Rote Fahne 07/2019
Die kämpferische Tradition der britischen Arbeiterklasse lebt
Die britische Arbeiterbewegung braucht starke Einheitsgewerkschaften und eine revolutionäre Führung
Die Geburtsstunde des Kapitalismus Ende des 17. Jahrhunderts liegt in Großbritannien. Mit dem Kapitalismus entstand auch die Arbeiterbewegung. Von größerer politischer Bedeutung wurde die Chartisten-Bewegung. Sie entstand Mitte der 1830er-Jahre und vereinte 1840 bereits 40.000 Mitglieder in 400 Ortsgruppen. Karl Marx bezeichnete die Chartisten als den damals „politisch aktiven Teil der britischen Arbeiterklasse“. Die Chartisten forderten ein allgemeines Wahlrecht. Damit warfen sie objektiv die Frage der politischen Macht der Arbeiterklasse auf, so Marx.
Ab 1850 wuchs die Zahl der Gewerkschaften und ihrer Mitglieder kontinuierlich an. Obwohl die Gewerkschaften 1868 einen Dachverband, den Trade Unions Congress (TUC) gründeten, blieb die britische Gewerkschaftsbewegung stark zersplittert. Eine Schwäche, die sie bis heute nicht überwunden hat. Eine weitergehende Kritik entwickelte Lenin an der Politik des „Nur-Gewerkschaftertums“ in der britischen Arbeiterbewegung. Einer Politik, die den Kampf der Arbeiterklasse auf gewerkschaftliche Fragen beschränken will und damit ihrer revolutionären Perspektive beraubt.
Die britischen Gewerkschaften waren bis in die 1980er-Jahre hinein für ihre hohe Streikbereitschaft und Durchsetzungsfähigkeit bekannt. Deshalb hatte die ultrareaktionäre britische Regierung unter Margaret Thatcher1 sich die Aufgabe gestellt, den Einfluss und die Macht der Gewerkschaften zu brechen. 1984/85 kam es zu einer Machtprobe zwischen den Bergarbeitern und der arbeiterfeindlichen Regierung. Ausgangspunkt war die Ankündigung der Regierung zur Schließung von 20 Zechen. Darauf traten die Bergleute in einen Streik. Dieser einjährig geführte Streik mit bis zu 180.000 Bergarbeitern war einer der härtesten und längsten Streiks der Insel. Er wurde mit großer Opferbereitschaft – die Streikenden erhielten kein Streikgeld und nur eine karge staatliche Unterstützung – und mit aller Härte geführt. Bei Auseinandersetzungen mit der Polizei gab es mehrere Tote. Der Streik erhielt riesige Unterstützung in der Bevölkerung und löste weltweit eine Solidaritätsbewegung aus. Von den Bergarbeiterfrauen und -familien wurde der Kampf mitgetragen – und belebte die proletarische Frauenbewegung. Die MLPD organisierte eine Spendenkampagne und kämpfte gegen die Belieferung mit deutscher Kohle als Ersatz für den Streikausfall. Die damalige IGBE-Führung lehnte aber den Streik der britischen Kumpel ab und hintertrieb die Solidarität. So kam Streikbrecherkohle aus Deutschland, den USA und aus dem angeblich sozialistischen Polen nach Großbritannien. Auch in Großbritannien fehlte die notwendige aktive Unterstützung des Streiks durch den gewerkschaftlichen Dachverband TUC. Das – und das Fehlen einer revolutionären Partei – waren wesentliche Gründe für die Niederlage des Streiks. Der Streik hat tiefe Spuren in der britischen Arbeiter und Gewerkschaftsbewegung hinterlassen. Einerseits bis heute Stolz und Achtung gegenüber diesem Kampf. Gleichzeitig wurden die Gewerkschaften geschwächt. So sind heute nur noch 25 Prozent der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert, gegenüber 55 Prozent in den 1970er-Jahren.
Die reaktionäre Thatcher-Regierung und ihre Nachfolger setzten eine weitgehende Deregulierung des Arbeitsmarktes in Verbindung mit Lohnsenkungen durch. „Mein Mann und ich haben jeder zwei Jobs, damit wir mit unserer Familie über die Runden kommen“, berichtet eine britische Arbeiterin. 2017 gab es 1,8 Millionen Beschäftigte mit Arbeitsverträgen ohne garantierte Mindeststunden, sogenannte Null-Stunden-Verträge. Gegen diese Entwicklung kam es im vergangenen Jahr in verschiedenen Bereichen und Branchen immer wieder zu gewerkschaftlichen und auch selbständigen Streiks.
Gegen die Salamitaktik von PSA-Chef Carlos Tavares im Vauxhall-Werk in Ellesmere Port streikten im November 2018 alle 1100 Beschäftigten gegen die Ankündigung der Vernichtung weiterer 241 Arbeitsplätze. Gegen Angriffe von BMW auf die Betriebsrenten streikten die Beschäftigten aller vier BMW-Werke 2017 zusammen acht Tage. Sogenannte geringfügig Beschäftigte von McDonald’s bis Uber Eats organisierten am 4. Oktober 2018 einen gemeinsamen Protesttag: für eine Mindestlohn von 10 Pfund und gewerkschaftliche Rechte. Tausende Lehrerinnen, Lehrer und Kommunalbeschäftigte streikten in Glasgow für höhere Löhne. 40.000 Universitätsdozenten streikten landesweit zwei Tage gegen Rentenkürzungen. Im August forderten tausende Reinigungskräfte in London mit einem dreitägigen Streik eine Anhebung ihrer Löhne. Immer wieder ist auch die Krise des britischen Gesundheitswesen Anlass für Streiks und Demonstrationen.
Die kämpferische Tradition der britischen Arbeiterbewegung ist lebendig. Um mit den großen Herausforderungen der krisenhaften Entwicklung des Imperialismus fertigzuwerden, gilt es, an den kämpferischen und revolutionären Erfahrungen anzuknüpfen. Und dabei mit spezifischen Problemen auch in der Denkweise fertigzuwerden. Dazu gehört die Überwindung der Zersplitterung der Gewerkschaftsbewegung und des „Nur-Gewerkschaftertums“. Diese Richtung wird heute z. B. von verschiedenen trotzkistischen Gruppierungen vertreten. In Großbritannien erfolgte relativ früh der Verrat der kommunistischen Partei am Marxismus-Leninismus. Das gab den Trotzkisten weiter Spielraum. Aber heute wachsen revolutionäre und marxistisch-leninistische Kräfte wieder. Sie stehen vor dem Neuaufbau einer revolutionären Partei. Es gibt Interessenten an und Freunde der ICOR. Das Band der internationalen Arbeitersolidarität kann kein Brexit zerschneiden.
1 Margaret Thatcher war von 1979 bis 1990 Premierministerin