Gericht kostenpflichtig ein Betreuer benannt werden. Im schlechtesten Fall ist das dann ein Mensch, der nichts über meine Wünsche weiß. Man bezahlt also möglicherweise viel Geld für die rechtliche Betreuung durch einen Fremden, nur weil man heute zu faul war, sich mit dem Thema zu beschäftigen.

 

Was muss man beim Abschluss einer Patientenverfügung beachten?

 

Wichtig ist, dass man viele Formvorgaben beachten muss, sonst ist eine Patientenverfügung im Zweifel wertlos. Der Bundesgerichtshof hat selbst ein Formular „Christliche Patientenverfügung“ für unwirksam erklärt.

 

Daher sollte man sich unbedingt eines der rechtlich guten Formulare – etwa aus dem Bundesjustizministerium oder dem Justizministerium in Bayern nehmen. Wenn man ein bisschen so tickt, wie ich bei der ersten Antwort beschrieben habe, dann kann man sich einfach auch meine Patientenverfügung, die auf der Basis der Vorlage des Justizministeriums erstellt ist, herunterladen, seinen Namen drüberschreiben, einen Vorsorgebevollmächtigen eintragen und noch einzelne Entscheidungen (etwa zur Organspende oder zur Studienteilnahme) treffen, dann ist man sehr schnell fertig mit dem Thema.

 

Wie kann man ausschließen, dass Patientenverfügungen im Praxisalltag missachtet und dennoch lebensverlängernde Maßnahmen angewendet werden?

 

Natürlich weiß ich, dass es vielfach in der Medizin gut läuft, der Wille beziehungsweise Patientenverfügungen beachtet werden und man hier mit einer guten Patientenverfügung sorgenfrei sein kann. Aufgrund meines kritischen Buches zu den Folgen der Ökonomisierung in der Medizin bekomme ich aber unglaublich viele Zuschriften über Maximalmedizin in desolaten Situationen oft gegen den Willen der Menschen. Hier muss man wissen, dass mit Maximalmedizin sehr viel Geld verdient wird.

 

Ich gewinne oft den Eindruck, dass niemand so richtig hinschaut, bei wem diese Medizin wirklich ein Therapieziel im Sinne des Patienten erreichen kann. Rechtlich ist es so, dass Patientenverfügungen beachtet werden müssen, der Rechtsweg hier ist aber oft quälend langsam.

 

Wie kann die Palliativmedizin das Sterben erleichtern?

 

Palliativmedizin erleichtert in allererster Linie das Leben bei schwerer unheilbarer Krankheit. Das gilt übrigens schon recht früh im Krankheitsverlauf, gerne nenne ich mich auch „Facharzt für Lebensqualität“, denn darum geht es vor allem, wenn Heilung nicht möglich ist. Meine schönsten Hausbesuche sind bei den mit schlimmen Diagnosen erschreckten Menschen, wenn ich Beschwerden lindere, Hoffnung gebe, wichtige Lebensverlängerungstipps berichten kann. Ich freue mich wie meine kleinen Söhne über ein Eis, wenn ich dann eine Urlaubskarte bekomme oder eine SMS mit toller Freizeitbeschäftigung. Kaum jemand weiß, dass es seit mehr als zehn Jahren international klar ist, dass frühzeitige Palliativversorgung (zum Beispiel bei Diagnose einer Krebserkrankung mit Metastasen) das Leben verlängert und verbessert. Das hat allerdings auch zur Folge, dass die eine oder andere hochpreisige Therapie nicht stattfindet, wie eine Studie der Uniklinik München eindrücklich zeigte. Sie zeigte bei der Auswertung aller Krebstodesfälle dieser Klinik, dass die Patienten noch in den letzten  Lebenswochen Übertherapie erhielten. Nicht einmal 2 Prozent der Sterbenskranken wurden mehr als 20 Tage leidenslindernd versorgt – es müssten eigentlich 100 Prozent sein.

 

Und zur eigentlichen Frage: Natürlich verbessern wir das Leben bis zuletzt, da ist es äußerst selten nötig, das Sterben im engeren Sinne zu erleichtern. Denn die meisten wollen leben – bis zuletzt. So ist es in guter palliativmedizinischer Versorgung eine Rarität, dass etwa die mittlerweile legale Möglichkeit der Hilfe bei der Selbsttötung umgesetzt werden muss.

 

Vielen Dank für das Interview!