Rote Fahne 10/2018
Krise der Autonomen: Welche Schlüsse sind zu ziehen?
Die autonome Bewegung ist seit einigen Jahren in eine Krise geraten. Das äußert sich unter anderem in einer sich entfaltenden Kontroverse über die revolutionäre Strategie gegen den bürgerlichen Staat, aber auch zunehmenden Selbstauflösungen von Antifa-Gruppen. Viele sind auf der Suche nach neuen Perspektiven, und das Interesse am Marxismus-Leninismus wächst
Die Göttinger „Antifaschistische Linke International“ wertete anlässlich ihres zehnjährigen Bestehens im Jahr 2014 aus: „Die vielen Auflösungen von Antifagruppen in diesem Jahr sehen wir nicht als einen zufälligen Prozess an, sondern haben den Eindruck, dass er unter anderem für eine verbreitete Ratlosigkeit über den Antifa-Ansatz steht.“ Für die Krise der Autonomen ist die Beschränkung auf den antifaschistischen Kampf, das Fehlen einer gesellschaftlichen Perspektive und die Handlungsunfähigkeit ohne Organisationsaufbau jedoch nur ein Faktor.
Viele kleine Brüche?
Im Jahr 2005 wurde als „Versuch eines Auswegs“ aus der Krise der Autonomen die bundesweite Organisation „Interventionistische Linke“ (IL) gegründet. Nach fast zehnjährigen Diskussionen veröffentlichten ihre rund 30 Gruppen 2014 ein „Zwischenstandpapier“. Auf ein verbindliches Programm kann oder will man sich offenbar nicht festlegen. Folgendes Ziel wird darin bestimmt: „Die Politik der IL orientiert sich am langfristigen strategischen Ziel einer radikalen Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und die Unterdrückung ebenso beendet wie Hunger und Elend, Krieg oder Folter. … Notwendiger Bestandteil einer solchen radikalen Transformation ist der revolutionäre Bruch, dem wiederum viele kleine Brüche, die entlang von Kämpfen stattfinden, vorausgehen und folgen.“
Beendigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen durch eine „radikale Transformation“, mit einem revolutionären Bruch und „viele kleine Brüche“? Ohne Beseitigung des bürgerlichen Staats und Errichtung der Diktatur des Proletariats im Sozialismus? Die ökonomische und politische Macht der internationalen Monopole lässt sich nicht schrittweise zerbrechen. Selbst ein „großer revolutionärer Bruch“ (was immer damit gemeint ist – warum spricht man eigentlich nicht von Revolution?), ohne danach die bisherigen Unterdrücker zu unterdrücken, ist angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse mehr als illusorisch.
Die Schädlichkeit dieser Position zeigte sich zuletzt bei den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg. Kräfte wie die IL wurden über Tage und Wochen in den bürgerlichen Medien hofiert, in Talkshows eingeladen, ganze Reportagen gesendet. Damit wollen die Herrschenden sie als die radikal linke Organisation darstellen. Außerdem dient ihre sektiererische Taktik hervorragend als Vorwand, um den bürgerlichen Staatsapparat in einer gigantischen Bürgerkriegsübung aufzufahren. Das anarchistische „Hier und Jetzt“ richtet sich in Theorie und Praxis gegen den Aufbau der revolutionären Kampfpartei zur Vorbereitung der sozialistischen Revolution.
So betreibt ein Teil der IL auch eine aggressive Ausgrenzungspolitik und Hetze gegenüber der MLPD. Zuletzt bei einer Aktionseinheitsdemo gegen das Verbot des Newroz-Festes in Hannover am 17. März; oder bei der Demonstration zum Tag der Politischen Gefangenen am gleichen Tag in Hamburg. Hamburger Genossen der MLPD berichten: „Als wir begannen, das Flugblatt der MLPD zum weltweiten Efrîn-Aktionstag der ICOR zu verteilen, wurden wir von einigen Aktivisten der IL attackiert, dass wir hier auf der Demo wohl nichts zu suchen hätten.“ Als Grund wurden unterschiedliche Einschätzungen bezüglich der G20-Proteste 2017 genannt.
Während sich die IL also von der revolutionären Arbeiterpartei MLPD zum Teil aggressiv abgrenzt, hat sie keine Berührungsängste gegenüber systemkonformen Kräften wie attac, Linkspartei und anderen. Mit diesen führt man Veranstaltungen durch oder publiziert in den Medien der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Bei aller Wortradikalität und Aktionismus mancher IL-Größen erweist sich die IL so eher als radikal-reformistischer Flügel der kleinbürgerlichen Linken. Oder wie ist es zu verstehen, wenn Christoph Kleine, einer der IL-Köpfe, schon 2012 die „Notwendigkeit und auch das Bedürfnis nach einer Vertiefung und Verstetigung strategischer Kooperationen“1 mit der Linkspartei feststellt?
Schlussfolgerungen
Eine solche Ausgrenzungspolitik und solches Konkurrenzgehabe ist ganz im Sinne der Herrschenden. Dass es auch anders geht, zeigt die Zusammenarbeit im Internationalistischen Bündnis. Darin arbeiten auch Gruppen und Menschen mit einem autonomen „Background“ mit. Unterschiedliche taktische Standpunkte werden auf Augenhöhe diskutiert und im Sinne der gemeinsamen Aktion entschieden. Strategische Widersprüche werden nicht verdeckt, sondern Schritt für Schritt diskutiert und, wo es möglich ist, geklärt. So kann eine Einheitsfront gegen Staat und Monopole wachsen. Daran haben aber maßgebliche IL-Leute offenbar kein Interesse.
„Demokratie für alle“?
In der Interventionistischen Linken ist zur Strategie der Überwindung des bürgerlichen Staates fast alles möglich. So gab es auf ihrer Strategiekonferenz im April 2016 die These von einer Gesellschaftstransformation durch „wahre Demokratie aller“. Eine uralte kleinbürgerliche Illusion, die das „demokratische Recht“ der Kapitalisten auf Ausbeutung der Arbeiterklasse nicht antastet. Die bürgerliche Demokratie, so Lenin, „bleibt stets – und im Kapitalismus kann es gar nicht anders sein – eng, beschränkt, falsch und verlogen, ein Paradies für die Reichen, eine Falle und Betrug für die Ausgebeuteten, die Armen.“2
Die Arbeiterklasse kann sich im Bündnis mit der großen Masse der Unterdrückten nur dann befreien, wenn sie die politische Macht erobert – nichts anderes ist die Errichtung der Diktatur des Proletariats. Nur dadurch ist erstens wirklich breite Demokratie für die breiten Massen möglich und geschützt; und zweitens auch das Absterben des Staates und von Klassen möglich. Der Sozialismus/Kommunismus ist die Antwort auf die Suche der Jugend nach einem tatsächlichen Weg zur Abschaffung der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Für ihre Verwirklichung in der heutigen Zeit hat die MLPD kritische und schöpferische Schlussfolgerungen aus der Geschichte der Arbeiterbewegung und des Sozialismus gezogen. Natürlich gibt es auch Anknüpfungspunkte der Zusammenarbeit mit der IL, wie in der Solidarität mit dem kurdischen Befreiungskampf, im antifaschistischen Kampf … Wobei dafür allerdings der zum Teil aggressiv vorgetragene Antikommunismus einiger ihrer Führer erst einmal überwunden werden muss.
1 Zeitschrift Luxemburg Heft 13, 3/2012
2 „Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky“, Lenin, Werke, Bd. 28, S. 241