Rote Fahne 05/2022
„Die Friedensbewegung muss der dramatischen Militarisierung entgegentreten“
Jürgen Wagner, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI) aus Tübingen, zu Hintergründen des russischen Einmarschs in der Ukraine
Rote Fahne: Wie beurteilen Sie den Angriff Russlands auf die Ukraine?
Jürgen Wagner: Der russische Angriff auf die Ukraine ist unabhängig davon, dass auch der Westen hier eine klare Mitschuld trägt, durch nichts zu rechtfertigen, wie auch in zahlreichen Stellungnahmen der Friedensbewegung genauso wie in unseren eigenen ersten Äußerungen deutlich zum Ausdruck gebracht wurde. Ganz abgesehen von den Folgen für die Ukraine selbst liefert Russland durch sein Agieren der NATO auch zusätzlichen Rückenwind für genau die Politik, die es angeblich eigentlich verhindern will: eine massive Aufrüstung auf allen erdenklichen Ebenen!
Welche Verantwortung haben die NATO und die deutsche Regierung für diese Situation?
Lange war es der Westen, der aggressiv russische Sicherheitsinteressen verletzte: Von dem eklatanten Wort- und Vertrauensbruch der NATO-Ost-Erweiterungen über die geplante Stationierung von Kurz-und Mittelstreckenraketen in Osteuropa bis hin zu den NATO-Truppenstationierungen an den russischen Grenzen. Die verschiedenen Bundesregierungen haben diese Politik voll mitgetragen, sie teils sogar entscheidend mit forciert. Diese Punkte wurden seit Jahren und Jahrzehnten von russischer Seite scharf kritisiert, ohne dass dies irgendeine Änderung dieser Politik zur Folge gehabt hätte. Um es aber noch einmal deutlich zu sagen: Das entschuldigt in keiner Weise die russischen Angriffe.
Was muss die Friedensbewegung jetzt tun?
Die Friedensbewegung muss die schwierige Balance wahren, einerseits die russischen Kriegshandlungen klar zu verurteilen, ohne dabei gleichzeitig die Verantwortung der NATO auszublenden oder gar Verständnis für den nun eingeleiteten umfassenden Militarisierungsschub zu zeigen. Vielmehr muss sie der nun auf die Schiene gesetzten dramatischen Militarisierung entschieden entgegentreten – von den immensen Steigerungen des Militärhaushaltes über die faktische Beendigung der deutschen Rüstungsexportkontrolle und was sonst noch alles kommen wird.
Unmittelbar muss jetzt alles daran gesetzt werden, eine weitere Eskalation zu verhindern, sowohl in der Ukraine selbst als auch generell im Konflikt zwischen dem Westen und Russland. Das betrifft etwa Forderungen nach der Aussetzung von Manövern in Grenznähe und anderen Handlungen mit einem unmittelbar hohen Eskalationspotenzial.
Die aktuell bevorzugten Alternativen – Sanktionen, Säbelrasseln, Aufrüstung – sind es, die uns erst in diese Lage gebracht haben. Es ist höchste Zeit, eine andere Richtung einzuschlagen und dafür muss die Friedensbewegung eintreten.