Rote Fahne 13/2018

Rote Fahne 13/2018

Erdoğans Aufstieg auf Pump gebaut

Die türkische AKP-Regierung mit Recep Tayyip Erdoğgan an der Spitze prahlt gern mit ihren wirtschaftlichen Erfolgen. Tatsächlich ist die Türkei in den letzten 15 Jahren von einem abhängig kapitalistischen zu einem neuimperialistischen Land aufgestiegen

Von Tübingen und Essen (Korrespondenz)
Erdoğans Aufstieg auf Pump gebaut
Mai 2018 in Istanbul – die Demonstranten trotzen Erdo˘gans faschistischer Diktatur (Foto: RF)

Nicht nur viele internationale Monopole wie Daimler, Bosch, Renault, Ford, Hyundai und andere haben diese Entwicklung mitgeprägt und ausgenutzt, auch türkische Monopole sind in die erste oder zweite Liga des internationalen Monopol-Rankings aufgestiegen.

 

Vieles lief über Kreditaufnahme. Die Türkei hatte vor Erdoğans Amtsantritt im Jahr 2001 circa 160 Milliarden US-Dollar Auslandsschulden. Jetzt redet man von über 500 Milliarden. In der Zwischenzeit wurden für rund 70 Milliarden Dollar die Staatsbetriebe an die internationalen Monopole verhökert. Privatfirmen sind mit über 200 Milliarden Dollar verschuldet, und jede Abwertung der türkischen Lira steigert ihre Schulden stündlich. Sie stehen auf der Kippe zur Insolvenz.

 

Einige große Firmen wie die Yıldız-Holding, die Do˘gu¸s-Holding und andere wurden durch Umschuldungen (mit staatlichen Stützungsgeldern) vorerst gerettet. Am 15. Mai erschien in der Neuen Zürcher Zeitung ein Interview mit dem Makroökonomen und Wirtschaftshistoriker Russell Napier. Er sagte: „Die Insolvenz der Türkei ist keine Frage der Zeit mehr – der Anfang ist schon gemacht.“

 

Das verdeutlicht ein Blick auf die Entwicklung der türkischen Leistungsbilanz.1 Sie ist seit Jahrzehnten defizitär, aber seit 2006 übertraf das Defizit fast jedes Jahr den Durchschnitt von 1984 bis 2001 (22 Milliarden US-Dollar) und bewegt sich seit 2016 erneut rasant auf den Rekordwert von 2011 zu. Im März 2018 belief es sich, aufs Jahr hochgerechnet, schon auf über 55 Milliarden Dollar – bei gleichzeitig fälligen Schuldentilgungen in Höhe von 240 Milliarden Dollar.2

 

Die Regierung hat die Krise der türkischen Lira kaum noch unter Kontrolle. Sie wirkt sich auf immer mehr Bereiche des Wirtschafts- und Finanzsystems aus und ist das Thema Nummer eins in der Türkei, aber auch unter türkischen und kurdischen Migranten in Europa.

 

Es besteht ein enger Zusammenhang zur Art und Weise, wie der Aufstieg der Türkei vonstatten ging. Eine große Rolle spielte dabei der Kapitalimport durch umwelt- und gesundheitszerstörende Investitionen in die fossile Energiegewinnung und energieintensive Produktionsanlagen. Önder Algedik, Energie‑ und Klimaexperte sowie Umweltaktivist3, weist in einem in der Zeitung Gazete Duvar vom 22. Mai erschienenen Artikel nach, dass der hemmungslose Import jeder Art von klimaschädlicher Energieerzeugung entscheidend zu der verheerenden Wirtschaftslage beigetragen hat. Durch den Ausbau der Kohleförderung, von Kohle- und Erdgaskraftwerken, Zementwerken, Erdölverbrennung, Aluminiumwerken, Stahlwerken usw. stieg der Verbrauch sämtlicher fossiler Energiequellen rasch an. Gleichzeitig änderte sich beim Einsatz erneuerbarer Energien absolut nichts zum Besseren.

 

Önder Algedik bezieht sich auf von Ali Riza Güngen ebenfalls in Gazete Duvar für März 2018 genannte Zahlen – 55 Milliarden Dollar Leistungsbilanzdefizit und 240 Milliarden Dollar fällige Schuldentilgungen –, wenn er weiter schreibt: „Das derzeitige Defizit und die fälligen Tilgungen machen zusammen fast das Dreifache der 100 Milliarden US-Dollar aus, die jährlich für den Weltklimafonds aufzuwenden wären.“ Das heißt, der Aufstieg wurde wesentlich durch Vernichtung von natürlichen Lebensgrundlagen und Schädigung der Gesundheit der Menschen erkauft.

 


Seit 2015 wird die Türkei mit faschistischem Terror regiert. In dieser Zeit hat sich der wirtschaftliche Aufstieg bis zur Stagnation verlangsamt. Die auf den 24. Juni vorgezogene Parlaments- und Präsidentschaftswahl sollte stattfinden, bevor das Wirtschafts- und Finanzsystem weiter kollabiert. Vor allem fürchtet die AKP-Regierung vor diesem Hintergrund auch sich weiter ausbreitende Kämpfe der Arbeiter und breiten Massen. Die Wahl war zunächst für Herbst 2019 vorgesehen, davor – im Frühjahr 2019 – die Gemeinderats‑ und Bürgermeisterwahlen. Die Kandidaten für das Präsidentenamt mussten für die Zulassung je 100 000 Unterstützerunterschriften beibringen.

 

Bis jetzt sind sechs Kandidaten für die Präsidentschaftswahl zugelassen: Für die AKP Recep Tayyip Erdoğan, für die CHP Muharrem İnce, für die İYİ Parti Meral Aksener, für die Saadet Partisi Temel Karamollaoğlu, für die Vatan Partisi Doğu Perinçek und für die fortschrittliche HDP (Demokratische Partei der Völker) der im Gefängnis sitzende Selahattin Demirtaş. Zur Parlamentswahl treten zehn Parteien oder Bündnisse an. Die HDP kandidiert als einzige Partei mit einem klaren Programm des Widerstands gegen den Faschismus und für den breiten antifaschistischen Zusammenschluss.

 

Auch für die Wahlberechtigten in Deutschland (Türken, Kurden und andere mit türkischer Staatsangehörigkeit) ist die HDP eine wählbare Alternative (die Wahlfrist endete allerdings am 19. Juni). Der gemeinsame Kampf gegen die Rechtsentwicklung der Regierung und der bürgerlichen Parteien in Deutschland stärkt auch die Kräfte gegen Erdoğan in der Türkei.