Rote Fahne 01/2022
Zwei Jahre revolutionäre Gärung in Kolumbien
Im Interview berichtet Alejandro Tapia von der Kommunistischen Partei Kolumbiens – Maoistisch (PCC-M) über die Erfahrungen in der seit zwei Jahren anhaltenden Massenbewegung in seinem Land
Rote Fahne: In Kolumbien begann vor zwei Jahren eine gewaltige Massenbewegung, wie hat sich das seither entwickelt?
Alejandro Tapia: Kolumbien macht eine vielseitige, eine Wirtschafts-, Finanz, Gesundheits-, soziale und politische Krise durch. Man kann von einer gesamtgesellschaftlichen Krise sprechen. Die Unzufriedenheit der Massen explodierte am 21. November 2019 beim Paro Nacional1. Es folgte der Jugendaufstand gegen Polizeigewalt am 9. September 2020. Und dann der nationale Streik vom 28. April 2021. In der Covid-19-Pandemie ging die Bewegung zeitweise zurück, aber die Widersprüche verschärften sich. Das führte zu Protesten gegen Hunger und für das Recht auf Leben im ganzen Jahr 2020. Es bildeten sich „Notkomitees“ zur Selbsthilfe. Im Grunde herrschte in Kolumbien eine revolutionäre Situation mit ungleichmäßiger Entwicklung. Das Krisenmanagement der faschistischen Regierung unter Präsident Ivan Duque fachte das an. Für den Finanzbereich und große in- und ausländische Unternehmen ist Geld da, auch für militärische Aktionen, während die breite Bevölkerung hungert, keinen Zugang zu Impfungen und medizinischer Behandlung hat. Die Ablehnung des Imperialismus und der Regierung führt aber bei einem erheblichen Teil der Massen dazu, alle Schutzmaßnahmen, auch der Impfung abzulehnen, was fortschrittliche und revolutionäre Kräfte kritisieren.
Es gab auch Arbeiterstreiks?
Ja, sehr bedeutend war der 91 Tage lange Streik der Bergarbeiter von El Cerrejón Ende 2020. Insgesamt verlagerte sich die Auseinandersetzung während der sieben Monaten Quarantäne 2020 mehr in die Familien, in die Stadtteile und Dörfer. Dort befanden sich in der Zeit ja auch die Bergleute. So verband sich die Arbeiter- und Volksbewegung. Das wurde ein explosives Gemisch.
Wer organisiert diese Kämpfe?
Die Gewerkschaftszentralen koordinieren die Aktivitäten im nationalen Streikkomitee CNP, das sich aus 45 Organisationen der Arbeiter, Bauern, Ureinwohner, Lehrer, Rentner, Frauen und Jugendlichen, Umwelt-, Menschenrechtsvereinigungen zusammensetzt ...
Das nationale Streikkomitee organisierte auch den Generalstreik im April dieses Jahres?
Ja, und hunderte Organisationen, die nicht im CNP vertreten sind. So wurde der 28. April 2021 zum Auftakt eines landesweiten Volksaufstands, der bis zum 28. Juni dauerte. Straßenbarrikaden wurden auch in den Städten zu einer allgemeinen Kampf- und Organisationsform. Bis Ende Juni waren nach Schätzung des Gewerkschaftsdachverbandes CUT 17 Millionen Menschen an den Kämpfen beteiligt, das sind 35 Prozent der 50 Millionen Einwohner. Epizentrum war die Stadt Cali. Die Masse waren junge Leute, vor allem Arbeiter und Arbeitslose, sowie Studierende und Lehrer. Auch Landarbeiter streikten und errichteten Barrikaden. Frauen sind auch in der ersten Linie der Kämpfe sehr aktiv. Bei den Barrikaden wurden Kommissionen gebildet zur Versorgung mit Wasser, Lebensmittel, für Schutz, Sanitätsdienste, Anwaltshilfe, auch für kulturelle Aktivitäten, eine große Rolle spielen Graffiti. Die marxistisch-leninistische Partei PCC-M, Mitglied der ICOR, revolutionäre und fortschrittliche Organisationen, wie MODEP waren aktiv, halfen und organisierten. So konnten auch antikommunistische Standpunkte gegenüber marxistisch-leninistischen Aktivisten überwunden werden.
Wie hat sich dabei das Bewusstsein entwickelt?
Man kann einen echten Bewusstseinssprung in der Klarheit über den Gegner, die Regierung, die Finanzgruppen, die Monopole feststellen. Vorher dachten wir oft, unsere Diskussionen unter den Massen laufen ins Leere. Auf einmal verwendeten sie unsere Argumente. Eine große Rolle spielten Kultur und Vertrauen. An Weihnachten trifft man sich in den Stadtteilen und singt und ehrt Jesus und Maria. Diesmal traf man sich, sang revolutionäre Lieder und feste Freundschaft und Solidarität entstand. Dabei ist die Bewegung aber sehr breit gefächert. Unter der Jugend sind anarchistische Einflüsse verbreitet. Die Angst trat in den Kämpfen in den Hintergrund. Sie gingen weiter trotz brutaler Einsätze der Polizei und Armee und von skruppellosen paramilitärischen Banden der Drogenmafia, trotz Vergewaltigungen und Entführungen. 170 Menschen starben. Unter den tausenden Verletzten waren allerdings auch Polizisten.
Etwas ganz Neues sind Studiengruppen bei den Barrikaden. Sie studierten Texte zum Beispiel aus der Befreiungstheologie oder von Mao die Schrift: „Woher kommen die richtigen Ideen der Menschen?“ Die Genossen der PCC-M waren an den Kämpfen beteiligt. Sie konnte ihre Organisation trotz der Covid-19-Pandemie stärken. Sie wirkten bewusstseinsbildend.
Wie ging und geht es weiter?
Nach Juni gingen die Massenkämpfe zurück. Da war einerseits die militärische Überlegenheit des Gegners. Ein Teil der Linken orientierte auf den „gewaltfreien Weg“ und die Wahlen im nächsten Jahr. Das kämpferische und revolutionäre Potential ist aber keineswegs erlöscht. Volksversammlungen und anderen Organisationsformen lassen den Funken weiter glühen. Der Weg mit einer sozialistischen Perspektive ist auch in der Diskussion. Die Auswertung wird massenhaft organisiert. Dazu finden in den Wohngebieten Versammlungen mit lebhafter Diskussion statt. Am beliebtesten sind die Beiträge zur Auswertung der Erfahrungen in Gedichtform. Überhaupt spielte und spielt die Kultur eine sehr große Rolle.
Herzlichen Dank für das Gespräch!