Gelsenkirchen
Rede von Alassa Mfouapon bei der Kümche-Feier in der Horster Mitte
Vor kurzem fand in Gelsenkirchen eine Kümche-Feier statt. Kümche bezeichnet eine afrikanische Trauerkultur. Mit Flüchtlingen und Migranten aus Afrika fand sie ihren Weg nach Deutschland. In Gelsenkirchen wurde heuer schon zum zweiten Mal eine Kümche-Feier abgehalten. Alassa Mfouapon, Bundessprecher der Organisation Flüchtlingssolidarität, stellte seine Rede zur Veröffentlichung auf Rote Fahne News zur Verfügung.
Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Familien, liebe solidarische Menschen,
heute stehen wir zusammen, um Kümche zu feiern – einen Moment der Erinnerung, der Würde und der tiefen Menschlichkeit.
Kümche erinnert uns daran, dass unsere Toten nicht vergessen sind, egal, wie weit ihre Wege von uns entfernt liegen.
Kümche ist Erinnerung – aber auch Stärke.
Es ist Trauer – aber auch Solidarität.
Es ist Schmerz – aber auch Hoffnung.
Und heute möchte ich nicht abstrakt sprechen.
Heute möchte ich aus meinem Herzen sprechen.
Ich habe mein eigenes Kind im Mittelmeer verloren.
Ein kleines Leben, das heute unter uns sein könnte.
Ein Kind, das nicht hätte sterben müssen.
Ein Kind, das lachen, träumen, spielen könnte –
wenn die Welt gerechter wäre.
Dieser Verlust begleitet mich jeden einzelnen Tag.
Er hat mich gebrochen und zugleich wieder aufgebaut.
Denn dieser Schmerz gibt mir die Kraft zu kämpfen,
damit kein anderer Vater, keine andere Mutter je diese Hölle erleben muss.
Und letztes Jahr habe ich erneut jemanden verloren:
Meine Schwester in Kamerun.
Sie ist gestorben, nicht an der Krankheit –
sondern an Armut.
An fehlender medizinischer Versorgung.
An einem System, das akzeptiert, dass Gesundheit ein Privileg ist, nicht ein Recht.
Auch sie hätte heute hier stehen können.
Auch sie hätte leben können.
Wenn ich also heute hier stehe, dann stehe ich nicht nur für mich.
Ich stehe für all jene, die keine Stimme mehr haben.
Für all jene, deren Geschichten nie erzählt wurden.
Für all jene, deren Leben viel zu früh endete.
Heute gedenken wir:
Den Menschen im Sudan,
die im Schatten eines grausamen Krieges sterben – an Bomben, an Hunger, an Vertreibung, an der Gleichgültigkeit der Welt.
Den Frauen, Männern und Kindern im Kongo,
die seit Jahrzehnten Opfer von Milizen, Rohstoffkriegen, Gewalt und Stille sind.
Den Toten in Palästina,
Menschen, die einfach leben wollten – mit ihren Familien, ihren Hoffnungen, ihrer Würde.
Den Menschen in der Ukraine,
Familien, die inmitten eines brutalen Krieges ihr Leben verloren haben, deren Städte und Zukunft in Trümmern liegen.
Und wir gedenken der zahlreichen afrikanischen Menschen,
die zwischen Sahara, Libyen, der Sahelzone und dem Mittelmeer gestorben sind –
Menschen, die nicht sterben wollten, sondern überleben wollten.
Die eine Zukunft für ihre Kinder suchten.
Die nur Schutz wollten.
Diese Menschen sind nicht Zahlen.
Sie sind nicht „Kriegsopfer“, „Migranten“ oder „Flüchtlinge“.
Sie waren Väter, Mütter, Töchter, Söhne, Studierende, Arbeitende, Träumende.
Sie hatten Pläne.
Sie hatten Zukunft.
Und sie hatten das gleiche Recht zu leben wie jeder Mensch auf dieser Welt.
Heute, hier in Kümche, nehmen wir sie alle in unser Herz.
Wir geben ihnen unsere Stimme.
Wir tragen ihre Erinnerung weiter.
Aber genauso wertvoll sind die geliebten Verstorbenen vieler Menschen hier in Deutschland.
Die Mütter, die Väter, die Großeltern, die Partnerinnen und Partner,
Freundinnen und Freunde, die wir heute in Gedanken bei uns tragen.
Auch sie haben ihre Lebensgeschichte, ihre Lebensleistung, ihre Kämpfe geführt.
Auch sie haben geliebt, getragen, Mut gemacht und Spuren hinterlassen.
Wir gedenken nicht nur der Toten in fernen Ländern,
sondern auch der Menschen vor unserer Haustür:
derjenigen, die vielleicht einsam gestorben sind,
die Schmerzen hatten,
die so gerne noch weitergelebt hätten,
die das Leben und das Zusammensein mit uns nicht loslassen wollten.
Sie alle gehören zu unserer Gemeinschaft der Erinnerung.
Sie alle sind Teil dieses Moments.
Und wir werden sicher gleich von einigen von ihnen hören.
Aber Kümche ist nicht nur Trauer.
Kümche ist ein Fest der Verbindung zwischen uns Lebenden.
Ein Moment, der uns sagt:
Auch wenn unsere Herkunft unterschiedlich ist – unser Schmerz ist derselbe,
und unsere Solidarität macht uns zu einer Familie.
Ich stehe heute hier als Alassa,
als jemand, der Flucht, Verlust und Unrecht erlebt hat,
aber auch die unendliche Kraft der Gemeinschaft.
Und deshalb sage ich heute, aus tiefstem Herzen:
Wir lassen niemanden allein.
Nicht im Sudan.
Nicht im Kongo.
Nicht in Palästina.
Nicht in der Ukraine.
Nicht auf dem Mittelmeer.
Nicht in Europa.
Nicht hier bei uns.
Wir erinnern an die Toten,
aber wir kämpfen für die Lebenden.
Wir kämpfen dafür, dass niemand mehr sterben muss,
weil er flieht.
Weil er arm ist.
Weil sie anders ist.
Weil er im falschen Land geboren wurde.
Kümche gibt uns die Kraft weiterzugehen –
nicht nur zu überleben,
sondern gemeinsam zu kämpfen:
Mit Würde.
Mit Mut.
Mit Menschlichkeit.
Ich danke euch allen, dass ihr heute hier seid,
dass ihr mitfühlt, dass ihr tragt, dass ihr erinnert.
Und dass ihr zeigt:
Die Menschlichkeit lebt – und wir tragen sie weiter.
Danke.