Rote Fahne 20/2021
Die „Vernunft“ der chinesischen und russischen Imperialisten – und der Niedergang des Freidenkerverbands
Ende Juni wählte der Deutsche Freidenkerverband Sebastian Bahlo zum neuen Vorsitzenden. Sein Vorgänger, Klaus Hartmann, bleibt Stellvertreter. In einem ganzseitigen Interview der DKP-Zeitung „Unsere Zeit“ führen die Beiden ihren Marsch in die Sackgasse eines geradezu atemberaubenden Kniefalls vor den Machthabern der neuimperialistischen Länder China und Russland aus
In vollstem Ernst behaupten sie: „Die VR China ist auf dem Weg zur weltweit führenden Wirtschaftsmacht, und sie wird das erste Land sein, dessen oberstes Ziel das Wohl seiner gesamten Bevölkerung ist und dessen Regierung nicht mehr von einer kleinen Monopolistenklasse zu kriminellen Kriegsabenteuern getrieben wird. Auch die Großmacht Russland verfolgt eine besonnene, friedenssichernde Politik.“1
Nun haben längst auch bürgerliche Kommentatoren festgestellt, dass die Bezeichnung „kommunistisch“ für die chinesische Führung purer Betrug ist. Dass in der Partei Millionäre und Milliardäre das Sagen haben und längst nicht mehr Arbeiterinnen und Arbeiter. Das „Wohl“ der Millionen Wanderarbeiter in China kümmert Bahlo und Hartmann einen feuchten Kehricht. Diese müssen ihre Kinder in den Heimatregionen zurücklassen, weil die Familien in der Nähe der wechselnden Arbeitsplätze kein Recht auf Schule, Bildung und Gesundheitsversorgung haben. Wie blind muss jemand sein, der das „Wohl“ der peruanischen Bergleute beschwört, die von chinesischen Bergwerksmonopolen ausgeplündert werden? Wie ist es um das Wohl der Hafenarbeiter in Griechenland bestellt, die in Hafenanlagen schuften, die China auf dem Weg der imperialistischen Seidenstraßenpolitik an sich gerissen hat? Geht es nach Bahlo und Hartmann, nutzt das „vertiefte Zusammenwirken von Russland und der VR China ... allen fortschrittlichen und revolutionären Kräften“.2 Zählt Putin dazu seine enge Zusammenarbeit und finanzielle Unterstützung mit faschistischen und faschistoiden Organisationen in Europa?
Prinzipien über Bord geworfen
Um einen solchen Kurs im Freidenkerverband durchsetzen zu können, müssen seine weltanschaulichen Grundlagen für ein freidenkerisches Denken und Handeln über Bord geworfen werden. Aufgebaut als Massenorganisation zu Beginn des 20. Jahrhunderts fanden sich Kommunisten, Sozialdemokraten und Parteilose in der Freidenkerbewegung zusammen für eine materialistische, religionskritische Aufklärungsarbeit mit sozialistischer Perspektive. Im Hitlerfaschismus verboten und verfolgt, prägte das auch den Wiederaufbau nach dem Krieg. Dabei gab es immer eine Auseinandersetzung um die Überparteilichkeit, besonders gegenüber einseitiger Dominanz der Getreuen der revisionistischen DKP. Unter der Ägide von Klaus Hartmann wurde 2011 die Gelsenkirchener Ortsgruppe (zu der auch Stefan Engel gehört) ausgeschlossen, wegen ihrer prinzipiellen Kritik an der Missachtung der Überparteilichkeit und an der offenen Parteinahme für Slobodan Milosevic. Letzerer hatte mit seinem brutalen großserbischen Machtanspruch maßgeblich zur Spaltung Jugoslawiens beigetragen. Zufall, dass Sebastian Bahlo Mitarbeiter des Verteidigungsteams von Milosevic vor dem Haager Kriegsverbrechertribunal war und heute das syrische Assad-Regime verteidigt?
Kaum verheimlichte Sympathie wird in dem Interview der Querdenkerbewegung entgegengebracht und deren faschistisches Vokabular von einer „Lügenpresse“ als „zutreffende Charakterisierung“ übernommen.
Abkehr von weltanschaulichen Wurzeln
Zu den weltanschaulichen Wurzeln der Freidenkerbewegung gehört eine dem Marxismus nahestehende materialistische Weltanschauung, die sich politisch in der Nähe zur Arbeiterbewegung ausdrückte. Bahlo und Hartmann kappen bewusst diese Wurzeln und sprechen stattdessen von „freiem Denken im erweiterten Sinne“ und das ist in ihrer Lesart vor allem ein angeblich „vernünftiges Denken“. Aber jede Vernunft ist klassen- und damit interessengebunden. Die Vernunft der Herrschenden – ob in den USA, Deutschland, China oder Russland – wird von ihrer zwischenimperialistischen Konkurrenz und menschenverachtenden Machtgier geprägt. Die Vernunft der Arbeiterklasse und der breiten Massen weltweit richtet sich gegen jegliche Ausbeutung und Unterdrückung von Mensch und Natur und damit gegen jegliche imperialistische Dominanz – ob nun von alten oder neuen Imperialisten getrieben.