Rote Fahne 12/2021

Rote Fahne 12/2021

Absurdistan im Land der „Klimaweltmeister“

Neues vom umstrittenen Bahn-Megaprojekt Stuttgart 21

Von Korrespondenz (Stuttgart)
Absurdistan im Land der „Klimaweltmeister“
Luftaufnahme der S21 Baustelle. Foto: Google Earth

Eigentlich eine gute Nachricht: Personenverkehr per Bahn soll verdoppelt und bundesweit der Deutschlandtakt eingeführt werden. Alle wichtigen Bahnknoten sollen so vernetzt werden, dass man jede viertel, halbe oder volle Stunde passende Umsteigeverbindungen hat. So kann der Autoverkehr verringert werden. Das ist nötig wegen dem uner­träglich wachsenden Verkehrschaos und wegen der drohenden globalen Klimakatastrophe. Weltweit hat der Autoverkehr einen Anteil von 20 bis 25 Prozent an der Emission der Treibhausgase – Tendenz weiter ­steigend. Aber leider … klappt das nicht mit Stuttgart 21.

Jetzt dämmert es auch den bürgerlichen Parteien, dass der im Bau befindliche unterirdische Bahnhof mit nur acht Gleisen viel zu klein ist. Seit zehn Jahren gibt es von den S-21-Gegnern eine Simulation, die zeigt, wie der vorhandene Kopfbahnhof mit 16 Gleisen bestens für einen integralen Taktfahrplan geeignet ist. Nun gibt es eine Vereinbarung im Koalitionsvertrag der neuen Grüne CDU Regierung: Um S 21 noch zu retten, soll noch ein weiterer unterirdischer Kopfbahnhof mit sechs bis acht Gleisen angebaut werden – eine Bankrotterklärung der S-21-Betreiber. Aber das ist noch nicht alles: Ebenfalls seit zehn Jahren ist klar: Der Mischverkehr von S-Bahn und ICE, der wegen S 21 auf einem Teilabschnitt am Flughafen geplant ist, wird nie funktionieren. Und so wurde die nächste glorreiche Idee in den Koalitionsvertrag geschrieben: Noch ein Tunnel, um den Murks auszubügeln. Weitere 24 Kilometer zu den 60 Kilometer Tunneln von S 21, obwohl ohne S 21 die bestehende Strecke von Zürich bestens funktioniert. Und obendrein weitere 20 Kilometer Tunnel als Zulauf zum Tiefbahnhof, um Engpässe aufzuheben. In Summe wären das 100 Kilometer Tunnelstrecken.

 

Absurdistan? – Real existierender Kapitalismus

 

Erst zehn Milliarden versenken, um eine ausbaufähige, aber bewährte Infrastruktur zu zerstören. Dann nochmal fünf Milliarden (ohne die übliche Schönrechnerei) ins Milliardengrab schaufeln, damit der Bahnknoten überhaupt funktioniert. Damit das erreicht wird, was vorher im Prinzip schon mal da war. Alles aus Profitgier, auch um Möglichkeiten für Kapitalanlagen auf den bei S 21 freiwerdenden Gleisflächen zu schaffen. S 21 wurde bereits 1995 auf der Immobilienmesse in Cannes als Immobilienprojekt vorgestellt. Im Übrigen: Allein der Bau der zusätzlichen Tunnel zum Wohle der Bau- und Bohrfirmen bedeutet 730.000 Tonnen Treibhausgase. Sieht so das neue Klima­sofortprogramm der „beste Freunde“ Kretschmann und Strobl1 aus? Wollen sie „weltweit Vorbild“ sein fürs Klima oder für Kapitalanleger? Die Situation ist schizophren: Sollte S 21 jemals in Betrieb gehen, dann müsste man die neuen Absurditäten auch noch gut finden. Deshalb fordern wir: Die alternativen Entwürfe des „Umstieg 21“ müssen umgehend objektiv betrachtet und untersucht werden, der Weiterbau von S 21 gestoppt werden.

 

Die gebauten Tunnel bieten hervorragende Möglichkeiten einer modernen City-Logistik zur Versorgung der Stadt. In den Tunnelröhren können Container abgasfrei und autonom von Logistikzentren außerhalb zur Weiterverteilung in die Stadt fahren, LKW-Verkehr könnte man von den Straßen holen. Sinnvolle Ideen, die umsetzbar sind, gibt es genug. Aber stattdessen werden überlastete Straßen um Stuttgart wie die B27 sechsspurig ausgebaut. Im Verkehrssektor zeigt sich besonders, dass die Probleme eigentlich nur planmäßig in einer sozialistischen Wirtschaft gelöst werden können, wenn die Macht der Konzerne und die Konkurrenz der Verkehrssysteme ausgeschaltet sind. Der krasse Gegensatz zwischen technisch-wissenschaftlichen Möglichkeiten und der Unfähigkeit beziehungsweise dem Desinteresse der Kapitalisten, sie zum Nutzen von Menschheit und Natur einzusetzen, kennzeichnet die Fäulnis des Kapitalismus. Die Montagsdemos gegen S 21 gehen aktuell wieder weiter!

 

Kriminelle Verantwortungslosigkeit beim Brandschutz

 

60 Kilometer Tunnelröhren (mit den Zusatztunneln sogar 100 Kilometer) schließen an einen unterirdischen Bahnhof an. Alles ohne offene, direkte Verbindung ins Freie, zu wenig Notausstiege, zu lange Fluchtwege, zu steile Treppen, bei schlechter Entrauchung. Seit zehn Jahren weisen die „Ingenieure 22“ nach, dass der Brandschutz bei S 21 nicht funktioniert. Dieter Reicherter, Vorsitzender Richter a.D. am Landgericht: „Jahrelang hatte die Bahn lediglich ‚Handrechnungen‘ als Nachweis dafür vorgelegt, dass 1757 Menschen – so viel fasst ein Doppelstockzug – innerhalb von 15 Minuten aus einem brennenden Zug im Tunnel gerettet werden könnten. Sie behauptete, Computersimulationen hätten ihre Handrechnungen bestätigt, obwohl sie tatsächlich weder damals noch später über solche Simulationen verfügte. Das Verkehrsminister Andreas Scheuer unterstellte Eisenbahnbundesamt (EBA) hat auf dieser untauglichen Grundlage Genehmigungen erteilt.“

 

Auf Druck der Kritiker und gerichtlich erzwungen musste die Bahn jetzt ihren Betrug zugeben: Es gibt nur eine Simulation von einem „Kaltereignis“, also ein Unfall ohne Feuer! Ein Brandschutznachweis für den Fall, dass es nicht brennt!2 Auch wurde zugegeben, dass „mobilitätseingeschränkte Personen nicht betrachtet worden“ seien. Von der Polit-Prominenz der Grünen und der anderen bürgerlichen Parteien wird der Skandal tot geschwiegen.