Rote Fahne 03/2021
Vorwärts zum „Postkapitalismus“?
Im dritten und letzten Teil dieser Serie setzt sich der Autor mit einigen Positionen der Jusos, DKP und Anarchisten auseinander
Die Eigentums- oder Produktionsverhältnisse „ruhig“ zu belassen und mit eben diesem Motiv alle möglichen Illusionen zu verbreiten, ist der wahre Sinn der bürgerlich-reformistischen Ideologie. IG-Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban ist einer ihrer Vertreter, wenngleich man ihm sehr wohl abnehmen kann, dass er über Gesamtmetall empört ist.1 Gerade auf das Gegenteil von „ruhigem“ Belassen der Verhältnisse aber kommt es an – und das heißt auf den Übergang zur Arbeiteroffensive sowie im weiteren Verlauf auf den Übergang in die zweite Etappe des Klassenkampfes, die akut revolutionäre Situation. Erst dann werden Machtfragen gestellt, hinter denen tatsächlich mächtig agierende Kräfte stehen: Auf der einen Seite die Bourgeoisie, in erster Linie das allein herrschende internationale Finanzkapital, das seine Herrschaft mit allen Mitteln zu verteidigen sucht, auf der anderen Seite die unter Führung des Industrieproletariats kämpfenden Massen. Alle Gruppierungen jedoch, die es sich ersparen wollen, diesen zwar langwierigen, aber einzig erfolgversprechenden revolutionären Weg vorzubereiten, zu bahnen und letztlich auch konsequent zu Ende zu gehen, weichen der Entscheidung aus – entweder nach rechts oder nach „links“.
So ist für die Jungsozialisten in der SPD „die sozialistische Gesellschaft ein stetiger Prozess in der Bemühung, es den 90 Prozent der Menschen besser gehen zu lassen“.2 Scheinbar jede kleine Verbesserung im Rahmen des Kapitalismus stellte damit schon ein Stück sozialistische Gesellschaft dar. Irgendwann am Ende der Allmählichkeit würde sie dann vollständig sein, quasi ähnlich dem berühmten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.
„Neue revolutionäre Strategie“ der DKP?
Als etwas kämpferischere Variante zum friedlichen Juso-Reformismus entdeckte Rolf Jüngermann, Redakteur der Marxistischen Blätter, in der DKP-Zeitung UZ zusätzlich eine neue Phase, die allerdings auch keinen anderen Zweck verfolgt als dem Sturz der Diktatur des Finanzkapitals und einer Eroberung der Staatsmacht für den Sozialismus zuvorzukommen: „Heute stehen wir vor der Aufgabe, eine neue revolutionäre Strategie zu entwickeln, die dem überlebenswichtigen Übergang zu einem nachhaltigen Post-Kapitalismus angemessen wäre.“3 Also erst mal vorwärts zum „Postkapitalismus“!? – wer und welche Klasse auch immer in solch ominösem Stadium politisch das Sagen haben möge. Offenbar lautet die Devise: Später dann (post!) kann man immer noch weitersehen.
Auch die Gruppe „Perspektive Kommunismus“, unter welchem Namen sich vier anarchistisch-autonome Organisationen mit kommunistischem Anspruch zusammengeschlossen haben, will eine gesellschaftliche „Gegenmacht“ schon heute aufbauen und hier und jetzt damit beginnen: „Dabei gehen wir davon aus, dass der Aufbau von revolutionärer Gegenmacht ein kontinuierlicher Prozess sein muss, diese Frage also nicht erst in einer revolutionären Situation, sondern in jeder Entwicklungsphase der Organisation aktuell ist.“4 Nach diesem Modell gäbe es in einer Gesellschaft immer zwei Mächte, immer Doppelherrschaft, immer aber auch das Konstrukt zweier Systeme nebeneinander, bis eines sich durchsetzt. Die daraus resultierenden und nicht selten aktionistischen, von den Massen isolierten und provokativen Kampfformen gehen somit weltanschaulich auf ein im Grunde mechanisch-starres Gesellschaftsverständnis zurück.
Aus Kleinem entsteht Großes
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass keine der behandelten Losungen von vornherein nach Rückzug, Genügsamkeit und Beschränkung klingt, eher sind radikale Töne zu hören: Durchgreifende Demokratisierung, Sozialismus als stetiger Prozess, revolutionäre Strategie des Postkapitalismus, Gegenmacht in jeder Phase und so weiter. Nur eines bleibt nahezu gänzlich auf der Strecke: Die eigentliche Arbeit beziehungsweise die geduldige und manchmal zähe Kleinarbeit: „Der führende Faktor der gesellschaftsverändernden Bewegung für die befreite Gesellschaft des Sozialismus ist der Übergang zur Arbeiteroffensive. Die Verwirklichung der Arbeiteroffensive ist an die systematische Kleinarbeit der Partei gebunden.“5
Wem das auf den ersten Blick vielleicht allzu unspektakulär erscheint, mag in Theorie und Praxis selbst nachprüfen, wie die Bewegung der Widersprüche verläuft, einschließlich der gesellschaftlichen: Nur aus Kleinem entsteht Großes – Kampf und Einheit der Gegensätze! Nach der ersten Etappe, noch ohne Macht, kann es nach ihrem gelungenen Übergang in die zweite Etappe des Klassenkampfs zum Mitregieren und Mitbestimmen kommen und in der dritten zum Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus!
Für umso wichtiger halte ich in diesem Zusammenhang, die dialektisch-überzeugende Auseinandersetzung als Negation der Negation zu führen, also nicht einfach illusionäre Forderungen und Losungen als solche beziehungsweise absolut zurückzuweisen, sondern aufzuzeigen, unter welchen Bedingungen sie gegebenenfalls real werden können und wie derartige Bedingungen zu bewerkstelligen sind. Das wird nach meinen Erfahrungen dann auch relativ schnell die Spreu vom Weizen trennen und zeigen, wer es wirklich ernst meint mit der Kritik am Kapitalismus. Und wer sich andererseits nur den Worten nach an sie anpasst, am kapitalistischen System im Prinzip aber festhält beziehungsweise vortäuscht, es mit dem sozialistischen auf irgendeine metaphysisch-künstliche Weise vermischen zu können.
Bereits erschienene Artikel der dreiteiligen Serie:
„Doppelherrschaft“: Illusion und Realität, Rote Fahne Magazin 1/2021, S. 34/35
Illusionen in einen „Nach-Corona“-Kapitalismus, Rote Fahne Magazin 2/2021, S. 36