Rote Fahne 09/2021

Rote Fahne 09/2021

DDR – bürokratischer Sozialismus oder bürokratischer Kapitalismus?

Die Beurteilung des gesellschaftlichen Charakters der DDR ist Gegenstand vieler Gespräche bei unserer Aufbauarbeit für die MLPD in den neuen Bundesländern

Von Nordhausen (Korrespondenz)
DDR – bürokratischer Sozialismus oder bürokratischer Kapitalismus?
Erschwerte es, den kapitalistischen Charakter der DDR zu erkennen: Vielfältige Verwendung sozialistischer Begriffe und Symbole wie dieses Marx-Denkmal – heute verteidigen die Chemnitzer ihren „Nischel“, wie er liebevoll genannt wird, 38 Foto: pixel-liebe / CC BY-SA 3.0

Oft aus eigener Erfahrung prangern Kolleginnen oder Kollegen die Zustände der Vetternwirtschaft, der persönlichen Bereicherung, der Abgehobenheit von Parteifunktionären von der Basis und vieles mehr an. Unstrittig ist auch, dass das nichts mehr mit einem echten Sozialismus gemein hatte. Wie aber ist die theoretische Verallgemeinerung dieser Beschreibungen vom Standpunkt des Marxismus-Leninismus zu fassen? An dieser Frage scheiden sich die Geister mindestens ebenso oft.

 

„‚Bürokratisch‘ – ja, da stimme ich zu, aber ‚kapitalistisch‘? Nein, das geht zu weit. Es war doch immer noch ein Sozialismus, wenn auch ein schlecht verwirklichter, aber immer noch besser als der Westen. Der war/ist tatsächlich kapitalistisch.“ Das wird uns entgegengehalten, wenn wir vom System in der DDR als einem bürokratischen Kapitalismus sprechen, der ausgehend vom XX. Parteitag der KPdSU1 in der Sowjetunion im Jahr 1956 zunächst schleichend und später immer offener etabliert wurde. Die manchmal sehr emotionalen Verteidiger der DDR sträuben sich dagegen, dass die DDR einen grundlegenden Wandel erlebt hat, den die MLPD in ihren Schriften dialektisch kritisiert. Sehr wohl verteidigt die MLPD die Errungenschaften des frühen sozialistischen Aufbaus in der DDR gegen jede antikommunistische Attacke, die die DDR pauschal als „Unrechtsstaat“ verleumdet. Zugleich zielt der Standpunkt der MLPD darauf, die notwendigen Lehren aus dem Verrat am Sozialismus zu ziehen. Gerade, weil wir daraus lernen wollen, um zukünftig Fehler bei einem neuen Anlauf für den Sozialismus zu vermeiden.

 

Ein Hauptargument ist häufig, in der Sowjetunion/DDR könne damals kein Kapitalismus geherrscht haben, weil es keinen Privatbesitz an Produktionsmitteln gab, sondern sich die Fabriken in den Händen des Staates befanden. Der Staat war aber zu einem Organ der neuen herrschenden Klasse von Bürokraten aus Partei-, Wirtschafts- und Staatsführung geworden – zu einem kollektiven Gesamtkapitalisten mit dem Zweck, die Massen auszubeuten und zu unterdrücken. Wenn nur die Eigentumsform entscheidend sein soll für die Qualifizierung kapitalistisch oder nicht-kapitalistisch, dann würde es im „klassisch westlichen“ Kapitalismus nicht-kapitalistische Inseln geben. Wir haben dort jede Menge Unternehmen, die sich teilweise oder vollständig in Staatsbesitz befinden. Und auch dort werden die Arbeiter ausgebeutet. Jeder VW-Arbeiter oder Lufthansa-Beschäftigte kann davon ein Lied singen. Die Frage ist also nicht „Staatsbesitz – ja oder nein“, sondern welcher Staat und welche Funktionäre verfügen über die Produktionsmittel?

 

Und letztlich: Man kann Walter Ulbricht und Erich Honecker nicht davon freisprechen, einer neuen Bourgeoisie angehört zu haben, nur weil ihre persönliche Bereicherung nicht die Größenordnung eines Rockefeller oder Quandt erreicht hat. Es geht nicht um viel oder wenig, sondern ob oder ob nicht. Das ist eine prinzipielle Frage des Klassenstandpunkts.