Rote Fahne 06/2021
Wachsende Sorgen bürgerlicher Historiker vor sozialen Unruhen
Als im 14. Jahrhundert die Pest in Europa grassierte, starb mindestens ein Drittel der europäischen Bevölkerung
Die US-Professorin Susan Wade1 berichtet über die Lage in England: Diese große Zahl von Toten führte zu einem enormen Arbeitskräftemangel, Felder wurden nicht mehr bestellt, Dörfer leerten sich. Die Landarbeiter forderten höhere Löhne, suchten nach besseren Anstellungen und verließen die feudalen Verhältnisse bei ihren Landlords. König Edward III. fror aber 1349 die Löhne ein und ließ alle verhaften, die ihre Arbeitsplätze verließen – damit sollte abgesichert werden, dass die Großgrundbesitzer ihren Reichtum behielten. Doch die Arbeiter begannen, Veränderungen zu fordern. Auslöser ihres Aufstands war die Ankündigung einer dritten Kopfsteuer innerhalb von 15 Jahren. Im Juni 1381 stürmten 30.000 Landarbeiter nach London. Ihr Anführer, John Ball, forderte den kompletten Umsturz des Klassensystems, der Adel könne nicht behaupten, dass er einen höheren Status habe als die Leute, die für ihn arbeiteten. Der Nachfolger von Edward, Richard II., organisierte die brutale Verfolgung, Bestrafung und Ermordung der Bauernführer. John Ball wurde gevierteilt.
Susan Wade: „Das mittelalterliche England mag weit weg sein vom modernen Amerika. Natürlich sind die amerikanischen Arbeiter nicht durch feudale Fesseln an ihre Arbeitgeber gebunden. … Aber der Bauernaufstand war auch eine Reaktion auf Jahrhunderte lange Unterdrückung des untersten Drittels der Gesellschaft. … Es sieht so aus, als ob die ökonomischen Ungleichheiten des Kapitalismus im 21. Jahrhundert – wo den reichsten ein Prozent jetzt mehr als die Hälfte des Weltvermögens gehört – denen des 14. Jahrhunderts in Europa zu ähneln beginnen.“2 Susan Wade steht mit ihren Vorahnungen zu Aufständen nicht alleine. Zahlreiche Wissenschaftler, Politiker und Publizisten befassen sich in letzter Zeit sorgenvoll mit der Frage: Was folgt nach der Pandemie? Zwei italienische Wissenschaftler, Massimo Morelli und Roberto Censolo, rechnen mit einer „massiven Zunahme an politischer Instabilität“ nach der Corona-Pandemie – doch diese Instabilität wächst bereits heute!
„Nach mir die Sintflut!“
Im November 2019 erschien eine umfangreiche Analyse des US-amerikanischen Historikers Frank M. Snowden: „Epidemics and Society“ („Epidemien und Gesellschaft“). Snowden hat beginnend mit der ersten Pest-Epidemie im 14. Jahrhundert in Europa bis zu Ebola im 21. Jahrhundert viele Epidemien und ihre gesellschaftlichen Zusammenhänge studiert. Tatsächlich kam es in zahlreichen Ländern nach tödlichen Epidemien zu Unruhen und Aufständen. Er kommt zum Schluss: „Letztlich kann der Zusammenhang zwischen dem weltweiten internationalen System und der öffentlichen Gesundheit nicht ignoriert werden. … Es gilt weiter die alte Weisheit: die öffentliche Gesundheit muss das höchste Gesetz sein und es muss die Gesetze des Marktes außer Kraft setzen“.3
Dieser Illusion über die öffentliche Gesundheit als „höchstes Gesetz“ im Kapitalismus setzten allerdings schon Marx und Engels entgegen: „Après moi le déluge!4 ist der Wahlruf jedes Kapitalisten und jeder Kapitalistennation. Das Kapital ist daher rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird.“5
Unzufriedenheit wächst – Bewusstseinsbildung entscheidend
„Während ganze Bevölkerungsgruppen sich vom gleichen Sturm gefangen sehen, sitzen nicht alle im gleichen Boot“, schreibt Peter I. Rose von der Stanford-Universität.6 Das ist sehr wahr! Die Klassenwidersprüche verschärfen sich, die Corona-Krise trifft auf die bereits zuvor eingeleitete Weltwirtschafts- und Finanzkrise: Massenarbeitslosigkeit und Armut steigen international, die Kritik an der chaotischen Regierungspolitik nimmt zu. Ein geheimes Strategiepapier von Seehofers Innenministerium vom 18. März 2020 warnt: „Die gegenwärtige Krise … hat das Potenzial, das Vertrauen in die demokratischen Institutionen in Deutschland nachhaltig zu erschüttern.“ Seit dem wiederholten Scheitern des bürgerlichen Krisenmanagements entwickelt sich in Deutschland eine neue Vertrauenskrise in die bürgerliche Politik. Diese Pandemie durchdringt sich mit vielfältigen anderen Krisen des Kapitalismus. Wir erleben – im Unterschied zum 14. Jahrhundert – bereits mitten in der Krise eine beschleunigte Tendenz zu einer gesamtgesellschaftlichen Krise des imperialistischen Weltsystems. Es ist gut, wenn immer mehr Menschen die Frage nach einer gesellschaftlichen Alternative aufwerfen.
Natürlich wird die aktuelle Entwicklung unter den heutigen Bedigungen der antikommunistischen Meinungsmanipulation nicht spontan zu Revolutionen führen. Dazu ist eine intensive Bewusstseinsbildung unter den Massen über die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus und die Alternative des echten Sozialismus und eine höhere Organisiertheit nötig. Daran arbeitet die MLPD.