Briefwechsel: Mitverantwortung der Arbeiterklasse am Hitlerfaschismus
Mitschuld am Faschismus bedeutet nicht "Kollektivschuld"!
Am 16. Mai 2025 veröffentlichten wir auf Rote Fahne News einen Artikel vom Leiter des Willi-Dickhut-Museums, Christoph Gärtner. Der Artikel trug die Überschrift "Wer hatte Schuld am Hitler-Faschismus?"
Hier der Artikel: "Wer hatte Schuld am Hitler-Faschismus?"
Ein Leser kritisierte diesen Artikel: Er distanziere sich nicht von der reaktionären "Kollektivschuld-These". Rote Fahne News dokumentiert die Antwort des Autors.
Lieber G., vielen Dank für deine kritischen Anmerkungen zum Artikel „Wer hatte Schuld am Hitler-Faschismus?“. Deine zentrale Kritik ist: „Die These ‚Das Volk trug Mitschuld‘ ist ideologisch angelehnt an der Kollektivschuld-These.“
Mit der Unterstellung „ideologisch angelehnt“ vereinfachst du die Tatsachen unzulässig. Denn die Begriffe „Mitschuld“ und „Kollektivschuld“ sind historisch und auch von ihrer ideologischen Absicht her grundverschieden. Alte und neue Faschisten und ein Teil bürgerlicher Medien behaupten, dass die damals sozialistische Sowjetunion und die Alliierten das gesamte deutsche Volk bezichtigt hätten, am Faschismus und am Zweiten Weltkrieg schuld gewesen zu sein, dass es das "Tätervolk" (1) sei?
Das stimmt nicht. Denn nach der Zerschlagung des Hitler-Faschismus gab es weder von den Alliierten noch von der damals sozialistischen Sowjetunion den Vorwurf einer gesamtdeutschen Kollektivschuld. Im Gegenteil: Stalin sagte schon am 23. Februar 1942 in seinem „Befehl Nr. 55“: „Es wäre aber lächerlich, die Hitlerclique mit dem deutschen Volk, mit dem deutschen Staat gleichzusetzen. Die Erfahrungen der Geschichte besagen, daß die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt … Die Rote Armee ist vom Gefühl des Rassenhasses frei. Sie ist frei von solch einem entwürdigenden Gefühl, weil sie im Geiste Gleichberechtigung der Rassen und der Achtung der Rechte anderer Völker erzogen ist.“ ...
Der Duden bezeichnet Mitschuld als „Teilhabe an der Schuld eines anderen.“ Es steht außer Frage: die Hauptschuld am Faschismus hat das allein herrschende Finanzkapital, das den Hitler-Faschisten bewusst die politischen Geschäfte übertrug, um seine Macht zu sichern und seinen weltweiten Einfluss und seine Maximalprofite auszudehnen. Aber der Faschismus hätte nie siegen und sich zwölf Jahre halten können ohne eine breite Massenbasis. Wer sich von der völkischen und sozialen Demagogie blenden oder gar begeistern ließ, wer sich im Wissen um Ungerechtigkeit und Verbrechen angepasst und geschwiegen hat …, der ist zweifellos im wörtlichen Sinn mitschuldig.
Die Frage der Mitschuld spielte schon während des Faschismus eine bedeutende Rolle … in der Brüsseler Konferenz der KPD 1935, 1943 bei den Geschwistern Scholl und im „Aufruf des Nationalkomitees Freies Deutschland“… Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Frage von Schuld und Mitschuld zu Recht zu einer zentralen weltanschaulichen und politischen Auseinandersetzung: An erster Stelle von den Kommunisten, aber auch in kirchlichen und bürgerlich-antifaschistischen Kreisen wie von Martin Niemöller, Karl Jaspers, Ralph Giordano ...
Willi Dickhut schrieb im Mai 1945: „Das deutsche Volk in seiner Gesamtheit ist an dem heutigen Zustand, durch seine duldnerische Haltung gegenüber der Nazidiktatur mitschuldig und mitverantwortlich.“
Eine Mitschuld und damit auch eine Mitverantwortung anzuerkennen bedeutet bei weitem nicht – wie du schreibst - eine Gleichsetzung von Tätern und Opfer … Eine Mitschuld anzuerkennen bedeutet im Gegenteil, allseitige Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, wie gerade heute der weltweiten Gefahr des Faschismus frühzeitig und allseitig im weltanschaulichen und politischen Kampf entgegengetreten werden muss, damit es nicht erneut zur Katastrophe kommt.
Eine Mitschuld abzulehnen bedeutet objektiv, diese Lehren nicht für notwendig zu erachten … Ich hoffe, mit diesen Erläuterung die Frage von Hauptschuld und Mitschuld am Faschismus besser erklärt zu haben – bei gleichzeitiger Abgrenzung von der falschen These der Kollektivschuld, die in meinem ersten Artikel noch fehlte.
Mit solidarischen Grüßen
Christoph Gärtner