Eindrücke aus einer Favela
MLPD-Delegationsreise machte auch Station in Brasilien
Vor einigen Tagen berichtete Rote Fahne News über die Polizeigewalt in den Favelas in Brasilien um Rio de Janeiro. Im Mai dieses Jahres war die Parteivorsitzende der MLPD zusammen mit einer Delegation im Rahmen einer Lateinamerika-Reise auch in Brasilien.
In Rio de Janeiro sprach sie mit Genossen der APR (Accau Popular Revolucionario), einer revolutionären Organisation, die auch Mitglied der revolutionären Weltorganisation ICOR ist. Die Genossen berichteten, dass Rassismus und Polizeigewalt in Brasilien ein großes Problem ist. So gibt es allein in Rio täglich 10 bis 20 Morde durch Polizisten an armen, meist schwarzen Menschen. Der Kampf gegen Drogen ist nur ein Vorwand für den Polizeiterror. Die Polizei ist extrem korrupt und dealt teils selbst mit Drogen. Selbst nach offiziellen Angaben geht die Zahl der von Polizisten verübten Morde in die Zehntausende.
Das verbindet sich mit dem Terror, den faschistische Trupps und Paramilitärs besonders in den Favelas ausüben. Gezielt werden Linke und Umweltschützer bedroht und ermordet. Besonders betroffen von dem Polizeiterror sind die Einwohner in den Favelas. Favelas sind die Vororte der großen Städte. Dort wohnen meist junge Arbeiter, die aber so wenig verdienen, dass sie sich keine Wohnung in den Städten leisten können bzw. es gibt auch einfach zu wenig Wohnraum. Sie besetzen dann einfach ein kleines Stück Land. Davon gibt es in dem riesigen Land genug. Die „Besetzer“ heißen Occupacao. Das hat in Brasilien eine bestimmte Tradition. Als 1888 in Brasilien – als letztem Land der Welt – die Sklaverei abgeschafft wurde, standen die Menschen ohne Hab und Gut da und ließen sich auf einem Stück Land nieder. Es gibt ein erkämpftes Gesetz in Brasilien, welches es erlaubt, brachliegendes Land als Wohnraum zu besetzen – auch wenn es offiziell einen Besitzer gibt. Auf dieser Grundlage haben die Favelas oft einen halblegalen Zustand.
In der Stadt Sao Paulo leben 13 Millionen Einwohner. Mit den Vororten sind es 20 Millionen. 500.000 davon leben in diesen besetzten Gebieten. Mit der Pandemie nahm das nochmal drastisch zu. Ein schreiender Widerspruch in diesem neuimperialistischen Land. Während in Sao Paulo riesige Bürotürme und zahlreiche Reichenvillen sind, sind diese Viertel eine einzige Anklage an das imperialistische Weltsystem. In der Gewerkschaft Conlutas organisierten sich inzwischen auch über 1.000 Familien, die in solchen Occupacao-Gemeinschaften leben, um für ihre Rechte zu kämpfen. So wurden wir durch die Occupacao-Gemeinschaft „Queixadas“, wie sie sich selbst nennen, geführt, was in der Region Cajamar um Sao Paulo liegt. Dort leben 87 Familien, 29 Babys wurden dort in den letzten Jahren geboren. Wir erlebten bittere Armut und zugleich selbstbewusste, stolze Menschen, größtenteils Arbeiter, die tagsüber lange Arbeitswege auf sich nehmen, um in Fabriken, als LKW-Fahrer o.ä. zu arbeiten. Die Familien haben einen gewählten Verwaltungsrat bestehend aus neun Personen - „Koordinatoren“ genannt - davon sieben Frauen. Gegenseitige Hilfe und Solidarität werden dort ebenso organisiert wie Kinoabende für Kinder oder auch die Schlichtung eines Streits unter den Bewohnern.
Jede Familie hat ein Grundstück von 60qm, auf welchem sie sich mit Brettern und Blech ein kleines Häuschen bauen. Im ganzen Dorf gibt es Regenablauf-Rinnen, die ein Bewohner mit einer Spitzhacke eigenhändig angelegt hat, wie er uns stolz erzählte. Mit der Elektrizität ist es folgendermaßen: Sie wird zunächst „illegal“ von einer der bestehenden Leitungen angezapft. Meist ist es dann aber so, dass die Elektrizitätsgesellschaft das akzeptiert, um eine Rechnung stellen zu können. Das wiederum ist dann ein Schutz für die Bewohner, weil das eine Art Akzeptanz bzw. „offizieller Status“ für die Bewohner darstellt. Dieses konkrete Landstück ist im Besitz einer faschistischen Bolsonaro-Anhängerin, die sich im Internet mit Pistole und Schießscheibe präsentiert und die Bewohner regelmäßig mit Feuerwerk beschießt. Aber das ist noch das geringste Problem, denn die Bewohner sind ständigen Repressalien und Gewalt der Polizei ausgesetzt. Dagegen schließen sie sich zusammen. Es gibt eine Art selbstorganisierten Dorfschutz. In der Pandemie haben sie sich abgeschottet und so erreicht, dass es Null Infektionen gab.
An dieser Stelle erfuhr die Delegation auch ein weiteres Beispiel für das System der kleinbürgerlichen Denkweise als Regierungsmethode, welches vom sozialdemokratischen Präsidenten Lula angewendet wird. So bildete sich vor Jahrzehnten eine Organisation dieser Occupacaoes heraus, die MST, die Ackerbau betrieben. Unter der ersten Amtszeit förderte Lula, dass sich die MST zu einer kapitalistischen Handelsorganisation entwickelte, die inzwischen sogar an der Börse notiert ist. So bauten dann einzelne Occupacaos hochwertige Bio-Produkte an und bauten sich damit eine kleinbürgerliche Existenz auf. Teilweise gab es auch vor allem von trotzkistisch beeinflussten Menschen Illusionen, dass diese besetzten Gebiete eine Art Ausweg aus der kapitalistischen Wirklichkeit ist, nach dem Motto, dass man sich die Fabriken und das Land einfach nur nehmen müsse. Die Delegation setzte sich damit kritisch auseinander. Der Kampf der Landlosen ist zweifellos Teil des revolutionären Befreiungskampfs, aber auch und gerade im neuimperialistischen Brasilien ist die Arbeiterklasse die führende Kraft. Sie konzentriert sich in den hochindustrialisierten Ballungszentren Brasiliens.
An dieser Stelle schicken wir solidarische Grüße in das Occupacao „Queixadas“!