Rote Fahne 19/2017
Hinter den Kulissen des Autokartells
Die Rote Fahne sprach mit einem Insider aus dem Auto-Kartell
Rote Fahne: Die VW-Krise, die inzwischen ja zu einer Krise des Autokartells geworden ist, bringt ständig neue Enthüllungen ans Licht. Wie ist deine Meinung zu dieser Diskussion?
Walter N1: Mich empört es, wie sich die Vorstände und Politiker aus der Verantwortung stehlen wollen und die Schuld nach unten bis zur Ingenieursebene abschieben. Bei allen Autoherstellern und Zulieferfirmen stehen die Ingenieure unter einem immensen Druck, die von oben vorgegebenen Ziele zu erfüllen. Die Entwicklungszeiten sollen immer weiter verkürzt werden. Innerhalb von VW waren die Methoden und der Ton aber immer besonders rüde und einschüchternd. Dies wurde auch an Zulieferer weitergegeben. Bei manchen Zulieferern musste der Kundenprojektleiter VW alle zwei Jahre ausgewechselt werden, weil er nervlich am Ende war.
Wenn ein Projekt drohte, die Ziele terminlich oder qualitativ zu verfehlen, gab es ein Arsenal von Methoden, Druck auszuüben. Die übliche Methode war sogenannte „Management Attention“. Der oder die Kollegen mussten außerhalb der üblichen Berichterstattung ans Management über den Fortgang der Arbeit in kurzen Abständen Rechenschaft ablegen und bekamen vom Management konkrete Vorgaben für die Weiterarbeit. Das ist ein allgemein gebräuchliches Verfahren. Bei VW ging es aber dahin, dass diese Berichterstattung im Extremfall alle vier Stunden erfolgen musste, und zwar in perfekter Form – auf Folien für das Management aufbereitet. Die Folge für die Kollegen war, dass keine Zeit mehr für Pausen und Mittagessen blieb, dass sie bis in die Nacht hinein arbeiten mussten. Ich habe selbst miterlebt, dass VW-Ingenieure dabei persönlich beleidigt und gedemütigt wurden.
Was sagst du dazu, dass die Vorstände und oberen Ränge in den Konzernen angeblich nichts wussten?
Das ist aus meiner Kenntnis völlig unglaubwürdig. Zunächst sind die Vorstände in der Autoindustrie und bei den Zulieferern in der Regel selbst Ingenieure, keine Betriebswirte oder Juristen. Es ist üblich, dass sie sich konkret und sehr tiefgehend mit den technischen Details befassen, vor allem, wenn sie so wichtig sind wie die Abgasnormen. Ich selbst arbeite an einem weniger bedeutsamen Produkt, und selbst da war es so, dass wir in der Entwicklungsphase immer wieder Autos mit Prototypen ausrüsten mussten, die dann Vorstände oder das obere Management am Wochenende für Probefahrten nutzten. Wir bekamen dann oft sehr detaillierte Rückmeldungen.
Dazu kommt noch ein weiterer Gesichtspunkt. Seit 20 bis 30 Jahren sind die Entwicklungsprozesse bei Autofirmen und Zulieferern total standardisiert. Zu diesen Standards gehört die periodische Überprüfung der Qualität des zu entwickelnden Produkts nach einem genormten Fragebogen. Eine der ersten Fragen ist die nach der Einhaltung gesetzlicher Vorschriften – und zwar in allen Ländern, in die die Autos gehen sollen. Dieser Punkt musste bei den betreffenden Dieselmotoren von den Ingenieuren auf Rot gesetzt werden, was bedeutet, dass diese Anforderung bei den gegebenen Vorgaben nicht erfüllt werden kann und dass das Projekt damit zunächst gestoppt ist. Eine solche Rot-Bewertung kann nur vom leitenden Management aufgehoben werden. Es ist unvorstellbar, dass in einem so hierarchisch geführten Unternehmen wie VW der Vorstand nicht über die Dieseltechnik genau informiert war.
Sind Zulieferer wie Bosch, Conti usw. auch involviert?
Natürlich. Die Zusammenarbeit zwischen Autohersteller und Zulieferer ist sehr eng. Ein neues Produkt fürs Auto wird praktisch in gemeinsamer Arbeit entwickelt – mit ständigem Austausch von Erkenntnissen, Problemen, Entwicklungsstand, Messergebnissen usw. Es gibt ein System der sogenannten „resident engineers“. Das sind Ingenieure, die beim Zulieferer angestellt sind und von ihm bezahlt werden, die aber ihren Arbeitsplatz in der Autofirma haben. Darüber bekommen die Zulieferer einen Einblick in die Tests beim Autohersteller. Es ist völlig klar, dass Bosch alles über den Dieselmotor weiß und in den Abgasbetrug eingebunden war. Das belegt ja auch der Brief, den Bosch 2007 an VW schrieb.
Was sagst du zu dem Autokartell?
Es gibt zahlreiche Arbeitskreise, in denen sich deutsche Autofirmen und Zulieferer abstimmen. Sie firmieren als VDA2-Arbeitskreis zur Entwicklung für Normen. Es sind jeweils Vertreter aller deutschen Autohersteller dabei, aber kein Ford, Opel, Fiat usw. Die Bedeutung dieser Arbeitskreise ist, dass sich die Beteiligten über ihr Vorgehen vereinheitlichen – soweit es der gegenseitige Konkurrenzkampf zulässt. Das gemeinsame Ziel ist, einen Vorsprung gegenüber ausländischen Autoherstellern zu erhalten. Ich habe selbst erlebt, dass meinen Vorgesetzten die kartellrechtliche Gratwanderung bewusst war. Ich musste über bestimmte Vorgänge, die diesen VDA-Arbeitskreis betrafen, sämtliche Dateien auf der Ablage löschen, wie Unterlagen über Gespräche, Protokolle und Ähnliches.
Vielen Dank für das informative Gespräch.