Rote Fahne 06/2021

Rote Fahne 06/2021

Startet die Wirtschaft jetzt durch? Zu Dimension und Ursachen der Weltwirtschafts- und Finanzkrise

Anfang März beteiligten sich 270.000 Arbeiter und Angestellte zu Beginn der Tarifrunde ...

Von (ac/ms)
Startet die Wirtschaft jetzt durch? Zu Dimension und Ursachen der Weltwirtschafts- und Finanzkrise
Foto: Tabor Pixabay / Pixabay-License

... in der Metall- und Elektroindustrie an Warnstreiks. Sie machten deutlich: Weder kommt eine Wiederholung der Nullrunde noch der von den Unternehmerverbänden geforderte Lohnverzicht für Arbeitszeitverkürzung in Frage. Der Präsident des Unternehmerverbands Gesamtmetall, Stefan Wolf, hält provokativ dagegen: „Wir sollten die leichte Erholung der Industrie jetzt nicht durch Warnstreiks gefährden.“ Die Kapitalistenverbände ziehen jede Art von Wirtschaftsentwicklung als Begründung heran, um Arbeiterforderungen und Kampfmaßnahmen zu verteufeln. Im Frühjahr letzten Jahres erzählten sie, dass man wegen der Tiefe der Wirtschaftskrise keine Forderungen aufstellen dürfe. Jetzt darf man auf keinen Fall kämpfen, weil sich die Wirtschaft angeblich erholen würde. Die bürgerliche politische Ökonomie ist von ihrem Wesen her Zweck-Propaganda. Die Arbeiterklasse ist gut beraten, sich nicht von bürgerlichen Konjunkturprognosen abhängig zu machen. Sie braucht aber mehr Klarheit über die Dimension und die Ursachen der gegenwärtigen Weltwirtschafts- und Finanzkrise in Wechselwirkung zur Corona-Krise, um in die Offensive zu gehen.

 

Von „Erholung“ der deutschen Wirtschaft kann keine Rede sein. Die Wechselwirkung von Weltwirtschafts- und Finanzkrise sowie Corona-Pandemie führte im April/Mai 2020 zu den bisher stärksten Einbrüchen der Industrieproduktion auf der Welt – noch stärker als in der bis dahin tiefsten und umfassendsten Weltwirtschafts- und Finanzkrise in der Geschichte des Kapitalismus von 2008 bis 2014. Brach die Industrieproduktion der OECD im April 2009 um 17,3 Prozent ein, waren es im April 2020 19,9 Prozent.1 Die deutsche Industrieproduktion sackte im April 2009 um 24,0 Prozent ab, im April 2020 um 29,8 Prozent. Nur eine Minderheit von zwölf Staaten verzeichnete zum Jahresende 2020 Zuwächse der Industrieproduktion im Vorjahresvergleich. Das zur ökonomischen Supermacht gemauserte China ist bislang im Konkurrenzkampf Gewinner der Krise und legte 2020 um 2,3 Prozent zu. Die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung hat sich verschärft.

 

Zum Ende des Jahres 2020 hat sich statt einer allgemeinen „Erholung“ die Weltwirtschafts- und Finanzkrise sogar weiter verschärft. In Deutschland ging die Industrieproduktion im produzierenden Gewerbe im November 2020 im Vergleich zum Vorjahresmonat um 2,6 Prozent zurück. Auch in der überwiegenden Mehrheit der imperialistischen Länder befand sich die Produktion im November 2020 sowohl unter dem Stand des zweiten Halbjahrs 2018 als auch unter dem Niveau von November 2019.

 

Kanzlerin Angela Merkel erwartet einen „kräftigen Wachstumsschub“ der Wirtschaft, „vorausgesetzt, wir bekommen die Pandemie in den Griff“.2 Doch genausowenig wie die bereits Mitte 2018 begonnene Weltwirtschafts- und Finanzkrise im Ausbruch der Corona-Pandemie ihren Ausgangspunkt hatte, würde sie mit ihrer Überwindung automatisch zu Ende sein. Erst wenn genügend Kapital und Waren vernichtet sind, finden kapitalistische Überproduktionskrisen ihr zeitweiliges Ende. Die Überakkumulation des Kapitals – also die Anhäufung von Kapital, das in der Produktion nicht maximalprofitbringend angelegt werden kann – ist aber weiterhin gigantisch. So sind die Börsenkurse aufgrund der Spekulation seit 2008 um 300 bis 500 Prozent gestiegen, während die weltweite Industrieproduktion seit 2008 nur um 5 Prozent wuchs.

 

Ein neuer tiefer Einbruch der Krise kann jederzeit von einer unkontrollierten Vertiefung der Weltfinanzkrise ausgehen. Die Kurse an den großen internationalen Börsen erreichten nach der offenen Börsenkrise im Frühjahr 2020 bis heute bei ständigen Schwankungen neue Höchststände – befeuert von der Politik des billigen Geldes der Zentralbanken. Der Widerspruch zwischen den ausufernden Börsenkursen und der krisenhaften Industrieproduktion verschärft sich. Er wird früher oder später in neuen Börsenkrisen zum Ausbruch kommen.

 

Staatliches Krisenmanagement auf Rekordhoch

 

Das staatliche Krisenmanagement mit einem Gesamtumfang von 1,85 Billionen Euro aller in Deutschland beschlossenen Programme (2009 waren es „nur“ 500 Milliarden Euro) hat zwar zunächst krisendämpfende Wirkung, verschärft jedoch zugleich die Widersprüche. Dass jetzt Konzerne wie Daimler, Opel, FiatChrysler und PSA trotz Umsatzrückgängen riesige Profite melden, ist neben gesteigerter Ausbeutung besonders der staatlichen Umverteilung des Nationaleinkommens zu verdanken. Allein Daimler hat nach Schätzungen der IG Metall im letzten Jahr 500 bis 700 Millionen Euro durch Zahlung von Kurzarbeitergeld eingespart.

 

Die neue US-Regierung unter Joe Biden hat gerade ein neues Krisenprogramm in Höhe von 1,9 Billionen US-Dollar aufgelegt. Die Europäische Zentralbank beschloss im Dezember 2020, zusätzliche 500 Milliarden Euro in den Aufkauf von Staats- und Unternehmensanleihen zu stecken. Diese Vergesell-schaftung der Akkumulation3 ist eine weitere materielle Vorbereitung des Sozialismus – sie kommt aber im Imperialismus den Übermonopolen zu Gute und wird weitreichende destruktive Auswirkungen nach sich ziehen. So hat die Verschuldung der Staatshaushalte  ungekannte Dimensionen erreicht. Mit den Krisenprogrammen verdoppelte sich die Verschuldungsquote aller von der OECD erfassten „alten“ imperia­listischen Länder seit 2007 auf heute 105 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts. 132 von 148 untersuchten Ländern4 waren Ende 2020 kritisch verschuldet. 

 

Während besonders die Regierung in Deutschland weiterhin auf verschiedene soziale Zugeständnisse setzt, deuten Arbeitsplatzvernichtungsprogramme in immer mehr Konzernen bereits einen Übergang zur verstärkten Abwälzung der Krisenlasten an. Die Unternehmerverbände fordern weitere rigorose Einschnitte wie die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf bis zu 70 Jahre.

 

Die unverantwortliche Lockerungspolitik der Regierung unter dem Diktat der Monopole trotz mit Wucht anrollender dritter Welle der Corona-Pandemie treibt die Destruktivkräfte des Kapitalismus mit wahrhaft tödlichen Folgen auf die Spitze – und kann auch negativ auf die Wirtschaftsentwicklung zurückschlagen.

 

Imperialismus ohne Finanzkapital?

 

Die Linkspartei will die Gesellschaft „aus dem Würge­griff der Finanzkonzerne befreien“, auch um die Krisenursachen zu beseitigen. Und wie soll das passieren? Ganz einfach: „Die Linke will den Finanzsektor auf gesellschaftlich sinnvolle Kernaufgaben konzentrieren.“5 Herzlichen Glückwunsch, dass diese über 100 Jahre alte Idee der Linkspartei nun wieder eingefallen ist! Nur: Eine heutige kapitalistische Wirtschaft ohne sogenannte Finanzkonzerne ist undenkbar. Bereits Lenin analysierte, dass die Konzentration der Produktion und des Kapitals gesetzmäßig zur Verschmelzung der Banken mit der Industrie und zur Entstehung des Finanzkapitals führt. Das geht so weit, dass in den Zeiten der Neuorganisation der internationalen Produktion das allein herrschende internationale Finanzkapital die Weltwirtschaft und Weltpolitik diktiert. Auch die heute dominierende Rolle der Kapitalspekulation ist keine böswillige Erfindung, sondern gesetzmäßige Folge der chronischen Überakkumulation des Kapitals. Imperialismus ohne beherrschendes Finanzkapital ist genauso wenig denkbar wie der Vollrausch ohne anschließenden Kater.

 

Es ist auch kein Zufall, dass die ganzen Ressourcen der Gesellschaft mithilfe der imperialistischen Staaten auf die Interessen des allein herrschenden internationalen Finanzkapitals ausgerichtet sind. Im Programm der MLPD heißt es: „Die hier ansässigen internationalen Übermonopole, die zum allein herrschenden internationalen Finanzkapital gehören, haben sich den Staat vollkommen untergeordnet, und die Organe des Monopolkapitals sind mit den Organen des Staatsapparats verschmolzen. Sie haben ihre allseitige Herrschaft über die gesamte Gesellschaft … errichtet.“6 Das ändert man nicht mit reformistischen Wunschträumen – dafür ist eine Lösung notwendig, die  den Imperialismus revolutionär überwindet und eine Diktatur des Proletariats mit breitester Demokratie für die Massen auf dem Weg zum Kommunismus errichtet.

           

„Störfaktor“ Corona?

 

Oliver Holtemöller, stellvertretender Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), meint, im Gegensatz zu 2008 wäre der Kriseneinbruch diesmal „nicht durch vorangegangene ökonomische Fehlentwicklungen“, sondern durch  Corona ausgelöst worden. Doch die deutsche Industrieproduktion ging bereits vom November 2018 bis November 2019 Monat für Monat zurück und fiel 2019 um 4,6 Prozent – da war von einer Corona-Pandemie noch nichts zu sehen. Selbst die klugen Propheten der Wirtschaftsentwicklung mit viel Erfahrung in der Deutung der Glaskugel ahnten noch nichts davon …

 

Allerdings waren es auch 2008 keineswegs nur konkrete  „Fehlentwicklungen“, die zur damaligen Weltwirtschafts- und Finanzkrise führten. Stefan Engel, der Leiter des theoretischen Organs der MLPD, schrieb treffend in der Broschüre „Bürgerliche poli­tische Ökonomie vor dem Scherbenhaufen“: „Der Grundwiderspruch der kapitalistischen Produktion basiert auf der gesellschaftlichen Produktion, die jedoch privat angeeignet wird. Dieser Widerspruch zwischen den gesellschaftlichen Produktivkräften und den kapitalistischen Produktionsverhältnissen macht sich gesetzmäßig in periodisch auftretenden Krisen Luft, deren vorübergehende Überwindung durch die Bourgeoisie nur darin bestehen kann, neue, tiefere und umfangreichere Krisen vorzubereiten.“ (S. 15 f.)

 

Kapitalismus „transformieren“?

 

Die rechte IG-Metall-Führung sieht den Ausweg in einer „sozialen, ökologischen und demokratischen Transformation“ der kapitalistischen Wirtschaft.7 Tatsächlich entfalten sich zum Beispiel im Zusammenhang mit der Digitalisierung die revolutionären Produktivkräfte – die sich im Kapitalismus aber zunehmend in Destruktivkräfte verwandeln. Die Realität der „Transformation“ im Kapitalismus sieht dann so aus, dass die Abwälzung der Krisenlasten durch ihre Funktionäre oder Betriebsratsspitzen „mitgestaltet“ wird. So verteidigt der Untertürkheimer Daimler-Betriebsratschef Michael Häberle eine Vereinbarung über die Vernichtung tausender Arbeitsplätze in dem Werk als „leisen Jobabbau“ (siehe S. 18). Tatsächlich ist das Gerede von der „Transformation“ nur die Begleitmusik zur vollständigen Kapitulation vor der sich vertiefenden Krisenhaftigkeit des Kapitalismus.

 

Die Weltwirtschafts- und Finanzkrise treibt in Verbindung mit gleich mehreren Strukturkrisen die Konzentration und Zentralisation des Kapitals weiter voran. Dafür steht in der Autoindustrie derzeit die Fusion von PSA und FiatChrysler zu Stellantis, dem viertgrößten Automobilkonzern der Welt. Der neue Konzern mit seinen 14 Marken hat die Produktions­kapazität von 13 Millionen Fahrzeugen, hat aber bereits 2019 nur 8,7 Millionen verkauft. Deshalb sollen Werke mit einer Kapazität von fünf Millionen Autos im Jahr stillgelegt und die Profite um fünf Milliarden Euro im Jahr gesteigert werden – mit entsprechend massenhafter Arbeitsplatzvernichtung und Erpressung der Belegschaften. Hinzu kommt die bevorstehende riesige Pleitewelle, die bis zu Konzernzusammenbrüchen führen und besonders die nichtmonopolistische Bourgeoisie und zigtausendfach Gastronomen, kleine Reisebüros, Künstler und viele mehr in den Ruin treiben wird.

 

Allgemeine Krise des Kapitalismus verschärft sich

 

Die Weltwirtschafts- und Finanzkrise verschärft in Wechselwirkung zur Corona-Krise auch alle anderen Widersprüche und durchdringt sich mit ihnen. Die zunehmend ungleichmäßige Entwicklung der imperialistischen Länder treibt die allgemeine Kriegsgefahr. Die Militärausgaben stiegen 2020 auf einen Höchststand von 1,83 Billionen Dollar. Auch die internationalen Übermonopole und Branchen entwickeln sich sehr ungleichmäßig und es entbrennt eine neue Runde in der Schlacht um die Neuaufteilung der Märkte sowie Produktionsstätten. Die weltweite Flüchtlingskrise vertieft sich gerade durch die Abwälzung der Krisenlasten und verstärkte imperialistische Aggressivität. Mitte 2020 waren weltweit 80 Millionen Menschen auf der Flucht. Seit 2010 hat sich diese Zahl verdoppelt. Die Krise der bürgerlichen Familienordnung verschärft sich ebenfalls, im letzten Jahr besonders durch die Rückverlagerung von immer mehr gesellschaftlichen Aufgaben auf die Familien und dort besonders die Frauen. Während die Treibhausemissionen durch die Wirtschaftseinbrüche leicht zurückgingen, verschärfte sich die globale Umweltkatastrophe insbesondere durch den verstärkten Raubbau an der Natur. Die wachsende imperialistische Krisenhaftigkeit bündelt sich in einer beschleunigten Tendenz zu einer gesamtgesellschaftlichen Krise des imperialistischen Weltsystems. Die Weltwirtschafts- und Finanzkrise vertieft in Wechselwirkung zur Corona-Krise die allgemeine Krise des imperialistischen Weltsystems.

 

Perspektive ohne Krisenchaos

 

In Deutschland entwickelt sich eine neue Vertrauenskrise in die bürgerliche Politik. In dieser Situation kommt es entscheidend darauf, die Bewusstseinsbildung über die Notwendigkeit der revolutionären Überwindung des kapitalistischen Systems mit seinem Krisenchaos zu verstärken und die dafür notwendige Organisiertheit in der MLPD und ihrem Jugendverband REBELL sowie den wichtigen überparteilichen Selbstorganisationen der Massen, vorneweg den Gewerkschaften, zu erhöhen. Die beschleunigte Tendenz zu einer gesamtgesellschaftlichen Krisen des imperialistischen Weltsystems setzt die internationale Koordinierung und Revolutionierung der Kämpfe auf die Tagesordnung. Dazu muss die revolutionäre Weltorganisation ICOR weiter gestärkt werden in Wechselwirkung mit dem Aufbau der internationalen antiimperialistischen und antifaschistischen Einheitsfront. Eine sozialistische Zukunft ohne Krisen ist keine Utopie. Sie ist bereits allseitig materiell vorbereitet. Es geht um einen qualitativen Sprung in der Produktionsweise, der im Buch „Morgenröte der internationalen sozialistischen Revolution“ so gekennzeichnet wird: „…vom Zwang, für ununterbrochenes Wachstum des privat angeeigneten Mehrwerts die Ausbeutung von Mensch und Natur ständig zu steigern, zu einer gesellschaftlichen Produktion, in der die Befriedigung der stets wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Menschheit in Einheit mit der Natur verwirklicht wird.“