Rote Fahne 22/2018
Sizilien – ein Ort der Migration seit der Antike
Die Insel an der Südspitze Italiens ist ein lebendiges Zeugnis der Verschmelzung verschiedener Kulturen durch Migrationsbewegungen über Jahrtausende In unserem Urlaub auf Sizilien wollten wir die Menschen, das Land, seine Kultur und seine Geschichte näher kennenlernen. Uns interessierte auch, wie sich die menschenverachtende Flüchtlingspolitik der neuen italienischen Regierung – bestehend aus der faschistoiden Lega Nord und der Fünf-Sterne-Bewegung – auswirkt.
Eine wechselvolle Geschichte
Die ersten Nachweise menschlichen Lebens reichen 35.000 Jahre zurück. 1000 v. u. Z. gab es phönizische Handelsstützpunkte, 750 v. u. Z. die ersten griechischen Stadtgründungen. Viele Einwanderungs- und Kolonisationswellen machten Sizilien zu einem ethnisch heterogenen Gebiet mit diversen untereinander rivalisierenden Kultur- und Siedlergruppen. Phönizier, Griechen, Römer, Byzantiner, Araber, Normannen, Hohenstaufer und später die Spanier hinterließen – heute noch sichtbar – ihre Spuren. Erst 1861 wird Sizilien Teil des neugegründeten Königreichs Italien. Noch heute hat es den Status einer Region mit autonomer Verwaltung.
Die verschiedenen Herrscher der Insel lieferten sich heftige Kämpfe untereinander und waren sich einig in der Unterdrückung des Volkes. Gegen die oft brutale Tyrannei schlossen sich verschiedene Volksgruppen auch immer wieder zu Aufständen zusammen. Überliefert sind zum Beispiel ein Sklavenaufstand aus dem Jahr 260 oder ein Volksaufstand gegen hohe Brotpreise im Jahr 1647. Sie wurden jeweils blutig niedergeschlagen. Sizilien gehörte zu den am wenigsten faschistisch durchsetzten Regionen Italiens während der Herrschaft Mussolinis.
Migration – Grundlage kultureller Vielfalt
Diese Migrations- und Kolonisationsbewegungen haben gleichzeitig zu einem einzigartigen kulturellen Reichtum geführt. Noch heute sind griechische Tempel, römische Villen, arabische Moscheen, normannische Dome und barocke Bauwerke Zeugnis der wechselvollen Geschichte. Nicht selten vermischen sich die verschiedenen Baustile. So vereint zum Beispiel das Kloster San Giovanni degli Eremiti in Palermo normannische und arabische Elemente. Am beeindruckendsten fanden wir das heute noch erhaltene Theatro Greco in Syrakus. Tausende von Sklaven haben im 5. Jahrhundert v. u. Z. die steinernen Sitzreihen dieses Freilichttheaters aus dem Fels gehauen.
Auch die Landschaft Siziliens ist einzigartig. An den Küsten wechseln malerische Buchten mit schroffen Felswänden ab. Im Landesinnern gedeihen in fruchtbaren Tälern Orangen-, Zitronen- und Olivenbäume. Es gibt phantastische vulkanische Schluchten und eine Berglandschaft, die der Ätna mit seinen stolzen 3340 Metern weit überragt. Er ist Europas mächtigster aktiver Vulkan. Schon mehrfach in der Geschichte brachte er Tod und Verwüstung, aber auch Leben – in Form von Wasserreichtum und fruchtbaren Lavaböden. Sie sind die Grundlage der Landwirtschaft, die neben dem Tourismus die Haupteinnahmequelle der Bevölkerung ist.
Reaktionäre Flüchtlingspolitik in der Kritik
Seit 2014 erreichten 650.000 Migranten, vor allem aus Afrika, die Südküste Siziliens nach einer lebensgefährlichen Flucht über das Mittelmeer. Zigtausende Flüchtlinge leben hier monatelang in Lagern unter katastrophalen Umständen, bis sie in andere Regionen Italiens aufgeteilt werden. Oder die Erlaubnis erhalten, am Strand Schirme, Schmuck, Sonnenbrillen und Ähnliches zu verkaufen. Mafia-Clans verdienen Millionen mit der Verwaltung dieser Camps. Proteste von Flüchtlingen gegen diese Zustände hat die Polizei mit Tränengas niedergeknüppelt. Insbesondere Innenminister Matteo Salvini (Lega Nord) betreibt eine offen rassistische Hetze. Im Juni sperrte die Regierung in Rom die sizilianischen Häfen für Flüchtlingsschiffe. In mehreren Hafenstädten Siziliens gab es daraufhin Demonstrationen, organisiert von antirassistischen Organisationen, mit dem Slogan „Öffnet die Häfen“.Wir haben einen respektvollen Umgang mit Flüchtlingen erlebt. Ausländerfeindliche Plakate oder Aufkleber haben wir nicht wahrgenommen, dafür aber graffiti wie „Refugees are welcome“. Natürlich gibt es auch eine Polarisierung. Nach allem, was wir in Erfahrung bringen konnten, ist auch hier die Kernfrage im Kampf um die Denkweise: Sieht man in der Migration in erster Linie die Konkurrenz um Arbeitsplätze und die Bedrohung der sozialen Lage, oder kämpfen Einheimische und Migranten gemeinsam gegen die Zustände und die Rechtsentwicklung der Regierung. Bei den Parlamentswahlen im März 2018 erreichte die Fünf-Sterne-Bewegung in Sizilien die besten Stimmenergebnisse – bis zu 60 Prozent. Sie wurde als Protestbewegung wahrgenommen. Mit der Erfahrung, dass auch sie eine reaktionäre Flüchtlingspolitik betreibt, gingen mittlerweile ihre Umfragewerte deutlich zurück.