Rote Fahne 02/2022
Der Kapitalismus tötet!
Gastkommentar von Professor Jean Ziegler, Genf, Autor des Buches „Was ist so schlimm am Kapitalismus?“1
Blanke Verzweiflung herrscht im Beton-und Glaspalast der UNO-Weltgesundheitsorganisation an der Rue Apia No.8 in Genf. Vier Fünftel aller verfügbaren Impfstoffe gegen Covid 19 wurden bis Ende 2021 in gerade einmal zehn Ländern verabreicht. In Indonesien hat die Zahl der Covid-Toten die 500 000er Grenze erreicht. In Guinea-Bissao stehen für 100 Personen durchschnittlich 1,2 Impfdosen zur Verfügung. Ähnlich verzweifelt ist die Situation in der Demokratischen Republik Kongo, in Bangladesh und in Mauretanien.
In der Charta der Welthandelsorganisation gibt es einen Artikel, der die zeitlich beschränkte Aufhebung des Patentschutzes eines Impfstoffes, eines Medikaments etc. erlaubt, wenn eine besondere Pandemie das notwendig macht. Indien und Südafrika, die beide eine effiziente Pharmaindustrie haben, riefen diesen Artikel an. Die Westmächte lehnten den Antrag ab. Stattdessen errichteten sie zusammen mit der WHO (Weltgesundheitsorganisation) und privaten Investoren die internationale Stiftung COVAX. Diese soll den Entwicklungsländern Vakzine in genügender Menge zu annehmbaren Preisen zur Verfügung stellen. Resultat: nur knapp über 11 Prozent der benötigten und versprochenen Vakzine sind bis zum 1.1.2022 von COVAX geliefert worden.
Die transkontinentalen Pharmagesellschaften entwickelten die Covid-Vakzine und -Medikamente dank milliardenschwerer Subventionen von Steuergeldern. Den astronomischen Gewinn aus den autonom von den durch die privaten Pharmagesellschaften festgelegten Verkaufspreisen strichen die privaten Aktionäre ein. Beispiel: Die Aktie von Pfizer / Biontech schnellte zwischen dem 1.1.2021 und dem 1.1.2022 um 49,6 Prozent in die Höhe. Die Aktie von Moderna zeichnete im Januar 2021 mit 111 US-Dollar an der New Yorker Börse, im Juni desselben Jahres wurde sie für über 400 US-Dollar gehandelt.
Die Pandemie offenbart das reale Wesen des Kapitalismus als Produktions- und Gesellschaftsordnung auf eindrückliche Weise. Als Produktionsweise ist der Kapitalismus von unerhörter Vitalität. In 18 Monaten hat er die mRNA-Impfstoffe geschaffen. Aber gleichzeitig ist er als Gesellschaftsform unfähig, das Gemeininteresse gegen die individuelle Profitwut durchzusetzen. Gelingt es nicht, die armen und ärmsten Völker der Dritten Welt zu impfen, werden sich über ungeimpfte Menschen immer neue, gefährlichere Varianten des Virus entwickeln. Diese werden die Seuche verstärken und dann auch die geimpfte Bevölkerung der reichen Länder mit neuer Wucht bedrohen.
Der Kapitalismus tötet. Wollen wir alle überleben, müssen wir sein Grundprinzip der Profitmaximierung in möglichst kurzer Zeit und zu praktisch jedem menschlichen Preis schleunigst außer Kraft setzen. Entweder wir schaffen den Kapitalismus ab, oder er zerstört uns und die Erde.