Rote Fahne 18/2021
Politisch organisiert sein mit psychischen Erkrankungen?
Zu diesem Thema erhielt die Redaktion interessante Beiträge, die wir gerne zur Diskussion stellen möchten
„Sich nicht von der Krankheit beherrschen lassen ...“
Klar, organisiert sein heißt: miteinander kämpfen, sich gegenseitig unterstützen, zusammenhalten, gemeinsam feiern und auch trauern. Wieso soll das mit einer psychischen Erkrankung nicht gehen? Bei einer körperlichen Erkrankung würde die Frage gar nicht aufkommen
Psychische Krankheiten stehen in dem Ruf, selbstverschuldet zu sein, ein Ausdruck persönlicher Schwäche. Betroffene haben das Gefühl, anderen zur Last zu fallen, sich nichts zumuten zu dürfen. Aber psychische Erkrankungen betreffen etwa 33,3 Prozent der Bevölkerung in Deutschland.1 Durch die Corona-Pandemie ist die Anzahl der an psychischen Störungen Erkrankten weiter gestiegen. Besorgniserregend sind mehr Krankheitstage – besonders bei Frauen – wegen Depression.2 Alles schlechtes Erbgut oder selbstverschuldet?
Diese Ansicht hat Geschichte. So wie von Missbrauch betroffene Frauen der feinen Wiener Gesellschaft für den Psychologen Siegmund Freud Hysterikerinnen waren, wurden Soldaten im I. und II. Weltkrieg, die psychisch schwer geschädigt von der Front kamen, als Drückeberger stigmatisiert. Den Frauen wurde schlicht nicht geglaubt, den Soldaten „schwächliche Konstitution“ oder „erbliche Belastung“ unterschoben. Diese Ideologie soll uns schwächen und die wahren Ursachen verschleiern – wie die traumatischen Erlebnisse im Schützengraben des imperialistischen Krieges.
Auch wenn durch Vietnamveteranen und die Frauenbewegung diese Ursachen aufgedeckt und 1980 endlich posttraumatische Belastungsstörung als Krankheit anerkannt wurde, ist das Stigma „selbst schuld “ oder „versagt zu haben“ immer noch Mainstream in der Gesellschaft. Private Krankenversicherungen zum Beispiel weigern sich, mit Menschen mit Psychotherapie in ihrer Vorgeschichte einen Vertrag abzuschließen. Betroffene gehen nicht selten wegen der Stigmatisierung zu spät in Behandlung, wagen nicht offen über ihre Erkrankung zu sprechen. Sie isolieren sich und drehen sich um sich selbst. Die bürgerliche Psychologie fördert die Selbstbeschäftigung. Belastungen wie Krieg, Flucht, die Hochwasserkatastrophe, häusliche Gewalt, aber auch die Arbeitshetze im Betrieb, Angst vor Entlassungen, Mobbing führen zu vermehrten Depressionen, Angststörungen und PTBS (posttraumatische Belastungsstörungen). All das sind die Auswirkungen des imperialistischen Systems, des gnadenlosen Strebens nach mehr Profit auf Kosten von Mensch und Natur. Lässt man sich von der Krankheit beherrschen und den Alltag bestimmen oder kämpft man um einen angemessenen Umgang mit der Krankheit? Das heißt unter anderem, die Krankheit ernstnehmen und sich die angemessene psychotherapeutische und medizinische Hilfe holen. Den Alltag gesundheitsfördernd organisieren mit gesunder Ernährung, Sport und Kontakt zu Freunden und Genossen. Gute Bindung, dazugehören, gemeinsam Aufgaben bewältigen – das hilft gesund oder gesünder zu werden. Das ist oft entscheidender als manche Psychotherapie. Sich nicht von der Krankheit beherrschen zu lassen bedeutet, die gesellschaftlichen Ursachen zu erkennen und am gemeinsamen Kampf für eine befreite Gesellschaft teilzunehmen. Fortschrittliche Psychotherapie unterstützt eine aktive Haltung gegenüber der Krankheit und die Entscheidung, sich zu organisieren.
Tübingen (Korrespondenz)
Zweischneidiges Schwert:
Dieses Thema ist für viele schwer zu diskutieren, auch für mich. Durch den Tod eines Genossen, meine Beteiligung an der Diskussion über Traumata, sonstige eigene Erfahrungen (vor, während und nach meinem Aufenthalt bei einer Tagesklinik) und die Wichtigkeit, Leute zu haben, bei denen man sich offenbaren kann, ziehe ich als Schlussfolgerung, dass es wichtig ist, darüber zu reden. Trotzdem stelle ich mir als Betroffene immer solche besorgten Fragen wie: „Werde ich die Person so sehr mit meinem Päckchen belasten, dass das zu einer Ablehnung führt?“, „Wie bringe ich das rüber, ohne meine Freunde zu verletzen?“, „Wieviel ist zu viel?“ Ich will niemanden belasten, erst recht nicht meine Freunde sowie Genossinnen und Genossen, die für mich die Familie, die ich nie hatte, geworden sind.
Ich habe posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Seit September 2020 mache ich endlich eine Traumatherapie, die mir gut tut. Was ich mir allerdings wünsche, ist mehr Verständnis von Leuten, dass es keine Garantie ist, von allen Traumata geheilt zu werden, so dass ich so funktionieren kann, wie sie mich teilweise gerne hätten. Ich freue mich, wenn ich Fortschritte mache, aber Äußerungen – wenn es mir nicht gut geht – wie „Hat deine Reha dir nicht weitergeholfen?“ oder „Ich verstehe das nicht, du hast doch eine neue Liebe!“ sind für mich entmutigend, auch wenn sie gut gemeint sind. Vor allem, weil sie in solchen Momenten die verschiedenen Faktoren in meinem Leben nicht berücksichtigen.
Wo ich unbedingt weiterkommen möchte ist, mich besser äußern zu können und zwar so direkt wie möglich – statt in eine „Rechtfertigungsfalle“ zu rutschen. Beim Einkaufen mit einer Freundin und Genossin bekam ich durch die Menschenmenge Panik und suchte rasend die Ausgangstür. Die Freundin fragte, ob sie was für mich tun kann, was in mir einerseits Dankbarkeit, aber auch ein schlechtes Gewissen ausgelöst hat. Meine Freundin gab mir das Gefühl von Akzeptanz, Vertrauen und Sicherheit.
Einiges kann ich über meine Stärken und Schwächen sagen, bezüglich dessen, was ich möchte und nicht möchte. Ich möchte durch künstlerisches Gestalten, das Übersetzen und allgemeine schriftliche Tätigkeiten unsere politische Arbeit unterstützen. Meine Schwächen sind nach wie vor, auf Menschen zuzugehen wie auch am Mikrofon zu sprechen. Dafür will ich uns durch meine Interessen und Stärken unterstützen, denn das ist schließlich allen eine Hilfe, statt wenn ich eine Aufgabe übertragen bekomme, der ich nicht gewachsen bin. Ich finde, dass man auch dieses Thema dialektisch behandeln muss.
Dresden (Korrespondenz)