Rote Fahne 10/2021
Otto Grotewohl: Von der aufrichtigen Kritik an der SPD zum Kniefall vor dem Revisionismus
Die Vereinigung von KPD und SPD in der früheren sowjetischen Besatzungszone entsprach dem Wunsch vieler Sozialdemokraten und Kommunisten als Lehre aus der Niederlage der gespaltenen Arbeiterbewegung gegenüber dem Hitler-Faschismus. Einer der treibenden Kräfte war Otto Grotewohl
Otto Grotewohl war vor dem Vereinigungsparteitag am 21./22. April 1946 (siehe auch Rote Fahne 8/2021, Seite 30) Vorsitzender des Zentralausschusses der SPD in der sowjetischen Besatzungszone. Er wurde 1912 Mitglied der SPD. In der revolutionären Situation im Jahre 1918 wechselte er aus einer Antikriegshaltung heraus zur USPD und fand zu den Arbeiter- und Soldatenräten. Während aber viele Mitglieder der USPD alsbald die KPD mit aufbauten, ging Otto Grotewohl schon 1922 zur SPD zurück, wo er unter anderem Justizminister des damaligen Freistaates Braunschweig wurde.
Nach der Zerschlagung des Hitler-Faschismus befürwortete er unter dem Eindruck des Terrors und Elends, das dieser über die Massen und besonders die Arbeiterklasse gebracht hatte, den Zusammenschluss mit der Kommunistischen Partei. „Wir erfüllen das Vermächtnis unserer Toten“, sagte er auf einer Kundgebung nach dem Vereinigungsparteitag.1 Während die antikommunistische Propaganda bis heute von einer „Zwangsvereinigung“ unter dem Druck der sowjetischen Militäradministration spricht, hielt Grotewohl dem entgegen: „Wenn es noch irgendeinen Zweifel gab, dass sich diese Vereinigung in Berlin unter unerlaubtem Druck vollzogen habe, dann wurde gestern darauf die richtige Antwort gegeben. … Druck empfanden wir nur, solange wir uns der Tatsache der Spaltung gegenübersahen.“
Als einer der wenigen Funktionäre der SPD distanzierte sich Grotewohl vom Sumpf des Sozialdemokratismus. Er zog in seinem 1948 erschienenen Buch „30 Jahre später“ Lehren aus der Zustimmung der SPD-Führung zum I. Weltkrieg und ihrem Verrat an der Novemberrevolution, ohne sich jedoch weltanschaulich auf den Boden des Marxismus-Leninismus zu stellen. Während er stets die Bedeutung der „Einheit“ betonte, spielte für ihn der weltanschauliche Kampf, das Austragen der noch bestehenden Widersprüche zwischen ehemaligen Sozialdemokraten und Kommunisten nur eine untergeordnete Rolle.
In der Broschüre der MLPD von 1989 „Wie der Sozialismus verraten wurde (DDR aktuell 1)“ wird dazu ausgeführt: „,Klarheit vor Einheit‘ – nach diesem Motto der Arbeiterbewegung sollten vor einer Vereinigung beider Parteien zunächst die grundlegenden Fragen geklärt werden. Von seiten der SPD-Mitgliedschaft handelte es sich dabei vor allem um die Stellung zum Leninismus, der Weiterentwicklung des Marxismus für die Epoche des Imperialismus. Niemals war in der SPD aufgearbeitet worden, wie es zum Bruch der Beschlüsse der Sozialistischen Internationale und damit zu dem Hurra-Patriotismus von 1914 kommen konnte! … Doch auch in der KPD mußten Fehler überwunden und offene Fragen geklärt werden.“2
Willi Dickhut, Mitbegründer und Vordenker der MLPD sowie langjähriger Funktionär der KPD, kritisierte: „Im ersten Überschwang über den Sturz der faschistischen Diktatur setzten sich in vielen Orten Kommunisten und Sozialdemokraten zusammen, um eine Vereinigung beider Parteien vorzubereiten. Es war eine prinzipienlose Einheit, die die KPD-Genossen eingehen wollten. Heute ist mir klar, dass hier bereits der Keim zur späteren revisionistischen Entartung der KPD gelegt war.“3
Die DDR-Gründung 1949 war eine richtige und notwendige Reaktion auf die Gründung der Bundesrepublik. Ihr Ministerpräsident wurde Otto Grotewohl. Der Übergang von der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung zum beginnenden Aufbau des Sozialismus 1952 war zunächst mit einer Stärkung des sozialistischen Bewusstseins unter einem wachsenden Teil der Arbeiterklasse verbunden. Gleichzeitig wurden die Herausforderungen im weltanschaulichen Kampf unterschätzt und es kam zu einer schleichenden Bürokratisierung der SED.
Bürokratisches Herangehen an Fragen der Arbeitsorganisation und die Lösung von Widersprüchen im Volk löste Unzufriedenheit und Unruhe bei einem Teil der Arbeiter aus, was zu Streiks und Protesten im Mai und Juni 1953 führte. Das wurde sofort von den westlichen Imperialisten für eine massive antikommunistische Einflussnahme genutzt. Dieser dialektische Zusammenhang wurde in der Folgezeit von der SED-Führung weitgehend ignoriert, einseitig wurden nur die Drahtzieher des Imperialismus im Westen zur Ursache der Probleme erklärt. Noch am 21. Juni stellte das ZK der SED fest: „Wenn Massen von Arbeitern die Partei nicht verstehen, ist die Partei schuld, nicht der Arbeiter.“ Zur gleichen Zeit hatte Otto Grotewohl in einer öffentlichen Bekanntmachung einseitig „von Provokateuren und faschistischen Agenten ausländischer Mächte“ gesprochen. Auch Walter Ulbricht, Erster Sekretär der SED, sprach 1954 von einem „faschistischen Putsch“. Diese Ansicht setzte sich schließlich in der gesamten SED-Führung durch. Eine prinzipielle Selbstkritik unterblieb.4
Die III. Parteikonferenz der SED im März 1956 segnete den Verrat am Sozialismus durch die Führung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion ausgehend von deren XX. Parteitag ab. Otto Grotewohl erklärte in seinem Referat: „Wenn heute Genossen die Frage stellen: Gibt es einen friedlichen parlamentarischen Weg … zum Sozialismus, so antworten wir darauf: Es gibt einen solchen Weg.“ Diese revisionistische Illusion haben seitdem Hunderttausende Arbeiter und fortschrittliche Menschen in Indonesien, Chile oder Venezuela mit dem Leben bezahlt. Wegen schwerer Erkrankung zog sich Otto Grotewohl 1960 aus dem politischen Leben zurück und lebte fortan zurückgezogen in der Funktionärssiedlung Wandlitz.