Rote Fahne 15/2017
Rebellion gegen Erdoğan ?
Seit dem Putschversuch im Juli 2016 steht die Türkei im Fokus
Galt sie bisher als beliebtes Urlaubsland, fragen sich mehr und mehr Menschen, ob man überhaupt noch dorthin fahren kann. Die Einschätzung, dass Erdoğan ein Diktator ist, ist verbreitet. Aber ob sich die Türkei im Sommer 2016 zu einem faschistischen Land entwickelt hat, darüber scheiden sich die Geister. Bis zu zwei Millionen Menschen nahmen an der Abschlusskundgebung des CHP¹-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu zum Ende seines Marsches am 9. Juli in Istanbul teil. Manche türkische Antifaschisten sprechen bereits von neuen Elementen, ähnlich der Gezi-Bewegung 2013. Aber ist dem wirklich so? Welche Probleme sind im antifaschistischen Kampf zu lösen, und wie entwickelt sich der Widerstand in der Türkei? Welche Rolle spielt die Bundesregierung, und welche Aufgaben stellen sich in Deutschland?
Ein neuimperialistisches Land
Um den Widerstand gegen das diktatorische Regime in der Türkei zu organisieren, muss man den Gegner kennen. Die MLPD hat bereits auf ihrem Parteitag 2016 die These entwickelt, die Türkei habe sich in den letzten Jahren zu einem neuimperialistischen Land entwickelt. Mit einer entsprechend aggressiven Außenpolitik und der dazugehörenden Repression im Landesinneren. In Kürze erscheint eine theoretische Ausarbeitung der MLPD zum Phänomen zahlreicher neuimperialistischer Länder. Darin wird auch aus der fundierten These zur Türkei eine wissenschaftliche Analyse.
Auch in der Arbeiterbewegung und in der internationalen marxistisch-leninistischen Bewegung wird über den Charakter der Türkei diskutiert. „Sie ist zwar kapitalistisch, aber nicht imperialistisch“. Es gibt auch die Meinung, sie sei noch halbkolonial. Die Entwicklung ist aber fortgeschritten.
Die Türkei hat mittlerweile selbst internationale Übermonopole herausgebildet. So gehört der internationale Konzern Koç zu den 500 größten Übermonopolen auf der Welt. Aus der Forbes-Liste 2016 ging hervor, dass es unter den 1000 größten internationalen Übermonopolen fünf türkische Bankmonopole gibt.
Wenn der türkische Diktator Recep Tayyip Erdoğan auf dem G20-Gipfel Anfang Juli in Anspruch nahm, die Türkei sei kein Industrieland, hat das mit der Realität nichts zu tun. Sein Motiv war dabei allein, Vorteile im internationalen Konkurrenzkampf herauszuschlagen.
Wie kam es zur rasanten wirtschaftlichen Entwicklung?
Nach 2001 nahmen die ausländischen Direktinvestitionen in die Türkei sprunghaft zu. 1998 lagen sie bei nur einer Milliarde US-Dollar, 2005 waren es 22 Milliarden. Der Vizepräsident der Vereinigung internationaler Investoren (YASED) Tankut Turnaoğ lu erklärt: „Es ist ziemlich offensichtlich, dass ausländisches Kapital die Rolle einer Lokomotive … spielt.“²
„Erdoğan hat die Wirtschaft entwickelt“, sagen aber immer noch viele türkische Kollegen und rechtfertigen damit seine Unterstützung. Aber wessen Wirtschaft hat Erdoğan entwickelt? Triebkraft der Entwicklung ist nicht Erdoğan , sondern die Investitionen des internationalen Finanzkapitals. Auch wenn einzelne soziale Reformen gewährt wurden, ist ein Hauptgrund dieser Entwicklung in den letzten 18 Jahren die enorm gesteigerte Ausbeutung der Arbeiterklasse.
Die kurdisch-stämmige Bochumer Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, Sevim Dagdelen, schreibt dazu: „In den Jahren seit dem ersten Amtsantritt der AKP im März 2003 ist die Türkei mit 14 000 tödlichen Arbeitsunfällen zum Spitzenreiter in Europa aufgestiegen. … Statistisch sterben in der Türkei täglich drei bis vier Menschen bei Arbeitsunfällen. … Fast die Hälfte aller türkischen Arbeiterinnen und Arbeiter ist illegal angestellt und somit nicht versichert und rechtlos.“³
War die Türkei „schon immer“ faschistisch?
Die herrschende Kapitalistenklasse kennt grundsätzlich zwei Herrschaftsmethoden: Betrug und Gewalt. Beide bilden eine Einheit, aber eine ist die Hauptseite. Ist dies der Betrug, wird mit einer bürgerlichen Demokratie regiert. Bei der Hauptmethode Gewalt wird – falls eine ausreichende Massenbasis besteht – eine faschistische Diktatur angewendet. Über Erdoğans AKP4 haben maßgebliche Teile der herrschenden Klasse in der Türkei ihre Massenbasis aufgebaut. Falls keine ausreichende Massenbasis vorhanden ist, bleibt den Herrschenden noch die Option einer auf nackter Gewalt basierenden Militärdiktatur.
Vor dem Putsch-Versuch im Juli 2016 bestand die Hauptseite in einer bürgerlichen Demokratie. Es gab eingeschränkte bürgerlich-demokratische Rechte: Parlamentswahlen, eine bestimmte Pressevielfalt, Parteien und Gewerkschaften konnten agieren. Gegen die kurdische Bewegung wurden allerdings schon zu diesem Zeitpunkt faschistische Methoden angewendet.
Nach dem Putsch-Versuch trat ein qualitativer Sprung ein. Willkürlich werden Menschen verhaftet, meist unter der Anschuldigung des „Terrorismus“. Ohne jeden Nachweis und Anklage sitzen über 50 000 Menschen in den Gefängnissen: darunter Kinder und Jugendliche.
Das Parlament wurde ausgeschaltet, Entscheidungen werden autokratisch von Erdoğan getroffen. Die Immunität von Abgeordneten, vor allem der HDP, wurde aufgehoben. Vor wenigen Wochen wurde auch Enis Berberoğ lu, der stellvertretende Parteivorsitzende und Abgeordnete der CHP, der größten bürgerlichen Oppositionspartei, zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Ihm wird „Geheimnisverrat“ vorgeworfen, weil er Aufnahmen, die die Waffenlieferungen der Türkei an den IS beweisen, an die Zeitung Cumhuriyet weitergegeben habe.
Erdoğan und seine Führungsclique entließen 130 000 Staatsbedienstete. Erdoğan schloss über 200 Medienanstalten, Rundfunk- und Fernsehsender und Zeitungen, schaltet Medien und Bildungseinrichtungen gleich. Die neueste Anordnung der Regierung ist, türkische Schulbücher von Darwins Evolutionstheorie „zu reinigen“, weil sie zu kompliziert sei. Das gibt es nur noch in Saudi Arabien und unter fanatischen Christen – vor allem in den USA.
Aggressive Außenpolitik
Mit der Repression im Inneren der Türkei will Erdoğan auch Ruhe, um seine neuimperialistischen außenpolitischen Ziele zu verfolgen. Vor allem im Nahen Osten will er im Auftrag der türkischen Monopole den Machtbereich ausdehnen. So beansprucht die Türkei ein 5000 Quadratmeter großes Gebiet im Norden Syriens (Rojava). Gegen den erklärten Willen der irakischen Regierung hat die Türkei Truppen in das nordirakische Kurdengebiet verlegt. Die Rivalität der Türkei und der anderen (imperialistischen) Mächte befeuert den Krieg im Nahen Osten.
Auf den strategischen Erfolg der kurdischen Volksverteidigungskräfte YPG und der syrisch-demokratische Kräfte in Rakka im Kampf gegen den IS antwortet Erdoğan mit Angriffen auf Rojava. Das belegt ein weiteres Mal die enge Zusammenarbeit Erdoğan s mit dem faschistischen IS. Aktuell gibt es Berichte über einen Truppenaufmarsch an der Grenze zu Syrien – gegenüber dem Kanton Afrin – Teil von Rojava.
Fortschritte und Probleme im Widerstand
Um den antifaschistischen Widerstand zu entwickeln, muss die qualitative Veränderung 2016 verstanden werden. Aber selbst fortschrittliche Kritiker des Erdoğan-Regimes sprechen zum Teil verharmlosend von einem „Präsidialsystem“. In den deutschen Medien ist oft verniedlichend die Rede vom „Sultan von Istanbul“. Beides steht dem notwendigen konsequenten und geduldigen Aufbau einer antifaschistischen Einheitsfront entgegen.
Proteste und Demonstrationen unter einer faschistischen Diktatur finden unter den schwierigsten Bedingungen statt. Ein Fortschritt ist, dass sich neun revolutionäre Organisationen zu einem militärischen Bündnis HBDH5 zusammengeschlossen haben.
Aber vor allem die Arbeiterklasse ist Erdoğan s größtes Problem und muss zur Hauptkraft werden. Trotz Ausnahmezustand seit Juli 2016 gab es De- monstrationen und Proteste in Betrieben. Im Januar 2017 streikten 13 Metall-Betriebe trotz bestehenden Streikverbots. Am 1. Mai gingen Tausende in allen Städten trotz Verbots auf die Straße. In Nordkurdistan demonstrierten Massen gegen die Unterdrückung, gegen den Krieg und die staatlichen Entlassungen. Auf Plakaten war „Diktator Erdoğan“ oder „Dieb Erdoğan“ zu lesen. Die Beschäftigen der türkischen Glashütte Sisecam bestreikten im Juni taktisch geschickt neun Werke. Trotz faktischem Streikverbot konnten sie eine Lohnerhöhung durchsetzen. Erdoğan hat 19 Gewerkschaften verboten, vor allem aus dem Gülen-Spektrum. An verschiedene kämpferische Gewerkschaften traute er sich bisher aber nicht offen heran.
Die Protestkundgebung von bis zu zwei Millionen Menschen am 9. Juli zum Abschluss des Protestmarsches des CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğ lu war eine Manifestation des Widerstands. Zentrale Forderungen waren Freiheit, Gerechtigkeit, die sofortige Aufhebung des Ausnahmezustands und die Freilassung politischer Gefangener. Auch HDP-Mitglieder und weitere Kräfte der Opposition beteiligten sich. Die CHP ist die größte Oppositionspartei. Aber die Politik ihrer Spitze ist gegen das Zustandekommen einer antifaschistischen Widerstandsfront gerichtet. Die Massenkundgebung fand ausdrücklich statt unter der türkischen Nationalflagge und dem Bild des türkischen Staatsgründers Kemal Atatürk. Parteifahnen waren untersagt. Zusammen mit der AKP hatte die CHP-Spitze für die Aufhebung der Immunität gestimmt. In einem Interview mit Spiegel Online erklärte ihr Vorsitzender: „Wir arbeiten mit jedem zusammen, der für Gerechtigkeit in diesem Land eintritt. HDP-Abgeordnete sind bei dem Marsch mitgelaufen. Aber daraus lässt sich keine Regel für eine künftige Partnerschaft ableiten.“ Als kemalistische Partei vertritt die Parteispitze einen Teil der türkischen Monopolbourgeoisie. Sie will zwar die Aufhebung der diktatorischen Vollmachten und der Islamisierung des Staates. Zugleich stellt sie sich aber gegen revolutionäre Kräfte und gegen die kurdische Bewegung.
Die reaktionäre Rolle der Bundesregierung und der EU
Die zaghaften öffentlichen Erklärungen gegen Erdoğan tarnen die enge Zusammenarbeit der Bundesregierung mit dem faschistischen Regime. Der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall plant mit türkischen Firmen eine Panzerfertigung in der Türkei. Die Bundesregierung attackiert mit ihrem Verbot, ihre Symbole zu tragen, die Hauptkräfte im Kampf gegen den faschistischen IS – die Volksverteidigungskräfte YPG und Frauenverteidigungskräfte YPJ. Kurdische und türkische Revolutionäre werden vor Gericht gestellt, in den sogenannten TKP/ML-Prozessen sitzen zehn Genossen in Untersuchungshaft.
Wie sehr das deutsche Engagement den eigenen Interessen dient und wie wenig es mit dem Kampf gegen den IS zu tun hat, belegt der unterschiedliche Umgang mit kurdischen Kräften im Irak und in Syrien. In einem aktuellen Bericht des ARD Weltspiegels hetzt Peshmerga-Kommandant Kasim Shesho gegen die PKK: „Die rekrutieren 12-Jährige … und machen sie zu Kämpfern … das sind doch alles Terroristen“. Auf ARTE erfuhr man zwei Tage später, am 27. Juni, dass Kasim in Deutschland Asyl erhielt und die deutsche Staatsbürgerschaft. Anders bei internationalistischen Kämpfern der syrisch-kurdischen YPG gegen den IS. Sie werden nach Berichten des ARD Mittags-Magazins6 nach ihrer Rückkehr verhört. Reisepass und Ausweis werden ihnen von den deutschen Behörden abgenommen – unter Androhung einer Geldstrafe von 5000 Euro. In einem Bescheid heißt es dazu: „Es sei zu befürchten, dass er zurückgehe und sich an rechtswidrigen Kampfhandlungen beteiligen könnte. Das würde in erheblichem Maße das Ansehen der BRD beeinträchtigen.“ Mit der Barzani-Regierung im Irak hat die Bundesregierung eben beste Verbindungen.
Antifaschistische Einheitsfront nötig
Der Sturz des Erdoğan-Regimes erfordert eine antifaschistische Allianz der verschiedensten Kräfte, auch mit bürgerlich-demokratischen Kräften. Widersprüche müssen zugunsten des gemeinsamen antifaschistischen Kampfes zurückstehen, die historische Zersplitterung zwischen der kurdischen und türkischen Bevölkerung und auch gegenseitige Vorbehalte überwunden werden.
Für die Strategie und Taktik der Marxisten-Leninisten ist es ausschlaggebend, das imperialistische Expansionsstreben, das faschistische Regime und die aggressive Außenpolitik von Staat und Monopolen nicht zu unterschätzen. Der Hauptfeind steht im eigenen Land. Die Vereinheitlichung darüber hilft, eine noch vorhandene Zersplitterung der revolutionären Kräfte zu überwinden. Dazu trägt die Tätigkeit der revolutionären Weltorganisation ICOR bei. Hier arbeiten auch die türkischen Organisationen MLKP, TKIB und BP (NK-T) mit. Die ICOR hat einen Solidaritätspakt mit der kurdischen Bewegung geschlossen. Das hat zur Stärkung der Zusammenarbeit mit der weltweiten revolutionären Bewegung geführt. Sie führte bisher drei Mittlerer-Osten-Konferenzen durch. Im Oktober 2016 wurde der Solidaritätspakt weiterentwickelt. „Wir fordern: Internationale Ächtung des faschistischen Herrschaftssystems mit R. T. Erdoğan an der Spitze! Abbruch aller diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zur Türkei! Sofortiger Rückzug aller NATO-Truppen aus Incirlik! Schließung aller Militärbasen! Abzug aller ausländischen Truppen aus der Region!“
In ihrer Kleinarbeit in Deutschland übernimmt die MLPD die Verantwortung für die Auseinandersetzung mit türkischen und kurdischen Migranten: alle Möglichkeiten zu nutzen, um einen Beitrag zu leisten gegen den Faschismus in der Türkei und zum Klassenkampf in Deutschland. Und zur gemeinsamen Vorbereitung der internationalen sozialistischen Revolution. Eine Haltung unter deutschen Kolleginnen und Kollegen, „uns geht es nichts an“, verkennt, dass auch deutsche Monopole wie Siemens, Daimler hinter der faschistischen Diktatur stehen. Sie werden gegebenenfalls nicht davor zurückscheuen, auch in Deutschland mit einer faschistischen Diktatur ihre Macht auszuüben. Im Internationalistischen Bündnis, das als Internationalistische Liste/MLPD zur Bundestagswahl kandidiert, arbeiten zahlreiche türkische und kurdische Kräfte mit7. Das Bündnis hat sich wiederholt gegen Erdoğan und seine Kampagnen positioniert.
„Die, die Erdoğan gut finden, sollen in die Türkei gehen“, ist auch unter manchen Kollegen zu hören. Damit erspart man sich zwar eine Auseinandersetzung, aber fördert nur die Spaltung in den Belegschaften. Viele der weniger werdenden Erdoğan -Anhänger sind in Deutschland geboren. Sie müssen für die Teilnahme am Klassenkampf überzeugt werden – egal, in welchem Land.
Die Arbeitereinheit von deutschen, türkischen und kurdischen Arbeiterinnen, Arbeitern und ihren Familien muss sich in Deutschland vor allem gegen den deutschen Imperialismus richten, der ein enger Verbündeter des türkischen Imperialismus ist.
Eine ganze Reihe Migranten haben sich in den letzten Monaten auch der MLPD und dem REBELL angeschlossen. Nach dem Motto: in dem Land organisiert sein, in dem man lebt!