Rote Fahne 23/2019

Rote Fahne 23/2019

Neue archäologische Funde stellen herrschende Theorie infrage

Lutz Fiedler ist Professor des Landes Hessen für urgeschichtliche Archäologie mit den Schwerpunkten planerische und gedankliche Fähigkeiten des frühen Menschen. Kürzlich veröffentlichte er mit Kollegen eine Studie (1) zu Funden in Schotterablagerungen des Rheins, der Nahe und der Mosel. Die Rote Fahne führte dazu ein Gespräch mit ihm

Von Redaktion Rote Fahne
Neue archäologische Funde stellen herrschende Theorie infrage
Rheinterrasse Münster-Sarmsheim: Abschlag in Fundsituation. Foto: mit freundlicher Genehmigung von L. Fiedler

Rote Fahne: Herr Professor Fiedler, um was handelt es sich bei den Funden?

 

Prof. Fiedler: Nun, wir haben Abschläge gefunden an acht Orten entlang des Rheins, der Nahe und der Mosel. Die frühesten Funde sind 1,3 Millionen Jahre alt (Münster-Sarmsheim), die jüngsten Funde sind 0,6 Millionen Jahre alt (Mauer/Mosbach und Miesenheim).

 

Was ist daran so spannend?

 

Das Aufsehenerregende an diesen neu entdeckten Steinwerkzeugen ist ihr verblüffend hohes Alter, das weit über die bisherigen Vorstellungen der meisten europäischen Archäologen hinausgeht.

 

Aufgrund von über 700 Tiefenbohrungen konnte der Geomorphologe Prof. Dr. Johannes Preuß (Universität Mainz) eine Neugliederung von nunmehr 28 Rhein- und Naheterrassen vorlegen. Er hat damit zugleich ein präzises Datierungsmodell der jeweiligen Terrassen entwickelt. Dieses Modell widerlegt die zuvor angenommenen Alterseinschätzungen radikal. Glaubten wir zuvor, dass Artefakte aus den Kiesen der sogenannten jüngeren Hauptterrassen (rund 120 bis 140 Meter oberhalb des Wasserstandes des heutigen Rheins) maximal 800.000 Jahre alt sind, müssen sie heute zwischen 1,2 und 1,3 Millionen Jahre datiert werden.

 

Steingeräte dieses Alters sind bisher nur in Afrika und seit Beginn dieses Jahrhunderts auch aus Italien und Spanien bekannt geworden. Allerdings kennen wir aus noch höheren und damit noch älteren Terrassen am Mittelrhein Funde mit Altersstellungen über 1,5 Millionen Jahren!

 

Damit eröffnet sich eine ungeahnte Perspektive auf eine sehr frühe Anwesen- heit des Menschen in den gemäßigten Zonen Europas, die eine wissenschaftliche Neuorientierung ermöglicht.

 

Inwiefern widerspricht das den bisher herrschenden Theorien, insbesondere der Out-of-Africa-Theorie?

 

Bisher waren die meisten Archäologen davon überzeugt, dass es vor dem Zeitraum von vielleicht 550.000 Jahren keine Anwesenheit des Menschen in den klimatisch angeblich ungünstigen Gebieten nördlich der Alpen gegeben haben könne.

 

Menschenknochen aus Georgien (Dmanissi) mit einem Alter von 1,8 Millio­nen Jahren zeigten allerdings, dass eine sehr urtümliche Form unserer Vorfahren, die als früher Homo erectus bezeichnet werden kann, extrem weit nördlich des zuvor angenommenen Ursprungsgebiets verbreitet gewesen ist. Das alleine und weitere Funde aus Ostasien hätten Überlegungen auslösen müssen, ob die Out-of-Africa-Hypothese in der bisherigen Form weiter Bestand haben könne. Wenn wir demnächst auch Artefakte vom Rhein veröffentlichen, die ein Alter haben, das dem der unteren drei Schichten der berühmten ostafrikanischen Olduvai-Schlucht entspricht, dann ist das ein weiterer Beleg dafür, dass die Entwicklung zum Menschen nicht auf Afrika beschränkt gewesen ist.

 

Es hat vielmehr in einem viel größeren Bereich der warmen und nun zusätzlich der gemäßigten Steppengebiete im Altpleistozän (frühes Eiszeitalter) stattgefunden. Leider klebt der Mainstream der Fachkollegen noch immer an der bisherigen Out-of-Africa-Theorie1; jüngere Kolleginnen und Kollegen mit alternativen Erklärungsmodellen haben seit Jahren durchaus schlechte Karrierechancen.

 

Was meinen Sie damit?

 

Es lastet ein existentieller Druck besonders auf den jüngeren Archäologie-Kollegen. Sie machen sich große Sorgen wegen der existenzverunsichernden Zeitverträge und der umfangreichen Forschungsanträge zur Drittmittelbeschaffung. Es gibt auch ideologisch einen enormen Anpassungsdruck seitens der herrschenden Wissenschaftsdoktrin.

 

Wie sehen Ihre weiteren Pläne aus?

 

Mit dem Kollegen Christian Humburg bin ich an den Terrassenfunden im Rhein-Nahe-Gebiet weiter dran. Wir kennen dort, wie bereits gesagt, nun sogar Funde, die deutlich über 1,5 Millionen Jahre alt sind. Es scheint so zu sein, dass Urmenschen zwischen Marokko, Südasien und Ostafrika verbreitet waren und sich vermischten. Vielleicht liegt deren Ursprung nicht in Afrika alleine, sondern wie gesagt in einem weiten Verbreitungsgebiet.

 

Herzlichen Dank für das Gespräch und weiterhin viel Erfolg!

 

 

Sachworterklärung:

Abschlag:

Dies ist ein zielgerichtet erzeugtes Spaltstück von einem Kernstein. Durch Urmenschen geschaffene Abschläge gibt es seit über 2,5 Millionen Jahren.

 

Artefakt:

Ein von Menschen hergestellter Gegenstand. Die überwiegende Zahl frühmenschlicher Artefakte besteht aus Steingeräten.

 

Homo erectus:

Frühmenschen, die seit circa 2 Millionen Jahren und bis vor etwa 300.000 Jahren in Afrika und Europa sowie bis vor 50.000 Jahren in Asien lebten.

 

Out-of-Africa-Theorie:

Vorherrschende Theorie in der Archäologie, wonach verschiedene Frühmenschenformen immer wieder in Afrika entstanden und sich von dort aus weltweit verbreiteten.