Rote Fahne 19/2020
30-Stunden-Woche – aber mit vollem Lohnausgleich und auf Kosten der Konzernprofite!
Um die Frage der Verkürzung der Arbeitszeit und der 30-Stunden-Woche ist eine Massendiskussion entbrannt.
Einer Umfrage zufolge stehen in Deutschland 61 Prozent einer Vier-Tage-Woche offen gegenüber oder unterstützen sie.1 Die MLPD hat schon 1995 die Forderung nach der 30-Stundenwoche bei vollem Lohnausgleich aufgestellt. Aktuell erklärt auch Katja Kipping von der Linkspartei ihre Zustimmung zur 30-Stunden-Woche. Der IG-Metall-Vorstand ist für eine Vier-Tage-Woche. Die kann sich Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) ebenfalls vorstellen, aber nur mit „teilweisem Lohnausgleich“.2 Immer mehr gesellschaftliche Akteure anerkennen, dass eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung Millionen Arbeitsplätze erhalten und schaffen kann. Selbst Bertram Brossardt, Chef des Verbands der bayerischen Metall- und Elektroindustrie, sieht darin ein „sinnvolles Instrument“, allerdings „nur bei gleichzeitiger Absenkung“ der Löhne. Häufig hört man aber selbst unter Arbeitern: „Gut wäre es schon, doch wer soll das bezahlen!“
Bei einer Umfrage meint ein ehemaliger Bergmann: „Die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich wird kein Unternehmer mitmachen. Die wollen doch eher, dass du Überstunden machst.“ Natürlich wollen die Kapitalisten die Ausbeutung weiter steigern, deshalb kann diese Frage nur im Kampf entschieden werden. Steffen Kampeter, Geschäftsführer der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA), warnt gar vor einem „Produktivitätsschock“, zu dem eine Arbeitszeitverkürzung gerade jetzt in der Krise führen würde.3 Dabei sind es die Arbeiter, die der Industrie zu einer jahrzehntelangen sprunghaften Steigerung der Arbeitsproduktivität verholfen haben. So stieg der Umsatz pro Beschäftigten von 2005 bis 2019 um über 27 Prozent. Da die durchschnittliche Arbeitszeit bei Vollzeitarbeitskräften heute bei etwa 38 Stunden liegt, entspräche eine Verringerung auf 30 Stunden (–21 Prozent) noch nicht mal dem in den letzten 15 Jahren erarbeiteten Produktionszuwachs von 27 Prozent.
Unversöhnliche Interessen
Es stellt die Wirklichkeit auf den Kopf, wenn bürgerliche Ökonomen und Politiker die Arbeiter und ihre Arbeitszeit als „Kostenfaktoren“ diffamieren. Karl Marx deckte bereits vor 160 Jahren auf, dass die Arbeitszeit in Wirklichkeit wesentliche Quelle und Maß des gesellschaftlichen Reichtums ist: „Arbeitszeit … bleibt immer die schaffende Substanz des Reichtums und das Maß der Kost, die seine Produktion erheischt. Aber freie Zeit, verfügbare Zeit, ist der Reichtum selbst – teils zum Genuß der Produkte, teils zur freien Aktivität …“4 Marx stellte fest: „Zeit ist der Raum zu menschlicher Entwicklung.“5
Was Kampeter und seinesgleichen vor allem „schockiert“, ist die Tatsache, dass die mehrwertschaffende Arbeitskraft der Arbeiter bei einer 30-Stunden-Woche im Schnitt sechs Stunden pro Woche weniger zur Verfügung stünde. Für die freie Zeit der Arbeiter interessieren sie sich allenfalls insofern, als sie der Wiederherstellung der Arbeitskraft dient. Für die Arbeiter geht es um viel mehr. So stehen sich in dieser Frage bürgerliche Ökonomie und die politische Ökonomie der Arbeiterbewegung unversöhnlich gegenüber. Marx bringt es so auf den Punkt: „Der Kapitalist behauptet sein Recht als Käufer (der Ware Arbeitskraft – Anm. d. Red.), wenn er den Arbeitstag so lang als möglich und womöglich aus einem Arbeitstag zwei zu machen sucht. Andererseits schließt die spezifische Natur der verkauften Ware eine Schranke ihres Konsums durch den Käufer ein, und der Arbeiter behauptet sein Recht als Verkäufer, wenn er den Arbeitstag auf eine bestimmte Normalgröße beschränken will. … Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt. Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstags als Kampf um die Schranken des Arbeitstags dar – ein Kampf zwischen dem Gesamtkapitalisten, d. h. der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamtarbeiter, oder der Arbeiterklasse.“6
Marx kritisiert auch das ganze auf Ausbeutung beruhende Lohnsystem. Erst seine Abschaffung und die der kapitalistischen Ausbeutung wird es ermöglichen, „die Arbeit auf alle Gesellschaftsglieder ohne Ausnahme zu verteilen und dadurch die Arbeitszeit eines jeden so zu beschränken, daß für alle hinreichend freie Zeit bleibt, um sich an den allgemeinen Angelegenheiten der Gesellschaft – theoretischen wie praktischen – zu beteiligen.“7
Die MLPD misst deshalb dem Kampf um Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich eine besondere Bedeutung bei. In der tiefsten Weltwirtschafts- und Finanzkrise der Geschichte des Kapitalismus und in einer beschleunigten Tendenz zu einer gesamtgesellschaftlichen Krise des imperialistischen Weltsystems beginnen die Arbeiter, ihre eigene Rechnung aufzumachen. Gerade in dieser Situation braucht es offensive Klassenlosungen, die allseitig von den Interessen der Arbeiterklasse ausgehen. Die Forderung nach der 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich ist dafür besonders geeignet. Zugleich ist sie geeignet, die geforderte breite Diskussion über den Sozialismus und die Bewegung „Gib Antikommunismus keine Chance!“ voranzutreiben. Denn sie wirft die Frage auf, wem der gesellschaftliche Reichtum und Fortschritt eigentlich zugute kommt: Den Kapitalisten oder der Arbeiterklasse? Die Forderung nach der 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich richtet sich gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf die Arbeiter und ihre Familien im Rahmen der bürgerlichen Familienordnung. Und sie bleibt nicht bei der Verteidigung der Arbeitsplätze stehen, sondern greift an.
Wirksam gegen Massenarbeitslosigkeit
„Viele Kollegen waren positiv überrascht, dass die IG-Metall-Führung die Forderung nach einer Vier-Tage-Woche aufgegriffen hat“, berichtet eine Arbeiterin von Ford in Köln. „Viele sagen, dass wirklich etwas passieren muss bei der Arbeitszeit. Der Stress und Druck sind nicht mehr auszuhalten.“
Es ist vor allem die massenhafte Arbeitsplatzvernichtung vor dem Hintergrund der Weltwirtschafts- und Finanzkrise, die den Kampf um Arbeitszeitverkürzung dringlich auf die Tagesordnung setzt. VW, Daimler, Ford, Opel, Siemens, Bosch, ZF und viele andere führende Konzerne gingen schon 2018/2019 zur Vernichtung Tausender Arbeitsplätze über, als von Corona noch keine Rede war. Die Weltwirtschafts- und Finanzkrise war bereits Mitte 2018 eingeleitet worden. Die Wechselwirkung zur Entwicklung der Corona-Pandemie seit Frühjahr 2020 verschärft die Auswirkungen drastisch. Jungfacharbeiter werden nicht übernommen, Ausbildungsplätze werden vor allem von Großbetrieben mit mehr als 500 Beschäftigten rasant vernichtet.
Offiziell waren im Juli dieses Jahres 2 910 000 Menschen arbeitslos, 635 000 mehr als vor einem Jahr. Hinzurechnen muss man die verdeckte Arbeitslosigkeit, so dass heute schon wieder über vier Millionen Menschen arbeitslos sind.8 Rein rechnerisch könnte die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich bei gleichzeitiger Abschaffung aller Überstunden 6,886 Millionen Vollzeitarbeitsplätze erhalten oder schaffen.9 Die Forderung ist deshalb auch genau richtig, um die Arbeiter und Angestellten in den Betrieben mit den Erwerbslosen zusammenzuschließen.
Mit oder ohne vollen Lohnausgleich?
Ein Stahlarbeiter berichtet: „Die meisten Kollegen finden es gut, weniger zu arbeiten. Einer sagte: ‚Von mir aus sofort, dadurch könnten Kollegen übernommen werden, aber nur mit vollem Lohnausgleich!‘ Ein anderer: ‚Hier muss die Gewerkschaft richtig kämpfen, um das durchzusetzen!‘ Es gibt aber auch andere Stimmen. Ein Älterer meinte: ,Der Arbeitsdruck ist so hoch, dass ich froh über jede freie Stunde bin, selbst wenn ich weniger Lohn bekomme!‘“
Wenn in immer mehr Konzernen nun Betriebsvereinbarungen oder gar Tarifverträge zu zeitweiliger Verkürzung der Arbeitszeit ohne oder nur mit teilweisem Lohnausgleich abgeschlossen werden, geht es dabei vor allem um eine weitere Steigerung der Ausbeutung. In Zusammenarbeit mit der rechten Gewerkschaftsführung wollen die Monopole damit die Krisenlasten durch Senkung des allgemeinen Lohnniveaus auf die Arbeiterklasse abzuwälzen. Zugleich ermöglicht dies den Monopolen, gut ausgebildete Fachkräfte zu halten, statt sie zu entlassen.
Oft wird auch auf das „schwedische Modell“ verwiesen, das ebenfalls den Sechs-Stunden-Tag oder die Vier-Tage-Woche ohne vollen Lohnausgleich beinhaltete. Es beruht vor allem auf einer maximalen Verausgabung der Arbeitskraft in kürzerer Zeit – oft auch in Verbindung mit Homeoffice. Was als Möglichkeit, Beruf, Familie und Erholung besser in Einklang zu bringen verkauft wird, ist in Wirklichkeit eine neue Form der Überausbeutung.
Eine große Diskussion ist auch, ob man in der Krise nicht auch schmerzhafte Zugeständnisse an die Kapitalistenseite machen müsse, damit nicht „alles noch schlimmer“ würde. Im Facebook-Diskussionsforum der IG Metall schreibt ein Gewerkschafter: „Durch Corona haben es die Firmen schon schwer, daher wäre das eine Möglichkeit, über zwei bis drei Jahre weniger zu arbeiten bei Gehaltskürzung, aber gegen Kündigungsschutz.“ Es ist aber eine alte Erfahrung der Arbeiterbewegung, dass die Kapitalisten die ganze Hand nehmen, wenn man ihn einen Finger reicht. Ein Nachgeben bei Löhnen führt nur dazu, dass sie auch die anderen sozialen Rechte noch mehr angreifen. Es ist wichtig, in der Krise hart zur Verteidigung der Arbeitsplätze und sozialen Rechte zu kämpfen. Auf dem vollen Lohnausgleich zu bestehen, ist von grundlegender Bedeutung. Er steht auch für das bewusste Austragen des unversöhnlichen Klassengegensatzes in der Arbeitszeitfrage.
Als Tarifforderung aufstellen – Konzernvereinbarungen erkämpfen
Die MLPD tritt konsequent für die Arbeiterinteressen und eine 30-Stunden-Woche als sechsstündiger Regelarbeitstag von Montag bis Freitag bei vollem Lohnausgleich ein. Damit positioniert sie sich auch gegen die Forderungen des Kapitals nach immer weitgehenderer Flexibilisierung. Sie schlägt vor, die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich in die anstehenden Tarifrunden einzubringen.
Die Betriebsgruppen der MLPD unterstützen zugleich den selbständigen Kampf um Konzernvereinbarungen über die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. So gibt es bei Daimler den Vorschlag, dafür einen konzernweiten Aktionstag als Auftakt zu organisieren. Kleinbetriebe müssen dazu finanziell unterstützt werden – aus einem Fonds, der sich aus einer umsatzbezogenen Sozialsteuer speist, die vor allem große Konzerne bezahlen müssen.
Der Kampf um die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich ist auch eine Schule der internationalen Koordinierung und Revolutionierung der Kämpfe. Dazu hat die 2. Internationale Automobilarbeiterkonferenz in Südafrika Ende Februar ein internationales Kampfprogramm der Automobilarbeiterinnen und Automobilarbeiter und ihrer Familien beschlossen. Darin heißt es: „Die Verkürzung der Arbeitszeit auf 30 Stunden pro Woche oder sechs Stunden pro Tag bei vollem Lohnausgleich ist die wichtigste ökonomische Forderung im Kampf um jeden Arbeits- und Ausbildungsplatz und gegen die Massenarbeitslosigkeit. … Es ist klar, dass die Einheit der Arbeiterklasse der Weg ist, um diese Ziele zu erreichen.“
Wer „nicht zeitgemäß“ ist ...
Die IG-Metall-Führung hat lange Zeit die Forderung der MLPD nach einer kollektiven Arbeitszeitverkürzung in Form der 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich als „nicht zeitgemäß“ abgelehnt. Es war einigermaßen absurd, der MLPD antikommunistisch vorzuwerfen, ihr ginge es um „egoistische Parteiinteressen“, wenn sie eine richtige Arbeiterforderung aufstellt. Zugleich wurden die Gewerkschaften, auch die IG Metall, in den letzten Jahren von den Arbeitern immer wieder zu Kampforganisationen in konkreten Auseinandersetzungen um Arbeitszeitverkürzung gemacht. In Ostdeutschland kämpfen die Metaller hartnäckig um die Angleichung der Arbeitszeit an die 35-Stunden-Woche im Westen. In der aktuellen Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst des Bundes und der Kommunen fordert die Gewerkschaft ver.di ebenfalls die Angleichung der Arbeitszeit in Ost und West. Jetzt schwenkt auch die IG-Metall-Führung teilweise auf die Debatte um weitergehende Arbeitszeitverkürzung ein. Auf Facebook schreibt ein IG-Metaller zur Debatte um die Vier-Tage-Woche, dies komme „der Forderung der MLPD ja schon sehr nahe“. Natürlich – wenn das keine gute Gelegenheit ist, die Stärke der weltanschaulichen Offenheit der Gewerkschaft mitsamt den Erfahrungen und vorwärtsweisenden Vorschlägen der revolutionären Arbeiterbewegung auszuspielen. Wenn etwas „nicht zeitgemäß“ ist, dann sind es die undemokratischen und antikommunistischen „Unvereinbarkeitsbeschlüsse“ in der IG Metall gegen die MLPD und ihr zugerechnete Kräfte.
Arbeitszeit und freie Zeit im Aufbau einer befreiten Gesellschaft
Die MLPD führt solche Kämpfe als Schule eines gesellschaftsverändernden Kampfs für den Sozialismus. In einer sozialistischen Gesellschaft wird es selbstverständlich sein, dass die Werktätigen vom Produktivitätsfortschritt profitieren. So wurde in der sozialistischen Sowjetunion sofort nach der Oktoberrevolution der Acht-Stunden-Tag eingeführt und in den 1930er-Jahren sogar der Sieben-Stunden-Tag. Damit gewinnt die Arbeiterklasse freie Zeit, um sich zu bilden, sich kulturell, gesellschaftlich und politisch zu betätigen, zu lernen, den Staat zu lenken sowie für die Einheit von Mensch und Natur Initiative zu entfalten.
Der Kapitalismus wird dagegen immer deutlicher zum Hindernis für den Fortschritt der menschlichen Gesellschaft. Die MLPD verknüpft die Diskussion um die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich deshalb eng mit der Strategiedebatte um die Zukunft der Menschheit und einen grundlegenden Paradigmenwechsel in einer sozialistischen Gesellschaft.