Heilbronn
Einzelhandel vergesellschaften?
Für 18. bis 20. Juli kündigt die Kampagne „unserlidl“ an, Heilbronn in eine „Bühne des Protests“ zu verwandeln. Die Initiatoren sind teilweise bekannt aus der Bewegung „Letzte Generation“.
Sie wollen mit einer „kreativen Interventionsphase“ die „gefährliche Konzentration von Reichtum und Macht“ in den Händen des reichsten Deutschen Dieter Schwarz angreifen. (1) Zur Schwarz-Gruppe gehören neben den Einzelhandelskonzernen Kaufland und Lidl inzwischen ein Recycling-Konzern, einige Betriebe der Lebensmittel-Produktion und mit 'schwarz digits' ein IT-Unternehmen mit Milliarden-Umsatz.
Beim Internet-Auftritt der Kampagne fällt auf den ersten Blick die Kapitalismus-Kritik ins Auge: So wird zum Beispiel vorgerechnet, dass eine Lidl-Kassiererin für das Vermögen ihres Firmeneigners (geschätzt 44 Mrd €) über 1,5 Millionen Jahre arbeiten müsste. „Der Reichtum von Dieter Schwarz entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern wird tagtäglich von Millionen Menschen weltweit erarbeitet. Vom Feld bis zur Kasse sind es Arbeiter:innen in der Landwirtschaft, der Logistik und in den Filialen, die Lebensmittel produzieren, transportieren und verkaufen.“
Jede Kollegin und jeder Kollege mit einem gewerkschaftlichen Bewusstsein zieht daraus den Schluss, die Beschäftigten im Kampf um bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne zu unterstützen. So war die Kaufland-Zentrale bei Einzelhandels-Tarifrunden schon mehrfach Schauplatz von Streikaktionen der verdi-Kolleginnen. Und dabei bleibt der Kollege, die Kollegin nicht stehen: Was ist das für ein System, in dem die Lidl-Kassiererin 1,5 Millionen Jahre arbeiten müsste, um auf das Vermögen des Firmeneigners zu kommen? Was könnte man mit diesem gigantischen Reichtum zugunsten der Massen machen, wenn die Arbeiterklasse darüber verfügen würde? Der Kapitalismus muss revolutionär überwunden werden, das ist die richtige und notwendige Schlussfolgerung?
Die „kreative Intervention“ ist jedoch eine isolierte Aktion einer kleinen Gruppe. Sie ist losgelöst von der Masse der Arbeiter und Angestellten, auch von der Heilbronner Bevölkerung.
Mit „Vergesellschaftung des Einzelhandels“ greift sie scheinbar eine sozialistische Forderung auf. Diese kann aber erst im echten Sozialismus umgesetzt werden, wenn die Arbeiterklasse die Macht hat. Dann wird eine sozialistische Planwirtschaft und Kreislaufwirtschaft organisiert. Die Einheit von Mensch und Natur wird zur Leitlinie der Gesellschaft, und eine nachhaltige Produktion gesunder Lebensmittel für die ganze Bevölkerung wird in Angriff genommen. Im heutigen System wäre „Vergesellschaftung“ der Übergang an den kapitalistischen Staat, die Profitlogik bleibt. Der Staat ist dem internationalen Finanzkapital untergeordnet, seine Organe sind mit den Organen der Monopole verschmolzen. Was bei 'unserlidl' so radikal klingt, lenkt die Kapitalismus-Kritik in die Bahn reformistischer Illusionen.
Woher kommt die Kampagne „unserlidl“?
Der Initiator dieser Kampagne ist Tobi Rosswog. Er hat nach seinem abgebrochenen Studium eine lange Zeit ohne Geld gelebt „immer dort, wo ich gerade eingeladen war“. (2) 2018 entwickelte er in einer Broschüre „radikale Ideen jenseits der Arbeit“ und „sozial-ökologische Utopien“. In seinem Lebenslauf verbinden sich die Träume von „Öko-Aussteigern“ mit einer Variante des Postmodernismus. Sie stellt nach Rosswogs Worten die „Konstrukte Arbeit, Geld und Eigentum radikal“ in Frage. Im Raum Wolfsburg gehörte er zu den Aktivisten der „Verkehrswende-Kampagne“. Als 'speaker' tritt er nicht nur bei NGOs auf, sondern wurde z.B. auch von VW und Daimler eingeladen. Er freute sich, vor ihren Angestellten über deren 'bullshit jobs' zu sprechen. Es ist erstaunlich, welche Bühnen den Vertretern solcher Theorien offenstehen, solange sie die Kritik am Kapitalismus in ungefährliche Bahnen lenken.
Die Autoren des Artikels freuen sich, wenn eine Diskussion zu dem Thema entsteht. Gibt es vielleicht berichtenswerte Erfahrungen aus Orten - z. B. Wolfsburg -, wo die Kampagne schon Station gemacht hat?