Rote Fahne 07/2019
Brexit – Sprengsatz für die EU
Austritt Großbritanniens aus der EU
2016 hatten die britischen Wähler in einem Referendum zum Brexit mit 52 Prozent für den Austritt aus der EU gestimmt, bei einer Wahlbeteiligung von über 72 Prozent. Die Mehrheit der Briten lehnte die weitere Mitgliedschaft in der EU ab, weil sie berechtigte Kritiken an der EU-Politik haben. Zu Redaktionsschluss dieses Artikels blieb unklar, ob am 29. März der Brexit nun erfolgt oder nicht erfolgt, und in welcher Form. Die bürgerlichen Medien tragen das ihre zur Verwirrung bei. Sie tun so, als käme alles darauf an, ob man für oder gegen den Brexit sei. Aber was ist der Arbeiterstandpunkt in dieser Frage?
Der Ausgang des Referendums hatte die EU zunächst in eine tiefe, offene politische Krise gestürzt. Die widersprüchliche Gemengelage analysierte das Zentralkomitee der MLPD in seinem Rechenschaftsbericht für den X. Parteitag 2016: „In einer monatelangen Medienkampagne wurde in Großbritannien, aber auch hier in Deutschland, eine verzerrte Polarisierung unter den Massen erzeugt. So wurde eine Scheinalternative aufgebaut, wonach sich die Massen zwischen vermeintlich reaktionären, nationalistischen Befürwortern des Brexit und den vermeintlich fortschrittlichen, internationalistischen EU-Anhängern zu entscheiden hätten.
In Wahrheit waren Brexit-Gegner wie Brexit-Befürworter gespalten. Weder waren die Brexit-Gegner in ihrer Mehrheit Anhänger des EU-Imperialismus, noch kann man die Brexit-Befürworter mit der Massenbasis ultrareaktionärer Strömungen gleichsetzen. Zu ihnen gehörte zum Beispiel eine starke Bewegung unter den Linken und Gewerkschaften, die aus Protest gegen Niedriglöhne, Beschneidung von Gewerkschaftsrechten, die EU-Flüchtlingspolitik usw. für den Brexit aufgerufen hatte.“1
Die Ablehnung der herrschenden Politik in Großbritannien hat sich auch nach dem Referendum weiterentwickelt. So streikten die Müllwerker in Birmingham im Februar zweimal die Woche gegen die politische Unterdrückung durch schwarze Listen nach Streiks und Entlassungen. Schüler und Studenten beteiligen sich landesweit an den Demonstrationen „Fridays for Future“. In London demonstrierten im Januar 10.000 Menschen in gelben Westen gegen die Regierungspolitik in ihrer ganzen Bandbreite: gegen zu hohe Mieten und die sich ausbreitende Obdachlosigkeit, gegen die Verschlechterungen im staatlichen Gesundheitswesen, für die Verbesserung der Pflege und des Zustands an den Schulen des Landes usw.2
In Großbritannien hat sich eine tiefe Unzufriedenheit mit der bürgerlichen Regierung, den bürgerlichen Parteien sowie der imperialistischen EU und ihren Institutionen entwickelt, mittlerweile sogar eine Vertrauenskrise in die ganze herrschende Politik. Eine Korrespondentin aus Großbritannien schreibt: „Die Menschen haben das ganze Fiasko um den Brexit satt. Das Vertrauen in die Politiker ist auf einem nie dagewesenen Tiefstand.“
Geheuchelte Sympathie
EU-Kommission und Bundesregierung würden den Austritt Großbritanniens am liebsten verhindern. Wofür sich die Wählermehrheit dort ausgesprochen hat, interessiert sie nicht. Ganz ernsthaft wird von internationalen Monopolen und verschiedenen bürgerlichen Politikern bis heute eine Wiederholung des Brexit-Referendums gefordert. So viel zum „Demokratieverständnis“ derjenigen Politiker, die stets die britische Premierministerin Theresa May über „mangelnde Konsensfähigkeit“ belehren. Anfang des Jahres riefen die Bundesregierung, die Vorsitzenden von CDU, SPD und Grünen, die Monopolverbände und die Vorsitzenden der großen Gewerkschaften die britische Regierung in einem gemeinsamen Brief dazu auf, in der EU zu verbleiben. Darin loben sie Europa als „Zuhause“, dessen „Tür immer offen steht“.
Wie es um die „offene Tür“ der EU bestellt ist, spüren tausende Flüchtlinge aus Nicht-EU-Ländern, gegen die sich das imperialistische Staatenbündnis EU immer rigoroser abschottet. Die EU wurde nicht gegründet, damit die Menschen in Europa in „Wohlstand“, „Freiheit“ und „Frieden“ leben können. Wäre dem so, dann wären in ihr nicht 23,5 Prozent der Gesamtbevölkerung von Armut bedroht 3, würden die EU-Regierungen nicht massiv aufrüsten und den Abbau bürgerlich-demokratischer Rechte und Freiheiten im Rahmen ihrer Rechtsentwicklung vorantreiben.
Die „Sehnsucht“ der führenden EU-Politiker nach Großbritannien hat andere Gründe. Der Ausgang des Referendums bedeutete eine schwere historische Niederlage des allein herrschenden internationalen Finanzkapitals. Der Austritt Großbritanniens als zweitgrößter Wirtschaftsnation der EU verschlechtert die weltweiten Konkurrenzbedingungen des EU-Imperialismus zugunsten der USA und der neuimperialistischen Länder. Dem politischen Vereinigungsprozess der EU wurde vorerst ein jähes Ende gesetzt. Die Expansion des deutschen Imperialismus wiederum ist wesentlich abhängig vom Voranschreiten dieses europäischen Einigungsprozesses.
Der Anteil der EU am Welt-Bruttosozialprodukt wird durch den Austritt Großbritanniens von 21,4 Prozent im Jahr 2017 auf 18,2 Prozent zurückfallen. Die Anzahl der EU-Übermonopole unter den weltweit 500 größten wird von 122 auf 101 sinken. Dazu verliert die EU London als internationales Finanzzentrum und ihre stärkste, mit Atomwaffen ausgerüstete Militärmacht. Damit erleiden auch die Träume von einer weiteren militärischen Stärkung der EU im Rahmen der NATO einen empfindlichen Rückschlag.
EU diktiert Bedingungen
Weil es der EU bislang nicht gelungen ist, den Austritt Großbritanniens rückgängig zu machen, will sie dem britischen Imperialismus mit unnachgiebiger Härte ihre Bedingungen für den Austritt diktieren – und das noch verpackt in scheinbar fortschrittliche Phrasen.
Um den Austritt zu regeln, hat sie mit der britischen Regierung einen 585-seitigen Austrittsvertrag abgeschlossen. Kategorisch weigert sich die EU, daran auch nur das Geringste nachzuverhandeln. Dieser Vertrag sieht nach dem bislang für den 29. März 2019 vorgesehenen Austrittstermin für Großbritannien eine Übergangsfrist bis Ende 2020 vor. So lange bleibt Großbritannien weiter in der Zollunion. In dieser Zeit darf Großbritannien Verhandlungen mit anderen Staaten über Freihandelsabkommen nur vereinbaren, sofern diese erst nach der Übergangsperiode in Kraft treten.4 Das schränkt eine rasche Neuorientierung der britischen Bourgeoisie auf andere Bündnispartner ein. In zwei Abstimmungen lehnte die Mehrheit der britischen Unterhausabgeordneten den von May ausgehandelten Deal ab.
Großbritanniens Wirtschaft zurückgefallen
Ein Hintergrund für den Brexit ist der besonders starke wirtschaftliche Rückfall Großbritanniens im EU- und internationalen Maßstab. Über zehn Jahre nach dem Ausbruch der Weltwirtschafts- und Finanzkrise im Jahr 2008 hat die britische Industrie ihren früheren Höchststand vor dem Ausbruch der Krise noch nicht einmal wieder erreicht, sondern kam im vierten Quartal 2018 nur auf 92,9 Prozent.5
Mit dem EU-Austritt verfolgen Teile des britischen Finanzkapitals das Ziel, dem wirtschaftlichen und politischen Rückfall entgegenzuwirken und auf veränderten Wegen wieder eine dominierende Stellung in der Welt zu erobern. Dafür wollen sie die Rolle als nach wie vor zweitstärkster Wirtschaftsmacht der EU, von London als führendem internationalen Finanzplatz, die Atommacht und starke Rüstungsindustrie Großbritanniens in die Waagschale werfen – auch in Verbindung mit neuen reaktionären Bündnissen, insbesondere mit den USA unter dem faschistoiden Präsidenten Donald Trump.
Der britische Minister für internationalen Handel, Liam Fox, steht in ständigem Kontakt mit dem US-Handelsstaatssekretär Wilbur Ross, um die gegenseitigen Handelsbeziehungen und die Kapitalverflechtung zwischen beiden Ländern zu fördern. Großbritanniens verstärkte Annäherung an die USA wird auch von Trump gefördert, der sich ausdrücklich für den Brexit ausgesprochen hat. Die hinter Trump stehenden Kreise des US-Finanzkapitals wollen damit zugleich auch die EU zu schwächen.
Großbritanniens Verteidigungsminister Gavin Williamson bringt die Blütenträume eines neuen britischen „Empire“ auf den Punkt: „Großbritannien ist eine Weltmacht mit durch und durch globalem Anspruch … Der Brexit hat uns an einen großen Moment in unserer Geschichte gebracht … Wir können neue Allianzen aufbauen, alte wiedererwecken und vor allem klarmachen, dass wir das Land sind, das bei Bedarf handeln wird.“ 6
Bislang ist diese Strategie allerdings nicht aufgegangen. So konnte die britische Regierung erst sechs von 40 Freihandelsverträgen, die die EU mit anderen Ländern hat, als bilaterale Abkommen neu abschließen. Viele Kleinunternehmen fühlen sich von der EU vor allem durch zahlreiche Vorschriften gegängelt. Mittlere und kleine britische Unternehmen treiben keinen oder wenig Handel mit der EU. Von 5,4 Millionen britischen Unternehmen exportieren überhaupt nur 300.000 oder sechs Prozent in die EU.7
Dagegen haben sich führende internationale Konzerne wie Airbus, Siemens, BMW und Jaguar Land Rover – mit großen Werken auf der Insel vertreten – klar gegen einen EU-Austritt ausgesprochen und zum Teil Produktionsverlagerungen angekündigt. Carolyn Fairbairn, Vorsitzende der Confederation of British Industry (CBI), die vor allem die Interessen großer, auf die EU ausgerichteter Konzerne in Großbritannien vertritt, warnt: „Die Richtung zum No-Deal muss sofort gestoppt werden.“ 8
In den deutschen bürgerlichen Medien wird so getan, als ob diese Monopole fortschrittlicher seien als die Brexit-Befürworter. Dagegen zählt für sie ganz genauso nur der Maximalprofit. So will BMW von 2019 bis 2022 seine Profite durch „Einsparungen“ um 12 Milliarden Euro erhöhen. Tatsächlich könnte ein unkontrollierter Brexit zum Auslöser eines krisenhaften Einbruchs der Weltwirtschaft werden. Deshalb ist die EU auch zu minimalen Zugeständnissen wie der Verschiebung des Austrittstermins bereit.
Je näher das geplante Austrittsdatum vom 29. März rückt, umso mehr entfalten sich die Widersprüche in Regierung und Parlament. Eine dritte Abstimmung über den ausgehandelten Austrittsvertrag hat der Parlamentspräsident der Premierministerin zwischenzeitlich untersagt.
Es geht hin und her: Zustimmung zum „Deal“ mit der EU, „No Deal-Brexit“, zeitweise Verschiebungen usw. Das zeigt, wie tief die krisenhafte Entwicklung in Großbritannien und der EU geht. Wie gebannt soll man das Hin und Her der imperialistischen Optionen verfolgen. Dabei sind die Folgen aller dieser Optionen für die Massen reaktionär. Umso mehr kommt es darauf an, dass die Arbeiterklasse ihren eigenen, unabhängigen Standpunkt einnimmt.
Scheinalternative ablehnen!
Bei alldem geht es um Scheinalternativen für die Massen! Sie lehnen mehrheitlich zu Recht die EU-Politik ab. An der Ausbeutung und Unterdrückung der britischen Arbeiterklasse ändert sich nichts Grundsätzliches – ob Großbritannien nun in der EU verbleibt oder austritt. Die Rebellion gegen die imperialistische EU ist gerechtfertigt und muss länderübergreifend organisiert werden. Auch gegen mögliche Folgen eines „harten“ oder „weichen“ Brexit wie Entlassungen durch internationale Monopole wie Airbus, BMW oder Tata Steel.
Die krisenhafte Entwicklung kann und muss vielmehr genutzt werden, um die Kämpfe zu entfalten. Dazu ist es nötig, sich mit sozialchauvinistischen Positionen auseinanderzusetzen wie der, dass der Brexit durchaus „Vorteile“ für die „deutsche Wirtschaft“ und damit angeblich auch für die Arbeitsplätze habe. Oder dass daraus erwachsende „Nachteile“ für die BRD-Wirtschaft eben auch schlecht für die Arbeiter in Deutschland seien. Der imperialistische Konkurrenzkampf ist aber in keinem Fall im Interesse der Arbeiterklasse – weder in Deutschland noch in Großbritannien. Er wird so oder so auf den Rücken der Arbeiter und breiten Massen ausgetragen – mit verschärfter Ausbeutung, wachsender Umweltzerstörung und zunehmender Kriegsgefahr.
Revolutionäre Kritik an der EU hat Perspektive
Nein zur EU mit ihrem imperialistischen Machtstreben, aber auch Nein zur Unterstützung der mehr national orientierten Teile der Monopole und Bourgeoisie – das ist in Großbritannien, Deutschland und anderen Ländern der EU wichtig. Die MLPD kritisiert die EU prinzipiell als imperialistisches Machtbündnis. Die Internationalistische Liste/MLPD kandidiert zu den Europawahlen unter der Losung „Rebellion gegen die EU ist gerechtfertigt! Hoch die internationale Solidarität!“ Damit macht sie auch deutlich, dass man die Kritik an der EU nicht ultrarechten oder faschistoiden Kräften überlassen darf!
Der Kampf für die vereinigten sozialistischen Staaten der Welt ist die wirkliche Perspektive der Rebellion gegen die EU – in Großbritannien und allen anderen Ländern der EU bzw. Europas.
Die MLPD nutzt die Beteiligung an den Europawahlen für eine Aufklärungsarbeit über das Wesen und die Entwicklung des imperialistischen Weltsystems – insbesondere über den imperialistischen Charakter der EU. Eine gute Gelegenheit, die internationale Zusammenarbeit in der ICOR Europa zu intensivieren, die ICOR9 insgesamt wie auch ihre Mitgliedsorganisationen zu stärken und den Aufbau starker revolutionärer Parteien und Organisationen überall in Europa zu fördern.
1 Dokumente des X. Parteitags, S. 36/37
2 Quelle: Streikdatenbank der GSA e.V.
3 Eurostat: Schlüsseldaten über Europa 2018
4 https://derstandard.at, 15.11.2018
5 OECD Monthly Economic Indicators, eigene Berechnung GSA e.V.
6 ntv.de, 11.02.2019
7 www.steuerkanzlei.co.uk
8 www.cbi.org.uk
9 Internationale Koordinierung revolutionärer Parteien und Organisationen