Rote Fahne 16/2021
„Factory56“ – Autofabrik der Zukunft?
Ein Korrespondent aus Sindelfingen schrieb an die Rote Fahne den folgenden Diskussionsbeitrag (Auszüge): Mit Interesse habe ich den Artikel „Factory56: Daimlers ‚Maßstab‘ für die digitalisierte Ausbeutung“ in Rote Fahne 25/2020 gelesen. Ich glaube aber, dass wir uns mit der „Autofabrik der Zukunft“1 gründlicher auseinandersetzen müssen
Die Factory56 wurde in der Presse überall gefeiert, insofern ist es natürlich wichtig zu zeigen, dass Daimler lügt, wenn er schreibt: „Wir schaffen eine moderne Arbeitswelt, die individuelle Bedürfnisse stärker berücksichtigt.“2 Die Factory56 ist vom Arbeiterstandpunkt aus ein deutlicher Rückschritt, was die Ergonomie und den Kampf gegen die Fremdvergabe angeht, und die Kolleginnen und Kollegen kritisieren zu Recht, dass ihre Bedürfnisse bei der Hallenplanung kaum berücksichtigt worden sind.
Aber als Marxisten-Leninisten müssen wir uns auch mit der Digitalisierung selbst beschäftigen. Darüber erfährt man in dem Artikel fast nichts – abgesehen von der in Echtzeit transparenten Lieferkette und dem allgemeinen Hinweis auf das Potenzial der Digitalisierung im Sozialismus. Auch das Wort Strukturkrise taucht im ganzen Artikel nicht auf. In den Dokumenten des X. Parteitags der MLPD wird dazu ausgeführt: „Das internationale Industrieproletariat kann seine führende Rolle nur verwirklichen, wenn das Klassenbewusstsein über die Krisenhaftigkeit des imperialistischen Weltsystems wächst, und wenn es die Spaltung überwindet.“3 Das ist der Maßstab für die Auseinandersetzung mit der Digitalisierung von Produktion und Produkt, die unter kapitalistischen Verhältnissen nur als Strukturkrise stattfinden kann und den Widerspruch zwischen allseitiger materieller Vorbereitung des Sozialismus und kapitalistischen Destruktivkräften weiter auf die Spitze treibt.
Das Verständnis über die beiden Strukturkrisen auf Grundlage der Digitalisierung und auf der Grundlage der Elektromobilität ist eine Kernauseinandersetzung im Fertigwerden mit der kleinbürgerlich-reformistischen Denkweise, insbesondere mit der Illusion von der „friedlichen Transformation“, nach der es möglich wäre, solche grundlegenden Veränderungen der Produktivkräfte im heutigen Kapitalismus ohne Strukturkrise einzuführen. Bereits der REVOLUTIONÄRE WEG 23 schreibt zur Gesetzmäßigkeit von Strukturkrisen im staatsmonopolistischen Kapitalismus: „Die Strukturkrise auf der Grundlage der hochentwickelten Technik ist relativ lang und unterliegt keinem Zyklus. Sie beginnt mit der jetzigen wissenschaftlich-technischen Revolution und endet mit deren Ausschöpfung. Überproduktionskrise und Strukturkrise stehen in Wechselwirkung zueinander und beeinflussen sich gegenseitig.“ Dazu ein paar Überlegungen:
Sprunghafte Höherentwicklung der Logistik
Die Digitalisierung ermöglicht eine weitgehende Automatisierung der Versorgung mit Zulieferteilen, aber auch eine ständige Selbstüberprüfung der Qualität im Produktionsprozess selbst über die gesamte Zulieferkette. Immer mehr Teile werden von selbstfahrenden Fahrzeugen automatisch ans Band geliefert. Alle größeren Teile haben einen RFID-Chip, so dass die Hallensteuerung ständig weiß, welches Teil wo ist, ob für das nächste zu bauende Auto alle Teile vorhanden sind und so weiter. Trotzdem steht das ganze Werk Sindelfingen gerade voll mit Autos, an denen Zulieferteile fehlen oder die Produktionsmängel haben. Denn der Kapitalismus kann dieses Potenzial nicht ausschöpfen. Die gesamte Logistik in der Factory56 ist fremdvergeben. Die Kolleginnen und Kollegen bei Rhenus werden schlecht bezahlt und behandelt. Sie wechseln ständig. Jeder Fehler in der Kommissionierung führt in der digitalisierten Produktion aber sofort zum Band-Stillstand, weil es keine Lagerhaltung mehr gibt. Weil es dann Druck gibt, sind viele Meister und Gruppenverantwortliche dazu übergegangen, sich illegale Lager anzulegen oder sie nutzen den kleinen Dienstweg, um Teile nachzufordern. Wird der kleine Dienstweg zum Normalfall, handelt es sich aber um illegale Fremdvergabe. Deshalb muss Daimler, solange es ihm nicht gelingt, die entsprechenden Gesetze zu ändern, entweder diesen kleinen Dienstweg bekämpfen – und die Stillstände hinnehmen – oder die Fremdvergabe zurückfahren.
Die Höherentwicklung der Logistik ist trotzdem eine wesentliche Grundlage, warum Daimler aktuell 15 000 bis 30 000 Arbeitsplätze im sogenannten indirekten Bereich4 vernichten will. …
Die Digitalisierung beschleunigt und verbilligt die Forschung und Entwicklung …
Die Digitalisierung gerät in Widerspruch zur Umstellung auf die Elektromobilität …
Zur Digitalisierung gehört auch die Digitalisierung der Produkte …
Neue Möglichkeiten der Selbstkontrolle – im Kapitalismus nicht ausschöpfbar
Neben der Verkleinerung und Verbilligung der Sensortechnik, die genauere Voraussagen über die Standzeit von Bauteilen ermöglicht und damit vorausschauenden Austausch außerhalb der Produktionszeiten, ermöglicht die moderne digitale Kommunikation auch eine engere Zusammenarbeit der Instandhalter mit Fachkräften im Werk, aber auch bei den Maschinenherstellern. Vor 20 Jahren hat man den Maschinenhersteller angerufen und wenn es zu kompliziert wurde, musste er einen Monteur schicken oder das Teil wurde auf Verdacht ausgebaut und an den Hersteller geschickt. Heute kann er während dem Videoanruf direkt die Sensordaten der Maschine anschauen und in vielen Fällen eine treffende Ferndiagnose machen. Der Kapitalismus kann das volle Potenzial aber nicht ausschöpfen – zum Beispiel kocht jeder Hersteller sein eigenes Süppchen bei den verwendeten Sensoren und Programmen – und Daimler greift jetzt die Instandhalter an. Ihre Arbeitszeit wurde verkürzt und Daimler möchte den Samstag schrittweise für sie zum Regelarbeitstag ohne Zuschläge machen.